Ohne Stille gibt es keine Musik. Doch wo sie wächst, gerät man an den Rand. Ein Essay über das Verstummen der Töne
Genüßlich inhaliert der bleiche Mann, Kippe und Mikro in der Hand, und schweigt. Blixa Bargeld, Frontmann der Band „Einstürzende Neubauten“, realisiert „Silence is sexy“. Schleppender Viervierteltakt, nur ein mager knörzender E-Bass und die rauchige Stimme. Bargeld lässt gewaltige Pausen eintreten, von denen das Publikum vielleicht zwei Sekunden erträgt, ehe es zu juchzen, zu brüllen und zu pfeifen beginnt. Der Sänger bittet mit einer Geste um Ruhe. Irgendwann der Satz: „Wenn die Musik endlich aufhört…“ Nein, das will hier keiner. „Silence is not sexy at all“, das singt er dann auch.
Dresden, Semperoper, März 1999. Giuseppe Sinopoli hebt den Taktstock, Bruckners Fünfte Sinfonie beginnt. Herrlich. Sogkraft langgestreckter Vorhalte, gewaltige Aufschwünge. Was keiner merkt, der nicht in eine Partitur starrt: Der “Weckruf” nach dem ersten Zwischenspiel der Bläser beginnt ein gutes Viertel zu früh. Auch die nächste Pause wird um eine Viertelnote gestrafft. Noch ein wenig später lässt Anton Bruckner das Orchester sogar ganze sechs Viertel lang verstummen. Sinopoli kürzt sie auf drei. Dieser fabelhafte Dirigent, Komponist, Psychiater hatte, wie der Mitschnitt zeigt, offenkundig Angst vor den gewaltigen Pausen.
Da ist er nicht der einzige. Einerseits. Anderseits ist die Stille im Saal eine Grundvoraussetzung für das Filigran der Töne, und sie gewinnt eine besondere Qualität in einer einer Welt, in der es immer irgendwo lärmt, in der es selbst dort, wohin nicht einmal das Rauschen ferner Straßen dringt und nur selten ein Jet den Himmel kreuzt, Menschen gibt, die „the Hum“ vernehmen, einen niederfrequenten Brummton ohne lokalisierbare Quelle. In der uns auch organisierte Klänge, formerly known as „music“, fast überall verfolgen, aus dem Kopfhörer des Nachbarn im Zug, der Mozartbeatlesbrei im Supermarkt.
Es ist also kein Wunder, dass die Stille zwar nicht direkt als sexy, aber doch als Wahres, Schönes, Gutes gilt. 72000 Treffer meldet Google dem, der „Stille in der Musik“ eingibt, sie umfassen Dissertationen wie „Pause. Schweigen. Stille: Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musiktheater“ und den „Tag gegen Lärm“ mit Cello und Klangschalen in der HNO-Klinik. Mit Stille meint man, wo es um Musik geht, mittlerweile alles von der Pause zur Erholung vom Getöse. Das Lexikon für Musik in Geschichte und Gegenwart konstatierte schon 1998 eine nie da gewesene „musikalische Aktualität der Stille“.
Und doch ist da das Unbehagen, das eintritt, wenn eine Pause sich dehnt, das reflexartige Husten im Pianissimo, an den Nahtstellen. Die Angst vorm Zerreißen der Musik, des Kontinuums, in dem wir Schutz und Echo für unsere unsagbarsten Regungen finden. Es ist ein alles andere als schweigsamer Philosoph, der eine Erklärung dafür hat. Peter Sloterdijk erinnert uns daran, „dass Menschenkinder vom Moment der Geburt an eine so triviale wie unbegreifliche Entdeckung machen: Die Welt ist ein von Stille ausgehöhlter Ort, an dem Herzbeat und der Ursopran katastrophisch verstummt sind“.
