Sonne, Wind und Steine

Liiiebe im Fahrstuhl…“. Den Text kennt Paul längst und die Melodie auch, das singt er selig mit, und er hat die CD auch selbst im Auto eingelegt, ehe wir losfuhren in die Felder. Keine Ahnung, wie uns die „Prinzen“-Scheibe ins Haus kam, aber mir gefällt sie auch. Paul und Frido nennen sie einfach „Popmusik“, es ist bis jetzt die einzige Popmusik, die sie kennen. Es ist lustig, mit zwei Jungs im Alter von vier und sieben Jahren durch die Felder in der Sonne zu fahren und mit einem Vierteljahrhundert Verspätung die „Prinzen“ zu hören, herrliche Pubertätshits, für Frido und Paul viel zu früh und für mich viel zu spät.

Also genau richtig, so wie auch Sonne und Wind an dem Sonntag vor Ostern, einem der ersten regenfreie Tage des Jahres, an dem wir zum Steinesammeln aufgebrochen sind. Oder zum Steineklauen? Sagen wir mal, besorgen. Diese Steine liegen hier seit mindestens 120.000 Jahren, sind ihrerseits mehr als 510 Millionen Jahre alt und kamen im Geschiebe eines Gletschers aus Skandinavien in unsere Gegend. Immer weitere wandern aus den Grundmoränen in die Äcker hoch, wo die Bauern sie beim Pflügen einsammeln und an den Rand legen, Granitbrocken unterschiedlicher Größe, im Idealfall doppelt faustgroß.

Wenn ich davon eine Lage in den Kofferraum packe, 300 Kilo, reicht das für zwei Meter regionaltypischer Beeteinfassung und kostet nichts. Jedenfalls nehme ich mal an, dass die Landwirte froh sind, wenn jemand die Klumpen wegholt. Andernfalls kann es gar nicht schaden, dass Paul jetzt im offenen Wagen „Alles nur geklaut“ hört und mitgrölt, während ich skandinavische Migranten einsammele. Ich baue den Begriff „Migrant“ extra ein in diesen Text, er wird einmal zu den verbalen Leitfossilien unserer Zeit gehören, mit dem Suchwort „Migrant“ wird man mühelos Texte ab etwa 2015 finden können.

Ich könnte jetzt auch noch ein Leitwort wie „Integration“ einbauen und erzählen, wie toll ich die steinalten Migranten in den Garten integriere, aber ich will lieber zeitlos von Wind und Sonne erzählen. Während ich nämlich Granite aufklaubte und Paul die „Prinzen“ mitsang, hatte Frido seinen Drachen steigen lassen zwischen den Feldern. Ein einfacher, regenbogenbunter Drachen, nicht zum Lenken, nur eine Leine, aber welche Höhe! Ich konnte den Drachen kaum sehen, er stand neben der Sonne, die Frido im Rücken hatte. Besser als den Drachen sah ich, wie glücklich Frido war. Ich sammelte langsamer.

Irgendwann war die höchstzulässige Achslachst erreicht. Ich übernahm es, die Drachenleine aufzuwickeln, während Frido nach dem heruntergezwungenen Flieger schnappte. Der nutzte jede Bö, wich immer wieder aus und lockte den Jungen quer über den Acker. Irgendwann ging er ein letztes Mal steil hoch und bohrte sich dann zwischen die Furchen. Genau da, wo Frido seine Handschuhe hatte liegen lassen. „Ganz schön schlau, dein Drache“, sagte ich. „Vielleicht kann er uns auch mal zeigen, wo hier ein Schatz vergraben ist.“ „Ich werde immer sssöner durch mein Geld“, krähte Paul mit den „Prinzen“. Und ganz oben zogen die Wildgänse dorthin, von wo die Steine einmal herkamen.

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