In vielen Städten Europas findet man schmucke frei stehende Säulen aus dem Mittelalter, meist auf Marktplätzen, sie dienten einst als Pranger oder Schandpfahl. Verurteilte Personen wurden daran zur Schau gestellt, es war Teil der Strafe. Meist durfte das Publikum die Verurteilten auch mit Gegenständen bewerfen, die Stadt Lübeck machte die rühmliche Ausnahme, wenigstens den Einsatz harter Wurfmittel zu untersagen. Schaurige Zeiten, lange her? Immerhin war damals eine Verurteilung (wenngleich nach für uns überholten Rechtsnormen) die Voraussetzung für den Pranger. Heute genügt schon die Vorverurteilung, und anstelle einer Säule gibt es wirksamere Mittel der Entsozialisierung.
In den USA werden Listen von Verurteilten, die ihre Strafe schon verbüßt haben, mit Namen, Anschrift und Foto veröffentlicht. In Florida kann man vom Justizministerium für 22 Dollar das komplette Dossier jedes hier wann und weshalb auch immer verurteilten Sexualstraftäters erhalten, inklusive Familiendetails. Zudem haben US-Richter solche Fantasie im Bestrafen entwickelt, dass sich dafür der Begriff „creative sentencing“ etablierte. In Alabama musste eine Dame, die bei Walmart Waren im Wert von sieben Dollar gestohlen hatte, vier Stunden lang vor dem Billigmarkt herumgehen mit einem großen Schild um den Hals: ,,Ich bin ein Dieb, ich habe bei Walmart gestohlen.“
Das ist nicht der „Westen“, dessen Auffassung von Menschenwürde wir weltweit durchgesetzt sehen möchten. Aber ob Deutschland so viel besser ist? Hier stürzte ein Bundespräsident über Vorwürfe, die sich später in einem wochenlangen Prozess, dessen Kosten auf 150.000 Euro geschätzt werden, als gegenstandslos erwiesen. Der mediale Pranger hatte ihn da längst des Amtes und der Ehefrau beraubt. Ein anderer Politiker, weder vorbestraft noch angeklagt, verlor jüngst die Ehre, weil die Staatsanwaltschaft publik machte, sie traue ihm Straftaten im Bereich der Kinderpornographie zu, und weil die Medien darüber größer als über die Krimkrise berichteten.
Eine Schriftstellerin, die ihren erfahrungsfreien Grusel vor der Fortpflanzung ohne Sex in die denkbar verletzendsten Worte fasste, wurde von den meisten Kommentatoren mit fallbeilartiger Schärfe als nicht mehr lesbar verstoßen; der Aufruf zur Bücherverbrennung fehlte wohl nur, weil man damit auf der falschen Seite gelandet wäre. Wenn allerdings ein Fussballpapst zur Haft verurteilt wird, weil er so viel Steuern hinterzogen hat, dass man davon 570 Lehrern ein Jahresgehalt zahlen könnte, fragen viele besorgt nach seinem Wohlergehen, schildern Werdegang und Verdienste, sprechen von einer Tragödie. Das wiederum auch, weil mit der Dramatik das Publikum am Pranger wächst.
Das Publikum verhält sich dabei übrigens nicht immer wie eine Herde blutrünstiger Schafe. 1703 wurde der englische Schriftsteller Daniel Defoe wegen einer politischen Satire in London verurteilt und an den Pranger gekettet. Seine Anhänger verteilten dort sein Spottgedicht „Hymne an den Pranger“, er deklamierte es selbst, und statt mit faulem Obst bewarfen ihn die Leute mit Blumen. Was uns fehlt, ist ein Satiriker, der es so weit bringen könnte.
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