Bis dahin war das Ungeborene eingebettet in eine Höhle der Klänge. Den basso continuo des mütterlichen Herzschlags, die nahe Stimme der Mutter, die nach der Geburt von außen her ganz anders klingt, eine „prekäre Brücke zwischen Damals und Jetzt (…) Mit dem Dasein in der gelichteten Welt ist eine Beraubung verbunden, der wir nie völlig auf den Grund gehen können.“ Und gerade sie, führt Sloterdijk in seinem Text „La musique retrouvée“ aus, ruft unsere Sehnsucht nach Musik hervor, nach einer „vergessen geglaubten sonoren Präsenz“, nach dem „verlorenen Paradies intimen Vernehmens“.
Das ist aber ohne die Stille nicht zu haben. Von der Ruhe im Saal bis zur Tatsache, dass jeder Ton auch ein verklingender ist, von der grammatischen Pause formaler Konturierung über die rhetorische bis zur metaphysischen Pause, die bei Bruckner religiöse Dimensionen erreicht – oder besser: wieder erreicht. Im 13. Jahrhundert schreibt Franco de Colonia, man nenne den „weggelassenen Ton“, die „vox amissa“, gemeinhin Pause. Die Pause bezeichnet also ein Fehlen. Wo mehrere Stimmen zugleich einen Ton weglassen, gar noch unter einer Fermate, die das Metrum aufhebt, ist der Tod nicht fern.
So ist das nicht nur in einer Trauerballade für Guillaume de Machaut von 1377, in der nach Ausrufung seines Namens mit dem Tongeflecht auch das Zeitmaß vorübergehend zerreisst. Die Liebenden in Claudio Monteverdis großem Madrigal „E dicea l’una sospirando allora“ aus dem Jahr 1590 sterben den Tod des Abschieds in Pausen, die fast die Musik verschwinden lassen. „Addio, ich gehe und sterbe“, erklären sie einander, und vor dem endgültigen Scheiden lässt Monteverdi einen ganzen Takt ohne Töne eintreten – eine jener Generalpausen, die viele Musiker, auch die besten, oft kaum aushalten können.
Trotz aller Weltbelärmung sind wir für das Enden des Klangs immer noch höchst sensibel, in der öffentlichen Intimität des Konzertsaals. Seine schützende Ruhe und die in ihr das Vorbewusste erreichenden Töne können uns unversehens an die schreckliche Stille nach der Geburt heranführen (oder an die der Savanne, an deren Rand ein Frühmensch steht, ungewiss, ob ihm der Stein in der Hand gegen das Ungewisse helfen wird). Und vielleicht nur hier, in der Übereinkunft einer Aufführung und in der Gewissheit, dass der Nichtklang ein Teil des organisierten Klanges ist, können wir sie uns auch aneignen.
Immer noch zieht es einem den Boden weg, wenn J.S.Bach im „Actus Tragicus“ eine Sopranstimme zu den Worten „Ja komm, Herr Jesu“ sich aus der Mehrstimmigkeit lösen lässt. Völlig einsam flattert sie dem Ende zu wie die Seele aus dem Körper und verschwindet in einer Stille, die zu den aufgeladensten der Musikgeschichte gehört. Sie muss ihre Hörer zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch weit mehr erschüttert haben. Man kann sich diese Zeit nicht leise genug vorstellen, gerade was die Präsenz von Musik betrifft. Kompositionen waren nur in Palästen, Kirchen, Opernhäusern zu hören.
Sonst war die Welt eine, „wo nichts zu hören ist als die Äxte alter Holzfäller, / das muntere Bellen starker Hunde im Winter / und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken; / die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren, / die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt (…)“ Das ist mit Absicht irreführend zitiert. Lars Gustafssons Gedicht heißt nämlich „Die Stille der Zeit vor Bach“, es setzt voraus, dass das Europa vor Bach eines der „leeren großen Räume ohne Widerhall“ war. Es beschreibt also, unbeabsichtigt, auch die Grenzen einer Mainstreamrezeption, die erst mit Bach beginnt.
