“Man lässt die Leute ein bisschen waaaaaaarten…”

Auf einen Espresso in Paris: Max Emanuel Cencic, einer der berühmtesten Countertenöre der Welt, spricht über Händels Arminio, Donald Trump und seinen cholerischen Lieblingskastraten

Es ist einer dieser Pariser Sprühregentage, an denen man sich wünschte, Cencic käme einem in glitzernder Rokokogarderobe auf dem Boulevard de Strasbourg entgegen, eine steile Koloratur von Johann Adolph Hasse trällernd. Aber die Wirklichkeit ist leider kein Video-Trailer, sie ist nass und grau. Die hohen Bauten aus dem 19. Jahrhundert machen nichts her, da sieht man abgewetzte kleine Läden, Jobvermittler, Reisebüros, neben abgewetzten Haustüren, kein Klingelbrett. Nur ein Code für die kleine Tastatur gewährt Zugang. Fünf Ziffern, und man ist in einer anderen Welt. Gepflegter Hof mit Brunnen, Läufer im Treppenhaus, Fahrstuhl. Bei weitem kein Stadtpalais, aber wer so mitten in Paris, einen Katzensprung vom Gare de l´Est, lebt, hat geerbt oder spekuliert – oder sich mit harter Arbeit einen Traum verwirklicht wie Max Emanuel Cencic. Vor einem Jahr zog er hier ein. Jetzt steht er im Alltagsoutfit, im grobkarierten Hemd, in der kleinen Küche gleich neben der Wohnungstür, schält sehr konzentriert Orangen und macht einen Espresso.cencic

Seit einer Woche ist er wieder da, vorher sang er den Arminio in Karlsruhe, Deutschen besser bekannt als Hermann der Cherusker, der bei den Händelfestspielen keineswegs germanisch daherkam, sondern mit Puderperücke und Pistolen aus napoleonischer Zeit. Ein Renner, sechsmal ausverkauft, „das hat gut getan.“ Sagt nicht nur der Titelheld, sondern in Personalunion auch der Regisseur, der zuvor Händels selten gespielten Arminio mit seiner eigenen Produktionsfirma aufnahm, an die DECCA verkaufte und sein Personal mit nach Karlsruhe brachte, auch das griechische Barockorchester „Armonia Atena“. Dass Max Emanuel Cencic nicht nur singen kann, sondern auch ein Gespür hat für das Potential rarer oder gar komplett unbekannter Stücke, zeigte sich schon bei Artaserse von Leonardo Vinci. Vier weitere Counter setzte er da ein, die Box verkaufte sich 25.000 Mal, für Klassikproduktionen ein riesiger Erfolg. Aber so etwas bindet einem Cencic nicht auf die Nase. Gerade über die Sachen, bei denen viele andere warm werden, redet er nicht gern, den Erfolg nämlich und den Werdegang, der bei ihm außergewöhnlich ist. Singendes Wunderkind, in Zagreb 1977 geboren als Sohn einer Opernsängerin und eines Dirigenten, mit sechs im TV, mit neun Solist bei den Wiener Sängerknaben.

„Sie konnten da noch kein Wort Deutsch.“ „Es ist ein Albtraum, aber als Kind lernt man eine Sprache sehr schnell.“ Er spricht mit wienerischem Anklang, eher tenoral, erstmal zurückhaltend. „Mit Neunzehn hatten Sie 2000 Auftritte als Sopranist hinter sich und fingen an, in den USA Internationale Beziehungen zu studieren. Hatten Sie keine Sorge, aus der Musik rauszugeraten?“ „Ich wollte weg. Ich wollte nicht in diesem Bereich bleiben.“ Er kam aber zurück. Steiler Neustart. Das Studium, Soziologie, Diplomatie, Philosophie, habe ihm geholfen, sagt er. Er will immer das „große Bild“ sehen, sagt er, die Zusammenhänge. Die machen ihm aber Sorgen. „Ich hatte kürzlich in den USA Konzerte, bei denen die Leute mitten in meiner Arie aufgestanden und gegangen sind. Ältere, nicht mal Jüngere, die wohl ihren Bus erreichen wollten. Mitten im Piano, das ist einfach barbarisch.“ Eine Erosion der Kultur habe da begonnen. „Wenn Sie betrachten, wer in den USA die Republikaner repräsentiert, das ist ein Schock. Früher waren das Harvard-Absolventen, die Elite. Dass die heute nichts besseres als einen Donald Trump aufbieten können, ist der geistige Bankrott. Auch wir haben eine Inflation an Millionären, die nicht zur intellektuellen Elite gehören.“

“Länder ohne Unterstützung der Kultur sind ein Desaster”

Dieser Vokalstar hat durchaus einen ökonomischen Blick auf die Kultur. „Wenn man sich anschaut, wie gut etwa Deutschland wirtschaftlich da steht, hat das auch mit Kultur und Bildung zu tun. Länder, in denen das nicht unterstützt wird, sind ein Desaster, und jeder Politiker, der das nicht sieht, ist ein Idiot.“ Weil aber auch in prosperierenden Ländern die Unterstützung stetig zurückgehe, sei „die Kommunikation in der Kultur zum Stillstand gekommen, etwa da, wo es sich Opernhäuser nicht mehr leisten können, Künstler aus der ganzen Welt einzuladen.” Auch in Karlsruhe sei das nur wegen der Händelfestspiele möglich.

