Kategorie-Archiv: Kolumne

E-Dis-E-Dis-E-H-D-C-A

Ein Märznachmittag, die Sonne steht tief und rotgolden über den Äckern, hinter der Schule am Dorfrand sitzt Paul auf der Schaukel und lässt sich anschubsen. Leichter Wind, fernes Gebell, nahe Töne: Aus einem Schulfenster dringt Klavierspiel. „Sik“, sagt Paul und wendet den Kopf. Das bedeutet „Musik“, er verkürzt gern, so wie die Dänen und die Deutschen, als sie aus dem Automobil ein Bil und ein Auto machten. Und was wird gespielt? Was, glauben Sie, wird typischerweise gespielt beim Klavierunterricht irgendwo in der Provinz?

Ihre erste Idee werden Sie verwerfen, als zu naheliegend. Gerade deswegen werden viele gute Ideen verworfen, sie kommen zu früh. Es stimmt nämlich wirklich: „Für Elise“! E-Dis-E-Dis-E-H-D-C-A, stochert es da durchs Fenster, ganz genau so, wie es das Klischee verlangt. Ich sehe im Geiste das Kind vor mir, dass da etwas schräg und steif auf dem Klavierhocker sitzt, in die Noten spähend, den Lehrer oder die Lehrerin neben sich, und bin tief gerührt. Manche Dinge ändern sich nie. Zweijährige schaukeln, Achtjährige spielen „Für Elise“.

„Jok mal“, ruft Paul, „noch mal“, denn ich bin ins Sinnieren gekommen und habe die Schaukel nicht in Gang gehalten. Frühe 60er Jahre, wir befinden uns im amerikanischen Provinzkaff „Climax”. Das Metronom tickt. Klavierlehrer Orville J. Spooner, ein verhärmter Typ Mitte 40, lauscht in der guten Stube dem Elisengestümper seines Schülers und sieht draußen vorm Fenster den muskulösen Milchmann. Was mag auf dem Zettel stehen, den Spooners hübsche Ehefrau dem Milchmann gab? Orchesterbässe rumpeln unter der braven „Elise“ in den Abgrund der Eifersucht, ein Cembalo fletscht die Zähne…

Mit dieser Szene in „Kiss me stupid“ haben Billy Wilder und sein Filmkomponist André Previn Beethovens „Elise“ für immer mit der Provinz verbunden. Aber so saukomisch, dass die Provinz sich mit der ganzen Welt verbindet. Auf dem Zettel für den Milchmann stand natürlich nichts weiter als „zwei Liter Milch, zwölf Eier“. Ich muss lachen, während ich Paul weiter schaukele und aus dem Schulfenster der Versuch von a-Moll-Arpeggien der Linken dringt. Er lacht auch. „Luttich oda?“, ruft er. Ja, das ist lustig. Außer vielleicht für Luttich, äh, Ludwig. Er hat doch ziemlich dran gefeilt!

Erste Skizzen parallel zur „Pastorale“, drei Arbeitsphasen, letzte Bearbeitung 1822 – und was folgt? Abertausende trister Klavierstunden, hunderte von Kuschelversionen, unheroische Verwendung in 22 Spielfilmen (zuletzt Almodovars „Fliegende Liebende“, wo „Elise“ von Gitarren als Urlaubsmusik heruntergeschrappelt wird), Telefoneinsatz zu „Der nächste Kundenberater ist gleich für Sie frei…“ Die Bagatelle ist nicht zu retten. Zusammengebrochen unter der Last der Rezeption und von Generationen ungelenker Kinderfinger.

Aber etwas Weltumfassendes hat sie gewonnen. Keine Musik mehr, aber immerhin eine Sik. Sie ist jetzt verstummt, und Paul singt im kühler werdenden Wind. Ob er mal Klavierspielen lernen soll? Dass muss ich mir noch überlegen.

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Abenteuer im Abendwind

Irgendwann kam ich mit dem „Mondlied“ als Einschlafhilfe für Frido nicht mehr aus, mochte keine weiteren Wiegenlieder lernen und ersann lieber selbst welche, Fortsetzungsgeschichten zu extrem frei schweifenden Melodien und naheliegenden Sujets, zu einer nach „Emma“ modellierten Lokomotive etwa, die sich dauernd umlackieren ließ, durch halb Europa reiste und es auf mehrere Folgen brachte, zur kleinen Giraffe, deren Hals jeden Tag länger wurde, zum Kranwagen Heppo, der mit seinem Fahrer Beppo überall hilft. Von dem erzwang Frido rund 23 Episoden, vor seinem vierten Geburtstag.

Damals widmete ich dem Thema schon mal eine Kolumne und war sicher, das improvisierte Fortsetzungslied habe nun seinen Zenith überschritten. Da kannte ich Frido wohl nicht gut genug. Wenig später entstand, von ihm stets mit Wünschen und Motiven gespeist, das geradezu gewaltige Epos vom Nashorn Ditta und dem Affen Hubsiticka, die im afrikanischen Urwald einem gewissen Kapitän Hansen und einem Jungen namens Frido halfen, den Zauberberg zu finden, auf dem anderswo ausgestorbene Riesenhirsche und Höhlenbären ein Heilkraut bewachen. Es war ein Abenteuer, das ich selber schon spannend fand.

