Das stärkste Kind der Welt

Frido liebt Pippi Langstrumpf und hatte zum Fasching beschlossen, als stärkstes Kind der Welt im Kinderhaus aufzutauchen. Das Motto war eigentlich der Kosmos, Astronauten, Sterne, aber die Erzieher sind nicht dogmatisch – auch Cowboys, Saurier, Piraten undsoweiter waren willkommen. Und so weiter: Seine Mama nähte ihm die Kittelschürze und bestellte eine grellorangefarbene Pippi-Perücke mit abstehenden Zöpfen. Sie suchte einen alten Koffer heraus, den Frido mit Goldstücken aus Pappe füllte sowie mit kleinen Schieferbrocken, die er, am Feldweg gefunden, wertvoll findet.

Am Morgen des großen Tages zog sich Frido über jedes Bein einen anderen Ringelstrumpf und bekam Sommersprossen geschminkt, während Paul das ältere „Kleiner Prinz“-Kostüm bekam, das Frido nicht mehr passt, aber sternenkompatibel ist. Dann zogen sie los mit ihrer Mama, der Größere den Kleineren an der Hand führend und so kraftvoll ausschreitend in ausgestopften Riesenschuhen, dass ich dachte, es gibt sie wirklich, die Pippi. Die andern Kinder fanden das offenbar auch. Ich war nicht dabei, aber Frido Langstrumpf soll umringt gewesen sein von sieben Astronauten, die ihm huldigten.

Ein Pirat war auch dabei und eine Sternschnuppe. Noch vor Frido erkannten sie Pippi, und sie spürten, was Stefan Zweig den „Rausch der Verwandlung“ genannt hat. Da Kinder detailversessen sind und alles stimmen muss, wurde auch der Dukatenkoffer so gewürdigt, wie Frido es sich nicht hätte träumen lassen. Das war auch nötig, denn gleich am Anfang hatte er eine eiskalte Dusche bekommen. Da stand in der Garderobe eine Mama und flötete giftig: „Oh, du wolltest dich als MÄDCHEN verkleiden??“ Frido erstarrte. Da sagte seine Mama: „Pippi ist kein Mädchen. Sie ist das stärkste Kind der Welt.“

Ich glaube nicht, dass ich so geistesgegenwärtig gewesen wäre. Sie hat, nachdem Frido halbwegs gefasst, seinen Koffer vergessend, die Treppe hochgeschlichen war, der anderen Mama zu erklären versucht, warum ihre Bemerkung, nun ja, nicht so GANZ dem Echo entsprach, das ein risikofreudiger Pippi-Fan von fünf Jahren morgens um neun in der Künstlergarderobe erwartet. „Er wird drüber wegkommen“, sagte die Dame bloß. „Wahrscheinlich“, sagte ich abends, als ich die Geschichte hörte, „erzählt sie ihrem Mann gerade, dass wir unseren Sohn zum Mädchen erziehen.“

Es würde mich nicht wundern. Wir leben in restaurativen Zeiten. Mädchen pink, Jungs blaugrau, womöglich setzen wackere Väter den Knaben hier und da schon Kampfhelme auf wie vorm Ersten Weltkrieg. In Fridos Kinderhaus ist das anders. Sein größter Triumph war an diesemTag Amalia. Sie ist das Supergirl dort, groß, klug, dominant. Dauernd erzählt er, er finde sie doof, dabei bewundert er sie maßlos. „Amalia“, rückte er nachmittags heraus, „Amalia fand es auch toll, dass ich Pippi war.“ Und er wurde röter als seine Perücke.