Kategorie-Archiv: Kolumne

Manchmal ist die Erde stärker

Mit den Alltagsunfällen ist es wie mit den schweren Stellen in der Musik. Man rutscht meistens da aus, wo es überhaupt nicht gefährlich ist. Nicht in der gefürchteten, freiliegenden Sechzehntelpassage mit den fiesen Intervallen, sondern kurz danach, da, wo nichts mehr lauert. So habe ich mal vor Erleichterung im Konzert mitten in einen g-Moll-Schluss ein sattes H gesetzt. „Jetzt feuert er mich“, dachte ich, aber unser Dirigent meinte nur: „Das war mit Überzeugung gespielt.“ Sowas kriegt man natürlich nicht zu hören, wenn man sich blutüberströmt vom Bahnhofsvorplatz erhebt.

Aber es gibt Parallelen. Die eigentliche Gefahr war schon auf der Strecke geblieben, nämlich die, zu spät zum Zug zu kommen. Ich hatte unbedingt noch eine Zeitung kaufen wollen. Dann klemmte der Kinderwagen, nachdem ich ihn aus dem Auto geholt hatte. Dann wollte Paul nicht einsteigen. Dann saß er, ich sah auf die Uhr und atmete auf: Den Zug würden wir kriegen. Zwanzig Meter weiter fiel mir ein, dass ich das Auto nicht abgeschlossen hatte. „Warte mal kurz“, rief ich Paul zu und lief zurück. Bei Glatteis rutsche ich nie aus, aber glatte Sohlen in scharfer Kurve tun es auch bei zehn Grad plus.

So schnell konnte ich gar nicht denken, wie meinen Kopf die Erde anzog. „Mist“, sagte ich, erhob mich und merkte, dass etwas Warmes über meine Wange lief. „Scheiße“, sagte ich, als ich sah, dass das linke Brillenglas zersplittert war. Ich hielt mir die Hand übers Auge und tappte zu Paul zurück, der mir überaus erstaunt und still entgegensah. „Das wird wohl nix mit dem Zug, Paul“, sagte ich und setzte mich auf die Bahnhofstreppe, während ein älterer Herr mit Hund sich näherte. „Hingefallen“, stellte er fest, mit einem geerdeten polnischen Akzent, und reichte mir eine Packung Papiertaschentücher. „Ja. Danke.“

„So ist das Leben“, sagte er. „Das muss genäht werden. Ich kann Sie ins Krankenhaus fahren.“ „Das ist sehr nett. Ich rufe meine Frau an, aber wenn Sie warten wollen, bis sie da ist… das ist mein Sohn, Paul.“ Es tropfte aufs Handy. Der ältere Herr sagte gar nicht viel, er strahlte Ruhe aus. Nach einer Weile sagte Paul: „Der Hund!“ Der Hund, ein glatthaariger kleiner Kosmopolit, hieß Romeo. Sein Herr war 1988 aus Oberschlesien, wie er sagte, nach Norddeutschland gezogen. „So ist das Leben“, sagte er in größeren Abständen, „sowas passiert.“ „Könnte schlimmer sein“, sagte ich.

Dann nahte engelsgleich jene Frau, die kein Wort darüber verlor, dass ich neben meiner Reise auch die ruiniert hatte, die sie hatte antreten wollen. „Dieser Herr hat uns sehr geholfen“, sagte ich ihr, „und das ist Romeo.“ Im Spital verschloss ein vorzüglicher junger Arzt die Platzwunde mit fünf Stichen. „Kann sein, dass eine Narbe bleibt“, sagte er, auch mit östlichem Akzent, mochte er Pole, Ukrainer oder Russe sein. „Ich arbeite nicht als Model“, sagte ich. „Der Bluterguss wird sich noch ausbreiten“, ergänzte er lächelnd. „Kühlen Sie das.“ Und wie sich der Bluterguss ausbreitete. „Du bist da lila“, stellte Frido später fest.

„Hinndefalln“, erklärte ihm Paul. Dann dachte er nach und sagte: „Der Hund.“ „Ja, der Hund. Der war sehr nett, und der Mann auch.“ Er dachte wieder nach. „Papa … tu snell!“ „Ja. Ich bin zu schnell gelaufen.“ Einen so beschaulichen Familiensonntag haben wir schon lange nicht mehr genossen. Vielleicht war mein Fall kein Zufall. Und eine neue Brille war eh schon längst fällig.

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Das stärkste Kind der Welt

Frido liebt Pippi Langstrumpf und hatte zum Fasching beschlossen, als stärkstes Kind der Welt im Kinderhaus aufzutauchen. Das Motto war eigentlich der Kosmos, Astronauten, Sterne, aber die Erzieher sind nicht dogmatisch – auch Cowboys, Saurier, Piraten undsoweiter waren willkommen. Und so weiter: Seine Mama nähte ihm die Kittelschürze und bestellte eine grellorangefarbene Pippi-Perücke mit abstehenden Zöpfen. Sie suchte einen alten Koffer heraus, den Frido mit Goldstücken aus Pappe füllte sowie mit kleinen Schieferbrocken, die er, am Feldweg gefunden, wertvoll findet.

Am Morgen des großen Tages zog sich Frido über jedes Bein einen anderen Ringelstrumpf und bekam Sommersprossen geschminkt, während Paul das ältere „Kleiner Prinz“-Kostüm bekam, das Frido nicht mehr passt, aber sternenkompatibel ist. Dann zogen sie los mit ihrer Mama, der Größere den Kleineren an der Hand führend und so kraftvoll ausschreitend in ausgestopften Riesenschuhen, dass ich dachte, es gibt sie wirklich, die Pippi. Die andern Kinder fanden das offenbar auch. Ich war nicht dabei, aber Frido Langstrumpf soll umringt gewesen sein von sieben Astronauten, die ihm huldigten.