Da, wo Tonlosigkeit wirklich eklatant komponiert ist, muss sie schon im Zeitalter der Aufklärung nicht immer Tod bedeuten. Haydn lässt anno 1788 eine Sinfonie (Nr. 90) mit fröhlichen Fanfaren enden, scheinbar. Ganze vier Takte später steigt er noch mal scheu und schräg in Des-Dur ein, um von da aus endgültig ins finale C-Dur zu steuern. Das ist nicht nur ein Witz, sondern auch ein Schritt über den Rand der Musik – und in gewisser Hinsicht ein komplexer Vorläufer von John Cages „4´33´´“, dessen drei Sätze mit „Tacet“ überschrieben sind: Das Schweigen um das Stück verbindet sich mit dem im Stück selbst.
Wer sich klar macht, dass selbst Haydn noch in der „Schlittschuhstille“ einer musikarmen Welt zu komponieren begann, die erst mit der Entwicklung eines bürgerlichen Konzertlebens nachlässt, ahnt, wie kostbar jeder Ton war. Der begreift andersherum auch, wie kostbar das Schweigen wurde, als im 19. Jahrhundert die Maschinen und die Orchester immer größer wurden. Ausgerechnet der Überwältiger Wagner schreibt 1858 über „Tristan“, es gehe ihm um eine „Kunst des tönenden Schweigens“, und in „Zukunftsmusik“ vergleicht er die unendliche Melodie mit einem „immer beredter werdenden Schweigen“.
Den Rand der Musik steuern die Komponisten des langen 19. Jahrhunderts häufiger an – Franz Schubert mit der Fermate nach den ersten acht Takten seiner letzten Klaviersonate, Robert Schumann mit seinem „Wie aus der Ferne“, Beethoven mit dem Weltentstehungsanfang seiner Neunten Sinfonie, auf deren jubelndes Finale Johannes Brahms in seiner Dritten Sinfonie, 60 Jahre später, mit dem Gegenteil reagiert. Nach fulminanten Entwicklungen mündet sie in flimmernde Sechzehntel der Geigen. Wie entrückt darin: jenes Thema, mit dem die Sinfonie so energisch aufgebrochen war. Die Musik löst sich auf.
Aber so wenig Brahms damit sein letztes Wort gesprochen hatte, so wenig lässt sich belegen, in der Musik habe nun dasVerschwinden um sich gegriffen, es gebe gar einen „Paradigmenwechsel vom Klang zur Stille im 19. und 20. Jahrhundert“, wie eine oft zitierte These lautet. Immerhin ist ein Schlüsselwerk der Moderne Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“. Der beginnt zwar wie aus dem Nichts mit seinem einsamen Fagott, doch am Ende des ersten Teils schießt das Orchester mit Achteln, Sechzehnteln, Triolen auf den Doppelstrich zu und scheint ihn zu durchschlagen – die Musik rast weiter in Kopf und Körper, über das Notierte hinaus, ein folgenreicher Gegenentwurf zu allem Verlöschen.
Man kann aber sagen, dass das Arbeiten am Rand der Klänge, das Komponieren aus der Stille heraus und in sie hinein zunehmend Kontinuität gewann, von Mahlers „Abschied“ im „Lied von der Erde“ (1909) bis zu Alban Bergs „Lyrischer Suite“ (1926), die mit einsamen Terzen der Viola in „völligem Verlöschen“ endet (und darin den Liebestod, Bergs geheimes Programm, mit der modernen Reduktion auf kleinste Zellen verbindet, das metaphorische Verstummen mit dem abstrakten). Und in Nonos Streichquartett „Fragmente – Stille, an Diotima“ wird das Nichterklingende selbst kontinuierlich.
Luigi Nono vollendete das Werk 1980 zu Textfragmenten von Friedrich Hölderlin. Sie sind nur in der Partitur zu lesen, etwa „…wie gern würd ich…“ Die Stille, so beschreibt es Martin Zenck, ist hier das eigentliche Kontinuum, „in dem die Bewegung von Klangfiguren und zarten Eruptionen eben die Ausnahme darstellt.“ Und was erleben wir da? Bedrohliches, Bergendes? Ein lastendes Schweigen, in das hinein ein Individuum kleine Äußerungen wagt, seinerseits in einer eigenen Stille vieles beschweigend? Man muss wohl, wie der Komponist, einen Plural bilden: „Silenzi“. Zumal nach Nono noch viele Stillen folgen.
