„Die Stimme verändert die Moleküle in den Körpern“

In fünf Jahren vom Azubi in St. Louis zur „Mélisande“ in Zürich: Eine Begegnung mit der Sopranistin Corinne Winters

Je suis malade ici…“, singt Mélisande, „mir geht es hier nicht gut.“ „Du bist krank?“, fragt Golaud und tritt einen Schritt auf sie zu, die auf dem Sofa sitzt. Da springt der Mann auf, der am Rand gehockt hat, hebt die Hand, unterbricht. Da sei doch eine Fermate in der Partitur, ein kleiner Freiraum im Tempo, „I like it, this Fermata, we have to use it!“ Für Regisseur Dmitri Tcherniakow zählt jede Note, jede Pause, jeder Schritt, jede Geste, jeder Hauch einer Nuance. Nochmal! Mehr Verunsicherung in den Gang, zugleich Eifer, Kyle Ketelsen versucht es. An dieser Stelle beginnt Golaud zu ahnen, dass Mélisande ihn nicht liebt. Und so, wie sie da sitzt, würde sie gern weggehen und kann nicht. Corinne Winters strahlt die ganze Ambivalenz dieser jungen Frau aus, zierlich, bildschön, sie reflektiert Golaud wie ein dunkler Spiegel, sie antwortet knapp auf seine Fragen. Hat ihr jemand wehgetan? „Ce n´est pas cela“, nein, das ist es nicht. Möchte sie ihn loswerden? „Oh! Non, ce n´est pas cela.“ Zu diesen Tönen wird sie mir später noch einiges erzählen.
winters als melisandeMélisande und Golaud: Corinne Winters und Kyle Ketelsen in Tcherniakows Zürcher Inszenierung von Debussys “Pelléas et Mélisande”. Foto: Toni Suter

Wer sie in der Probe draußen an der Hardturmstraße erlebt, käme nicht auf die Idee, dass sie erst vor fünf Jahren zum ersten Mal als Profi auf einer Opernbühne stand, eingesprungen als Auszubildende am Theater von St. Louis, Missouri: Corinne, Tochter eines Rechtsanwalts und Hobbyrockmusikers aus einem Vorort von Washington. Mit ihm sang sie, 1983 geboren, Beatleslieder, sie teilten sich die Parts von John und Paul. „Ich wusste nur, ich habe eine Stimme, und wollte singen.“ Ehe sie ans College ging, um Musik zu studieren, nahm sie eine Gesangsstunde, „da war ich siebzehn oder achtzehn. Die Lehrerin sagte, du hast eine große Stimme, den operatic sound. Ich sagte, ich mag keine Oper. Wenn Sie nämlich in einer Familie aufwachsen, die keinen Kontakt zur Klassik hat, erfahren Sie in den USA nichts über Oper. Das ist dort nicht Teil der Kultur.“ An der Towson University erfuhr sie mehr.

„I got hooked“, meint sie, „ich hatte angebissen.“ Und sie entdeckte, dass sie nicht Mezzosopran ist, sondern Sopran. „Als ich meine erste Sopranarie sang, dachte ich, ja, das bin ich. Es braucht dafür noch mehr Verletzlichkeit, Subtilität, Wahrhaftigkeit. Das brauchen natürlich alle Sänger, aber bei Sopranistinnen liegt das Herz offener, heart on sleeve.“ Sie geriet an die richtigen Leute, Kurse, Stipendien, schließlich nach St. Louis. Da wurde eine Mélisande schwanger, und Corinne sprang ein, „aber es war ein komplett anderes Stück als hier, denn wir sangen auf englisch.“ Der Dirigent empfahl ihr, doch einfach mal in London vorzusingen, wo er Kontakte hatte. Die English National Opera brauchte eine Violetta. Na dann! Mit dem Geld eines Stipendiums finanzierte sie die Reise. Sie bekam die Rolle.

Regisseur war Peter Konwitschny, die Traviata im Januar 2013 mit der unbekannten Amerikanerin in der Hauptrolle wurde ein Triumph, im Publikum saßen der Regisseur Dmitri Tcherniakow, die Zürcher Operndirektorin Sophie de Lint und so viele andere wichtige Leute, dass Corinne Winters fortan den Terminkalender eines Stars hatte, darin Produktionen wie Benvenuto Cellini mit Regisseur Terry Gilliam in London und jüngst der Antwerpener Otello mit Corinne als Desdemona, inszeniert von Michael Thalheimer. „Alle diese Regisseure, von Konwitschny bis zu Tcherniakow, sind Erneuerer“, meint sie. „Sie investieren viel Zeit in jede Zeile, um neues Licht auf ein Stück zu werfen.“

In Zürich ist Golaud ein Psycholanalytiker, der sich in seine traumatisierte Patientin verliebt. Takt für Takt arbeiten sie sich durch den 2. Akt, mit Klavier, während draußen die Aprilsonne über Zürich strahlt. Immer wieder springt der Regisseur mit den gelben Turnschuhen und den schwarzen Klamotten auf, erklärt, macht vor, ruft, was ihm auf Englisch nicht einfällt, auf russisch der Übersetzerin zu. Er rückt Mélisande auf die Pelle: So soll Golaud, verzweifelt, verunsichert, sie liebkosen, so ihre Hände nehmen. Sie wird nicht geschont. „Ich mag das“, sagt sie. „Dmitri ist sehr intensiv, aber auch sehr ernsthaft, er weiß genau, was er will. Manchen ist diese Arbeitsweise zu anstrengend, mir nicht.“