Ein Pirat war auch dabei und eine Sternschnuppe. Noch vor Frido erkannten sie Pippi, und sie spürten, was Stefan Zweig den „Rausch der Verwandlung“ genannt hat. Da Kinder detailversessen sind und alles stimmen muss, wurde auch der Dukatenkoffer so gewürdigt, wie Frido es sich nicht hätte träumen lassen. Das war auch nötig, denn gleich am Anfang hatte er eine eiskalte Dusche bekommen. Da stand in der Garderobe eine Mama und flötete giftig: „Oh, du wolltest dich als MÄDCHEN verkleiden??“ Frido erstarrte. Da sagte seine Mama: „Pippi ist kein Mädchen. Sie ist das stärkste Kind der Welt.“

Ich glaube nicht, dass ich so geistesgegenwärtig gewesen wäre. Sie hat, nachdem Frido halbwegs gefasst, seinen Koffer vergessend, die Treppe hochgeschlichen war, der anderen Mama zu erklären versucht, warum ihre Bemerkung, nun ja, nicht so GANZ dem Echo entsprach, das ein risikofreudiger Pippi-Fan von fünf Jahren morgens um neun in der Künstlergarderobe erwartet. „Er wird drüber wegkommen“, sagte die Dame bloß. „Wahrscheinlich“, sagte ich abends, als ich die Geschichte hörte, „erzählt sie ihrem Mann gerade, dass wir unseren Sohn zum Mädchen erziehen.“

Es würde mich nicht wundern. Wir leben in restaurativen Zeiten. Mädchen pink, Jungs blaugrau, womöglich setzen wackere Väter den Knaben hier und da schon Kampfhelme auf wie vorm Ersten Weltkrieg. In Fridos Kinderhaus ist das anders. Sein größter Triumph war an diesemTag Amalia. Sie ist das Supergirl dort, groß, klug, dominant. Dauernd erzählt er, er finde sie doof, dabei bewundert er sie maßlos. „Amalia“, rückte er nachmittags heraus, „Amalia fand es auch toll, dass ich Pippi war.“ Und er wurde röter als seine Perücke.

Delacroix auf dem Maidan

Schlachtenqualm am Himmel, wehende Fahnen über dem Tumult, mittendrin aufragend eine kämpferische Frauengestalt – auf dem Maidan in Kiew hat Efrem Lukatsky vor wenigen Tagen ein Foto gemacht, das vielfach gedruckt wurde und frappant an ein Gemälde erinnert, das vor 183 Jahren in Paris entstand. “Die Freiheit führt das Volk an”, nannte Eugène Delacroix sein Bild, gemalt unter dem Eindruck der Julirevolution von 1830. Jetzt sieht es so aus, als habe sich der französische Romantiker mit einer Kamera in der Hand auf den Maidan begeben. Es war aber Lukatsky, und der wird in der blutig gewordenen Auseinandersetzung kaum an die europäische Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts gedacht haben.

Die scheint indessen längst Regie zu führen in der Fotoberichterstattung von Krisen, Kriegen und Katastrophen. Menschen, die auf Flößen in überschwemmten Gebieten unterwegs sind, Milizen im Kongo, an Land geworfene Frachter – immer wieder wird das so „malerisch“ fotografiert, angeschnitten, layoutet, als folge man jenen zeitgeschichtlichen Gemälden, die im 19. Jahrhundert aufkamen, den Schiffbrüchigen auf dem „Floß der Medusa“ von Théodore Gericault etwa, dem „Eismeer“ von Caspar David Friedrich, den „Wolgatreidlern“ von Ilja Repin: Zentralperspektive, die, dramatisch schon im Vordergrund, das Geschehen nicht entrückt, sondern bedrohlich nahebringt.

Jedenfalls tat sie das, als diese Kunst, dieser inszenierte Realismus noch neu und ein konkurrenzloses Medium war. Für uns sind das aber Ikonen, so tief ins Kulturbewusstsein gerutscht, dass der Rückgriff auf ihre Mittel uns selbst eine europäische Katastrophe wie die der Ukraine zu entrücken scheint: Das sieht ja aus wie früher, wie im Museum! Doch diesmal ist die Gegenwart so nah, dass auch die Gegenwart der alten Bilder erwacht. Delacroix malte die Leichen zu Füßen der „Freiheit“ nicht, weil er einen Vordergrund brauchte, sondern weil es viele Tote gab bei dieser Revolution, die aus der Geschichte der europäischen Demokratie nicht wegzudenken ist.

Weil keine Revolution ohne Symbole auskommt, haben die Demonstranten in Kiew Fahnen befestigt an den Statuen der Stadtgründer, die auf dem Unabhängigkeitsplatz einen Brunnen schmücken. So trug auch die Lybid, höchste dieser Figuren, eine Fahne, als Lukatsky sein Foto machte, und sie scheint in wehendem Gewand der französischen Marianne nachzueilen. Die freilich (und sich daneben mit Gewehr und Zylinder) malte Delacroix in Ruhe, als der Sturz Karls X. besiegelt und Paris ein Zentrum liberaler Bürger war. Man kann, mit Blick auf sein Gemälde, nur schwach hoffen, dass auch Lukatskys Foto einmal als Ikone an eine Revolution mit gutem Ausgang erinnern wird.

Dieser Text erschien in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (22.2.14) und im Tagesspiegel (24.2.14) und ist urheberrechtlich geschützt