Nur der Gipfel des Schweigens ist längst überschritten. John Cages „4´33´´“ (1952) ist ein Megahit, bei Google 126 Millionen Mal vertreten. Vor einer derartig ausgestellten Stille muss sich keiner fürchten, und wer sie erlebt, muss Cage recht geben: „Es gibt keine Stille, die nicht mit Klang geladen ist.“
Oder doch? Schon Karl Valentin fragte Lisl Karlstadt: „Hörst du mi denn aa, wenn i nix red?“ „Sell woaß i net; red amal nix, ob i nacha was hör.” „Ja, jetzt paß auf, jetzt red i nix. – - – - Hast des jetzt ghört, wia i nix gredt hab?“ (…) „Na, zughört hab I scho, aber ghört hab I nix.“ „Des is gspaßig, gell, mit dera Hörerei.“
Stille in der Musik – acht Werkporträts
1. Bach lässt eine Stimme verschwinden
1707 zog Johann Sebastian Bach, 22 Jahre jung, als Kantor nach Mühlhausen, Reichsstadt in Thüringen. Hier schrieb er seine Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, besser bekannt als „actus tragicus“, BWV 106, deren Tiefe er nie übertroffen hat. Sie verdankt sich auch der Radikalität, mit der er Tod und Hoffnung umsetzt. „Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben“, singen im zentralen Satz die drei tiefen Stimmen in einer Fuge, darüber und dagegen ist der Sopran voller Zuversicht: „Ja, komm, Herr Jesu, komm!“ Am Ende lässt diese Stimme alle andern, selbst den Continuobass, hinter sich, wie die Seele den Körper, sie fliegt ins Nichts, mit schwerelosen Verzierungen, verschwindet auf der Terz – ein offenes Ende in jener Stille, in der der Heiland wartet.
2. Meeresstille in Wien und Berlin
Zweimal wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Goethes Gedichte „Meeres Stille“ und „Glückliche Fahrt“ ( 1796), als Paar komponiert. Ludwig van Beethoven vertonte die Stille 1815 in der Tradition madrigalistischer Wortausdeutung. „Todesstille“ singen nur die Bässe, alle Silben durch Pausen getrennt, durch Cellopizzicati in ihrer Kürze betont. Die „Weite“ erstreckt sich gleißend über drei Takte hinweg, A-Dur, Septime im Bass, bis das Wort in Klang und dieser in Stille übergeht. Felix Mendelssohn, der diese Partitur vielleicht kannte, ließ 1828 die Worte weg. Sein Orchester beginnt ebenfalls in D-Dur, auch hier langgehaltene Töne, doch das „Ungeheure“ wird erreicht, indem mit einer jähen Erweiterung des Ambitus nach oben und unten ein Pianissimo den archaischen Schritt von H-Dur nach G-Dur begleitet.
3. Klopfzeichen in der Grabesstille
Wenn es einen Romantiker gibt, bei dem Verstummen und Schweigen „konstitutiv“ sein können, eine wesentliche Dimension bildend, dann ist es Robert Schumann. Im Lied „Ich hab´im Traum geweinet“ aus der „Dichterliebe“ (1840) wechseln sich klamme Worte und klopfende kurze Klaviertöne ab und können sich kaum behaupten gegenüber der Stille, die da um den Traum vom Grab der Geliebten graut. In den „Davidsbündlertänzen“ für Klavier (1837) kommen Stimmen „wie aus der Ferne“ oder verschwinden in der Tiefe, und wenn in den „Kinderszenen“ (1838) am Ende der Dichter spricht, kommt er bald ins Stocken und Sinnieren. Unaufgelöstes, offene Pausen, Ritardando in einem Drittel aller Takte: Dieser Dichter muss erst noch nachdenken.