Hat sie ein eigenes Konzept von einer Rolle, ehe die Produktion beginnt? „Es ist wichtig, mit einem Konzept zu kommen. Sonst gibt es nicht wirklich einen Dialog mit dem Regisseur.“ Zudem helfe ihr die eigene Vorstellung, die Töne zu gestalten. „Da gibt es diesen Satz „C´est n´est pas cela“. Das erste Mal steht er im piano. Ein Piano denkt man sich normalerweise delikat, aber hier ist es mit starker Emotion verbunden, ich singe es wie durch die Zähne. Man muss das, was der Komponist schrieb, übersetzen in Körper und Ausdruck, man muss die Kontraste, die Ironie herausfinden. Es entsteht ja auch selten Magie, wenn Sachen offensichtlich und eindeutig sind. Es sollte Widerspruch darin sein.“ Und es muss nicht immer schön sein, findet sie. Darum verehrt sie Maria Callas, die in ihrer Londoner Wohnung einen Ehrenplatz an der Bilderwand hat. „Sie hatte den Mut, auch einen ugly sound zu produzieren, wenn es für das Drama gut war. Ihre Stimme war von Natur aus nicht so schön wie die von Renata Tebaldi, die ist auch eine meiner Lieblingssängerinnen. Aber Callas stellte sich hinter die Musik. Sie sang jedes Komma, das in der Partitur steht, sie sah sich als Gefäß der Musik, als Dienerin, das ist bei mir genauso, auch wenn ich keine Callas bin“, sie lacht. Aber selbst die Aufnahmen solcher Heroinen sind nur ein Schatten von dem, was Corinne Winters für das Wichtigste an Opern hält.

Wir kommen darauf, weil sie im vergangenen November gemeinsam mit ihren Kollegen in London eine Vorstellung von La bohème den Opfern der Pariser Anschläge widmete und ich wissen möchte, ob die Gewalt in der Welt sich auswirkt auf ihr Selbstverständnis als Künstlerin. „Zuerst denkt man, du spielst hier auf der Bühne herum, und anderswo sterben die Leute. Ist es wichtig, was ich tue? Aber Kunst ist das, was alle gemeinsam haben, art changes lives. Kunst bereichert die Menschen wie nichts anderes, ich würde das ohne Gage tun, wenn ich könnte. Ich glaube, man kann mit Oper das Leben ändern.“ Warum? „Es geht um die basic emotions, um Liebe, Tod, Trauma, Sex, Krieg, Schmerz.“

Aber findet man die nicht ebenso in Büchern, Filmen, Theaterstücken? „Ich liebe diese Frage. Damit kommen wir zum Wesentlichen. Es geht um life opera, nicht um Aufnahmen. Die unverstärkte menschliche Stimme zu hören, mit der jemand im großen Raum singt, ohne Mikrofon“, sagt sie sehr ernst, „verändert die Moleküle in den Körpern. Der unmittelbare Einfluss einer Oper ist intellektuell,emotional, spirituell, körperlich. Und dann gibt es das, was wir the singer´s formant nennen, diese akustische Energie bei bestimmten Frequenzen, mit denen Opernsänger über ein ganzes Orchester hinweg zu hören sind. Das hat etwas Spirituelles.“ Sie lacht: „Offensichtlich bin ich ganz schön passioniert!“

Mit der Leidenschaft für ihren Job fühlt sie sich in London besser verstanden als in den USA, „deswegen bin ich hingezogen. Die regelmäßigen Operngänger sind da viel jünger als anderswo, ich habe auf Twitter viele getroffen, die in ihren Dreißigern und frühen Vierzigern sind. In den USA liegt der Durchschnitt bei 65 bis 70, mit Anfang fünfzig ist man da noch sehr jung.“ Zudem, da ist sie ziemlich streng mit ihren Landsleuten, gehe alles nach convenience, Bequemlichkeit. Wem etwas zu lange dauere, der gehe mittendrin, ob beim Rockkonzert oder in der Oper. Szenisch wollten es die meisten nur schön haben. „In Europa kennen die Leute mehr, sie wollen herausgefordert werden.“

Dann sind sie bei Tcherniakow richtig. Und während der Zaungast nach drei Stunden Probe schon die eigenen Traumata spürt, sprüht Corinne Winters vor Energie. Dieser Mélisande geht es hier richtig gut, seit dem „first day of school for @operazuerich pelleas“, wie sie zum Probenstart twitterte. Nur die Preise in Zürich machen ihr zu schaffen: „Das ist hier noch teurer als London!“

Dieser Text erschien im Magazin des Opernhauses Zürich, Mag 39, S. 22, im April 2016 und ist urheberrechtlich geschützt