Kategorie-Archiv: Kolumne

Die Harmonie der Hühner

Vom Hasen müssen wir gar nicht erst reden. Tieren wird überhaupt viel zugetraut und aufgebürdet. Ein Lamm trägt die Sünden der Welt, und die Hühner? „Hühner legen Akkord für die Osterbräuche“, titelte unlängst eine Landpostille. In der Akkordarbeit wird man für die geleistete Arbeitsmenge bezahlt. Ist es den Tieren gelungen, da etwas auszuhandeln? Oder haben sie gar die Kirchenmusik bereichert und einen Akkord gelegt, ja festgelegt, vielstimmig aus den Eiern flötend? Immerhin ist auch der Hahnenschrei längst Harmonie geworden, in diversen barocken Passionsmusiken, wegen Petrus…

Noch mehr wird den Flügeltieren abverlangt, die jetzt für die Berliner Staatsoper arbeiten. Ehrenamtlich natürlich, wie das bei stabiler Entwicklung der Kulturausgaben bald alle Künstler tun werden. Vier Honigbienenvölker sind auf dem Schillertheater angesiedelt worden. Sie sollen Honig liefern und „positiv erlebte Nähe“ zur Natur. Also nicht stechen! Und summen auf Niveau: Die Königinnen der vier Völker werden nach Opernheldinnen benannt. Dass es unter denen kaum eine gibt, die nicht jung auf der Strecke bleibt, wird die Königinnen bei einer Lebenserwartung von maximal vier Jahren nicht weiter stören.

Im bundesdeutschen Alltag geht die Humanisierung nicht essbarer Tiere so weit, dass die Rettung verstiegener Katzen zur Feuerwehrroutine zählt und für deren Futter nicht halb so viel Mehrwertsteuer wie für Babynahrung bezahlt werden muss. Da blickt man mit Interesse auf Zeiten zurück, in denen Tiere auch mal exkommuniziert werden konnten wie die Fliegen, die anno 1124 Kirchenbesucher in Foigny behelligten. Nachdem Gastprediger Bernard von Clairvaux sie gebannt hatte, konnten ihre Leichen am nächsten Tag aus der Kirche geschaufelt werden. Auch Mäuse und Ratten, Käfer und Heuschrecken wurden auf diese Weise bekämpft, mit wechselndem Erfolg.

Ein Hahn, den man verdächtigte, widernatürlicherweise ein Ei gelegt zu haben, wurde in Basel am 4. August 1474 öffentlich hingerichtet. In jüngerer Zeit konnte nur Tansania dieses Niveau halten: Dort wurde 1998 ein Hund zum Tod verurteilt, weil sein Besitzer ihm den Namen „Immigration“ gegeben hatte, woraufhin die Einwanderungsbehörde des ostafrikanischen Landes fand, die „angesehene Behörde“ werde durch den Hundenamen lächerlich gemacht. Was immerhin von weit größerem Respekt dem Einzeltier gegenüber zeugt, als man ihn in der Massentierhaltung findet, der dunklen Welt hinter all den Opernbienen, geretteten Katzen und kultisch verehrten Eisbären.

Wer mit diesem Widerspruch leben will, muss Haken schlagen und findet Zuflucht in einer bewährten deutschen Redensart: „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“

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Nadar auf dem Radar

Eine eiserne Regel beim Recherchieren lautet: Nicht verzetteln! Schön bei der Sache bleiben, das spart Zeit! Jetzt weiß ich, warum ich sie noch nie beherzigt habe. Es ist nicht nur verlockend, immer weiter und weiter in die Kapillaren vorzudringen. Es erweitert den Horizont. Manchmal so, dass er ganz nahe kommt… Also, eigentlich ging es um Paris, um die Grand´Opéra zu Zeiten ihres Komponistenstars Giacomo Meyerbeer. Der hat sich, als die Dämmerung seines Ruhmes schon ganz sachte begann, fotografieren lassen, 1859, natürlich beim gefragtesten Profi des neuen Mediums, bei Gaspard-Félix Tournachon.

Der nannte sich Nadar und war bald so berühmt wie seine Kunden: Liszt, Berlioz, Rossini, Offenbach, Balzac, Hugo, George Sand, Delacroix, Rodin, Sarah Bernhardt…. Ich wollte wissen, wann er sein Atelier eröffnet hat, aber dann stolperte ich bei Wikipedia über die Buchstabenfolge „Hannover“. Wie das? Nadar verdiente gut und investierte in Heißluftballons. Um Luftbilder machen zu können, ließ er einen bauen, „Le géant“. Der Gigant war mit 6000 Kubikmetern Gas gefüllt und 45 Meter hoch, er hat Jules Verne zu seinem Debüterfolg „Fünf Wochen im Ballon“ inspiriert. Mit diesem Monstrum starteten Nadar und acht Mitreisende am 18. Oktober 1863 in Paris.