Niemals hätte ich mir zugetraut, in solchen Dimensionen zu fabulieren. Dabei müsste ich doch wissen, dass Regelmaß, Termindruck und Erfolg beim Publikum inspirierender sind als neun von zehn Musen. Frido vereint das alles. Er gleicht dem Redakteur, der auf rechtzeitige Abgabe pocht, und dem Leser, der ein Echo schenkt, zugleich ist er Lektor, der schon in statu nascendi Alternativvorschläge macht oder Fußnoten ergänzt haben will: „Wozu braucht man Leuchttürme? Wie funktioniert ein Drehspiegel? Wann schlafen Delphine?“ Zur Zeit sind wir mit dem Delphinlied sehr maritim orientiert.

Alle zwei, drei Abende eine neue Folge. Und alles geht dahin, unfixiert, wie der Wind übers Wasser. Das finde ich schön. Was sich Eltern für ihre Kinder ausdenken und ausgedacht haben an Liedern und Geschichten, würde ungeheure Bibliotheken füllen oder allerlei Festplatten, wäre es alles bewahrt. Was da brodelt, merkt die Welt mitunter, wenn eine Astrid Lindgren oder ein Michael Ende etwas davon in Bücher retten. Aber die genügen auch, finde ich. Es wird doch eh schon so besessen alles gespeichert, als wäre es sonst nicht real.

Fridos und meine Loks und Riesenhirsche und Kranwagen und Delphine, das Chamäleon und die wandernde Tür und was weiß ich noch alles – die sind in ihren paar Minuten real genug, wie der Wind, wie lebendige Musik. Was der uralte Affe im Wald dem Kapitän Hansen über das Zauberkraut sagte, habe ich längst vergessen. Ich bin aber sicher, dass Frido es findet, wenn er es braucht.

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Anprangern als neuer Volkssport

In vielen Städten Europas findet man schmucke frei stehende Säulen aus dem Mittelalter, meist auf Marktplätzen, sie dienten einst als Pranger oder Schandpfahl. Verurteilte Personen wurden daran zur Schau gestellt, es war Teil der Strafe. Meist durfte das Publikum die Verurteilten auch mit Gegenständen bewerfen, die Stadt Lübeck machte die rühmliche Ausnahme, wenigstens den Einsatz harter Wurfmittel zu untersagen. Schaurige Zeiten, lange her? Immerhin war damals eine Verurteilung (wenngleich nach für uns überholten Rechtsnormen) die Voraussetzung für den Pranger. Heute genügt schon die Vorverurteilung, und anstelle einer Säule gibt es wirksamere Mittel der Entsozialisierung.

In den USA werden Listen von Verurteilten, die ihre Strafe schon verbüßt haben, mit Namen, Anschrift und Foto veröffentlicht. In Florida kann man vom Justizministerium für 22 Dollar das komplette Dossier jedes hier wann und weshalb auch immer verurteilten Sexualstraftäters erhalten, inklusive Familiendetails. Zudem haben US-Richter solche Fantasie im Bestrafen entwickelt, dass sich dafür der Begriff „creative sentencing“ etablierte. In Alabama musste eine Dame, die bei Walmart Waren im Wert von sieben Dollar gestohlen hatte, vier Stunden lang vor dem Billigmarkt herumgehen mit einem großen Schild um den Hals: ,,Ich bin ein Dieb, ich habe bei Walmart gestohlen.“

Das ist nicht der „Westen“, dessen Auffassung von Menschenwürde wir weltweit durchgesetzt sehen möchten. Aber ob Deutschland so viel besser ist? Hier stürzte ein Bundespräsident über Vorwürfe, die sich später in einem wochenlangen Prozess, dessen Kosten auf 150.000 Euro geschätzt werden, als gegenstandslos erwiesen. Der mediale Pranger hatte ihn da längst des Amtes und der Ehefrau beraubt. Ein anderer Politiker, weder vorbestraft noch angeklagt, verlor jüngst die Ehre, weil die Staatsanwaltschaft publik machte, sie traue ihm Straftaten im Bereich der Kinderpornographie zu, und weil die Medien darüber größer als über die Krimkrise berichteten.

Eine Schriftstellerin, die ihren erfahrungsfreien Grusel vor der Fortpflanzung ohne Sex in die denkbar verletzendsten Worte fasste, wurde von den meisten Kommentatoren mit fallbeilartiger Schärfe als nicht mehr lesbar verstoßen; der Aufruf zur Bücherverbrennung fehlte wohl nur, weil man damit auf der falschen Seite gelandet wäre. Wenn allerdings ein Fussballpapst zur Haft verurteilt wird, weil er so viel Steuern hinterzogen hat, dass man davon 570 Lehrern ein Jahresgehalt zahlen könnte, fragen viele besorgt nach seinem Wohlergehen, schildern Werdegang und Verdienste, sprechen von einer Tragödie. Das wiederum auch, weil mit der Dramatik das Publikum am Pranger wächst.

Das Publikum verhält sich dabei übrigens nicht immer wie eine Herde blutrünstiger Schafe. 1703 wurde der englische Schriftsteller Daniel Defoe wegen einer politischen Satire in London verurteilt und an den Pranger gekettet. Seine Anhänger verteilten dort sein Spottgedicht „Hymne an den Pranger“, er deklamierte es selbst, und statt mit faulem Obst bewarfen ihn die Leute mit Blumen. Was uns fehlt, ist ein Satiriker, der es so weit bringen könnte.

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