Und natürlich, weil der Boom der Barockoper mittlerweile schon im dritten Jahrzehnt anhält. Warum eigentlich? „Das sind Schlager! Mit Barock fährt man eigentlich immer sicher. Es wurde schon geschrieben, es hat funktioniert, man muss es nur gut besetzen und ausstaffieren und die richtige Oper auswählen, davon gibt es tausende.“ Im 19. Jahrhundert werde man nicht so leicht fündig jenseits dessen, was schon rauf und runter gespielt wurde. Außerdem seien barocke Libretti komplexer aufgebaut. „Ja“, sage ich, „kein Mensch kann sich ein Barocklibretto merken.“ „ Nur, wenn es schlecht erzählt ist!“

Tatsächlich sieht er einen Reiz der Opern von Monteverdi bis Händel darin, „dass es immer unterschiedliche Geschichten gibt, die sich verbinden. Die Leute im Publikum müssen sich ein bisschen anstrengen. Barockoper fordert! Alle venzianischen Opern des 17. Jahrhunderts sind sehr philosophisch angelegt und komplex.“ Und Metastasio, der große Librettist des frühen 18. Jahrhunderts, sei revolutionär und mutig genug gewesen, eine Oper zu präsentieren, an deren Ende der Kaiser stürzt – nämlich Ezio, unter anderem von Händel in London komponiert für einen Sänger, der eine zentrale Gestalt für Cencic ist: Senesino.

Diesem Kastraten widmet er sein Programm in Zürich, dem ist er ganz nah, von ihm schwärmt er. „Es ist tiefer Alt, mein Register erlaubt es mir, sein Repertoire zu singen, und er ist sicher der virtuoseste Altist überhaupt. Wobei es diese Stimmfachbezeichnungen damals nicht gab, weil für jeden Sänger und seine natürliche Lage individuell geschrieben wurde. Ich kenne niemanden, für den soviel Tolles geschrieben wurde, es gibt eine unglaublich große Palette bei ihm, von der langen ausdrucksvollen Arie bis zu Koloraturen. So etwas konnte nur einer singen mit höchstem Raffinement und technischer Kontrolle.“

Händel und sein Starkastrat zankten wie ein altes Ehepaar

Dieser Senesino, als Francesco Bernardi ein Jahr nach Händel geboren, 1686 in Siena, war dem Komponisten in einer „Hassliebesbeziehung“ verbunden, von der Max Emanuel Cencic erzählt, als hätten sich beide bei ihm ausgeweint. Händel, zugleich Impresario in London, habe sich eben nicht als Diener der Sänger verstanden, auch wenn er seinem Star auf den Leib komponierte, „und Senesino war natürlich unglaublich eitel und eine Diva, die gerieten extrem aneinander. 20 Jahre lang, wie ein altes Ehepaar!“ Er lacht. „Ein befruchtender Streit, denn Händel hat seine besten Opernpartien für Senesino gemacht.“

Cencic zählt sie auf. Cesare, Radamisto, Floridante, Tolomeo, Etio, Orlando, Admeto, “30 Prozent der Opern!“ Und es gebe da immer eine bestimmte Form der Auftritte: „Einsingen, mit einer Continuoarie zuerst, dann gehen wir in der zweiten ein bisschen weiter, Koloraturen“, er deutet sie an, „so, jetzt haben wir uns warmgesungen, kommen wir zur dritten und vierten Arie, dann muss mal ein Duett kommen, und die Arie am Aktschluss ist natürlich für Senesino reserviert. Aber er tritt nicht immer am Anfang auf! Man lässt die Leute ein bisschen waaaarten – und dann kommt der Star des Abends!“

Als Senesino sich zurückzog, findet Cencic, habe bei Händel die Brillanz nachgelassen. „Es klingt, als sei er für Sie eine Art Schutzpatron, ein Bruder, der Senesino!“ Jetzt schüttelt sich Cencic vor Lachen auf seinem Sofa, über drei Jahrhunderte hinweg auf seinen Kollegen blickend: „Wir sind im cholerischen Charakter nicht allzu weit voneinander entfernt! Wenn ich mit George Petrou an meinen Händelpartien arbeite, gibt es sehr rege Diskussionen: Ich will das so machen! – Wieso? – Weil ich das so will! – Aber nein…!“ Und während man con sordino die Polizeisirenen von Paris hört, funkelt hier auf dem Cencic-Sofa auf einmal das Barock-Theater.

Dieser Text erschien im Magazin der Oper Zürich, Nr. 38, März 2016, S. 34/35 und ist urheberrechtlich geschützt. Das Gespräch mit Cencic ist am 23. März 2016 auch als ausführliches Interview mit Audiolinks im Online-Magazin VAN erschienen. Foto: Anna Hoffmann