Eine halbe Million Zuschauer, jeder hatte 50 Centimes bezahlt, sahen morgens auf dem Pariser Marsfeld zu, wie der Ballon abhob und gen Osten getragen wurde. Nach Hannover? Nicht ganz, viel besser. Am Morgen des 19. Oktober, nach Überqueren der Weser, wollte Nadar bei Nienburg landen, aber ein Ventil klemmte, der Gigant stieg knapp wieder auf, der Wind trieb ihn bodennah in Richtung Rethem, während die hausartige Gondel durch Torfkuhlen geschleift wurde. Vier Passagiere sprangen schon mal heraus, die übrigen fünf wurden nass, als „Le géant“ sie durch die Alpe zog, einen kleinen Allerzufluß bei Rethem; schließlich blieb er in den Bäumen des Frankenfelder Bruchs hängen.

Der ist von meinem Arbeitszimmer gerade mal sieben Autominuten entfernt! Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich Nadar hier aufs Radar kriegen würde. Jetzt schickt mir die Haupstadt des 19. Jahrhunderts ihre Leute fast vor die Haustür! Übrigens waren einige verletzt; König Georg selbst kümmerte sich darum, dass die Prominenz per Sonderzug ins Spital zu Hannover kam. Weil ausgerechnet den Crash des Fotografen niemand fotografieren konnte, empfand ein Pariser Illustrator das Ereignis nach. Er hat die Gegend an der Aller gar nicht schlecht erfasst, nebst entsetzt davonspringendem Häslein. Nur der Hinweis „a Nieubourg (Hanovre)“ ist unverzeihlich ungenau. Nicht Nienburg. Rethem!

Ich werde fortan mit anderen Augen auf die Gegend blicken, wenn ich in meinem Lieblingsbiergarten an der Aller wieder Bratkartoffeln esse. Aber habe ich es nicht immer schon geahnt? Diese Weite! Diese Weltweite der norddeutschen Tiefebene, am Horizont schon der Glanz der Opéra! Aber jetzt brauche ich Nadars Memoiren. Vielleicht kommt ja unser Dorf vor.

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So schön kann Mainstream sein

Irgendwie machen Kinder einen auch konservativ. Schon vor drei Jahren war ich in London seltsam angerührt von den Schuluniformen, in denen ich dort Jungs herumlaufen sah. Ich stellte mir gleich Frido (der erst zwei war) in so einer vor und war neidisch auf die Briten. Und das als geübter Pazifist, dem bei Uniform sonst schnell Konformismus und Krieg einfällt – ungeachtet dessen, dass mein Konzertfrack ein Lakaienornat ist, in dem ich gern auftrete, und dass ich schwer verunsichert wäre, täten Schaffner und Stewards, Polizisten und Feuerwehrleute in Individualklamotten ihren Dienst.

Aber Schuluniformen müssen wirklich nicht sein, dachte ich bis zu jenem Tag in London, der mir jetzt wieder einfällt, weil Frido – nun ja, man kann es nicht gerade eine Uniform nennen, aber ein Kollektivtextil ist der Pulli mit dem Kinderhaus-Emblem schon, und die passende Basecap – sehr stolz auf diese Neuerwerbung ist. Nicht auszudenken, wir hätten sie ihm verweigert! Es ist ja auch eine ungedrillte Gruppe und keine Truppe, mit der er da unterwegs ist, eben jene Kinder, die auch sein Pippi-Langstrumpf-Kostüm im Fasching bewunderten und nicht im entferntesten darauf kamen, ihn zu hänseln.

Aber den Emblempulli trägt er mittlerweile fast täglich, mich freut sein Stolz darauf, ich fühle mich den Briten näher und muss meine nonkonformistische Grundeinstellung scharf befragen: Ist es nicht ganz nett – und nicht zwangsläufig regressiv – , irgendwo so dazuzugehören, dass es jeder sehen kann? Und entspreche ich nicht auch ohne Uniform (für die ich die monotonen Anzüge von Bürohengsten und Bankern halte) längst den konservativen Leitlinien für deutsche Familienväter? Verheiratet, Eigenheim, silbergraues Familienauto, schwere Aversion gegen Kontakt mit Bügeleisen und Staubsauger?

Allerdings leben wir als Freischaffende so riskant, dass ein bisschen Normalität schon rein therapeutisch sinnvoll ist. Das hat Frido scharf erkannt, als er das Fehlen eines Grills bemängelte. Die Nachbarn hatten ihren schon aktiviert! Der Nachbarssohn hat auch eine große elektrische Legobahn und ein Fernlenkauto und eine Schaukel, das hat Frido alles nicht. Und das kompensiert er so gut, dass ich beschloss, wenigstens seinen Vorschlag mit dem Grill sofort umzusetzen. Was keine Überwindung kostet, wenn man Bier und Bratwurst an einem warmen Aprilabend sowieso für den Sinn des Lebens hält.

Frido – natürlich mit Emblempulli und Schirmmütze! – suchte das Gerät im Baumarkt mit aus und half mir im Garten, es zusammenzubauen. 51 Schrauben und 90 Minuten brauchten wir und waren sowas von mainstreamig – zwei Männer bauen einen Grill zusammen, und der funktioniert auch noch! Mjam! Vielleicht kann niemand die Erfüllung eines Klischees so genießen wie einer, den ein Kind vom Überbau der Skepsis befreit hat. Jetzt könnte ich noch lernen, wie man Bundesliga guckt, vorher den Wagen waschen und anschließend der Freiwilligen Feuerwehr beitreten. Aber man soll es nicht übertreiben.

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