Nadar auf dem Radar

Eine eiserne Regel beim Recherchieren lautet: Nicht verzetteln! Schön bei der Sache bleiben, das spart Zeit! Jetzt weiß ich, warum ich sie noch nie beherzigt habe. Es ist nicht nur verlockend, immer weiter und weiter in die Kapillaren vorzudringen. Es erweitert den Horizont. Manchmal so, dass er ganz nahe kommt… Also, eigentlich ging es um Paris, um die Grand´Opéra zu Zeiten ihres Komponistenstars Giacomo Meyerbeer. Der hat sich, als die Dämmerung seines Ruhmes schon ganz sachte begann, fotografieren lassen, 1859, natürlich beim gefragtesten Profi des neuen Mediums, bei Gaspard-Félix Tournachon.

Der nannte sich Nadar und war bald so berühmt wie seine Kunden: Liszt, Berlioz, Rossini, Offenbach, Balzac, Hugo, George Sand, Delacroix, Rodin, Sarah Bernhardt…. Ich wollte wissen, wann er sein Atelier eröffnet hat, aber dann stolperte ich bei Wikipedia über die Buchstabenfolge „Hannover“. Wie das? Nadar verdiente gut und investierte in Heißluftballons. Um Luftbilder machen zu können, ließ er einen bauen, „Le géant“. Der Gigant war mit 6000 Kubikmetern Gas gefüllt und 45 Meter hoch, er hat Jules Verne zu seinem Debüterfolg „Fünf Wochen im Ballon“ inspiriert. Mit diesem Monstrum starteten Nadar und acht Mitreisende am 18. Oktober 1863 in Paris.

Eine halbe Million Zuschauer, jeder hatte 50 Centimes bezahlt, sahen morgens auf dem Pariser Marsfeld zu, wie der Ballon abhob und gen Osten getragen wurde. Nach Hannover? Nicht ganz, viel besser. Am Morgen des 19. Oktober, nach Überqueren der Weser, wollte Nadar bei Nienburg landen, aber ein Ventil klemmte, der Gigant stieg knapp wieder auf, der Wind trieb ihn bodennah in Richtung Rethem, während die hausartige Gondel durch Torfkuhlen geschleift wurde. Vier Passagiere sprangen schon mal heraus, die übrigen fünf wurden nass, als „Le géant“ sie durch die Alpe zog, einen kleinen Allerzufluß bei Rethem; schließlich blieb er in den Bäumen des Frankenfelder Bruchs hängen.

Der ist von meinem Arbeitszimmer gerade mal sieben Autominuten entfernt! Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich Nadar hier aufs Radar kriegen würde. Jetzt schickt mir die Haupstadt des 19. Jahrhunderts ihre Leute fast vor die Haustür! Übrigens waren einige verletzt; König Georg selbst kümmerte sich darum, dass die Prominenz per Sonderzug ins Spital zu Hannover kam. Weil ausgerechnet den Crash des Fotografen niemand fotografieren konnte, empfand ein Pariser Illustrator das Ereignis nach. Er hat die Gegend an der Aller gar nicht schlecht erfasst, nebst entsetzt davonspringendem Häslein. Nur der Hinweis „a Nieubourg (Hanovre)“ ist unverzeihlich ungenau. Nicht Nienburg. Rethem!

Ich werde fortan mit anderen Augen auf die Gegend blicken, wenn ich in meinem Lieblingsbiergarten an der Aller wieder Bratkartoffeln esse. Aber habe ich es nicht immer schon geahnt? Diese Weite! Diese Weltweite der norddeutschen Tiefebene, am Horizont schon der Glanz der Opéra! Aber jetzt brauche ich Nadars Memoiren. Vielleicht kommt ja unser Dorf vor.

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