4. Blicke auf ein Wunderkind
1944 schrieb Olivier Messiaen seinen 130 Minuten langen Klavierzyklus „Vingt Regards sur l´Enfant-Jesus“ – 20 Blicke auf das Jesuskind. Es blicken der Himmel, die Hirten, die Engel, das Kreuz, die Zeit und auch die Stille, und der „Regard du silence“ ist zugleich einer, der in Andacht „jede Stille der Krippe“ erwachen lässt „zu Musiken und Farben“. Es ist also kein Pausenstück, auch kein bewegungsarmes. Es bewegt sich nur nicht nach vorn, sondern macht die Zeit zum Raum zwischen nichtmetrischen Rhythmen: die linke Hand spielt anfangs in anderthalbfacher Vergrößerung jenen Rhythmus, dem die rechte mit ihren Akkorden folgt. Übrigens prägte Messiaen für diesen Zyklus einen neuen Plural: „Les SILENCES y jouent un grand rôle“.
5. Thomas Mann notiert ein Pianissimo
Im Roman „Dr. Faustus“ (1947) beschreibt Thomas Mann mehrere Kompositionen seines tragischen Helden Adrian Leverkühn, besonders dessen finales Zwölfton-Werk „Dr. Fausti Weheklag“ für Chor und Orchester. Das Stück endet in der Stille: „Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cellos, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in Pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist esnicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht.“
6. In Woodstock bleibt der Flügel stumm
Schon 1949 dachte John Cage über ein „silent prayer“ nach, „ein Stück ununterbrochener Stille“. Es sollte die Standardlänge üblicher Hits haben. Aber erst als er 1951 die “weißen Bilder” seines Freundes Robert Rauschenberg sah, gab er mit „4´33´´“ die musikalische Antwort darauf. Die Abmessungen der drei Sätze (30´, 2´23´´, 1´40´´) ertüftelte Pianist David Tudor, der bei der Uraufführung 1952 in Woodstock für jeden Teil den Tastendeckel seines Klaviers öffnete – und schloß. Ein dadaistischer Vorläufer ist der „Trauermarsch“ des Satie-Freundes Alphonse Allais (1854-1905), der aus 24 leeren Takten besteht. Dem Buddhisten Cage war es indessen ernst: “The essential meaning of silence is the giving up of intention.”
7. Streicherflüstern um Hölderlin
Die Uraufführung 1980 war eine kleine Sensation: Streichquartette schrieb man eher nicht in jener Avantgardeszene, zu der Luigi Nono zählte. Mit „Fragmente – Stille, an Diotima“ sucht er den Weg vom politischen Komponieren zurück zur Fantasie und Subjektivität. 47 Fragmente aus Gedichten Hölderlins stehen in der Partitur „ als schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln, um auf andere Weise die Hoffnung nicht fahren zu lassen.“ Zu hören sind sie nicht, nur zu denken in dieser Musik, die an der Grenze zum Verstummen fragmentarisch angelegt ist, durchsetzt von so vielen Tempowechseln, dass kein Zeitpuls mehr gefühlt wird – und von so vielen Pausen und Pianissimi wie kein Werk davor und danach.
8. Was hinter dem leeren Blatt lauert
„Zieht man den Klang aus der Stille, oder erlaubt man ihm, auszubrechen?“ Es wird eine Mischung aus Ausbruch und Organisation im Violinkonzert „still“, das Rebecca Saunders 2011 für Carolin Widmann schrieb. Die Geige beginnt allein. IhreTöne schießen hervor wie ein Reptil, von größter Lebendigkeit. Und was in der Stille noch wartet, scheint nun, vom Geigenwesen angeregt, an verschiedenen Stellen aus dem leeren Blatt zu brechen, Ereignisse wie aus dem Nichts, die sich sofort organisieren. Die 1967 geborene Komponistin bezieht sich auch auf Samuel Becketts Text „Still“, in dem ein Mann auf einen Klang wartet: „Lass es so alles ziemlich still oder versuch all den Klängen zu lauschen alle ziemlich still den Kopf in den Händen nach einem Klang lauschend.“
Essay und Werkporträts erschienen in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, im Dezember 2013, und sind urheberrechtlich geschützt.