Kategorie-Archiv: Kolumne

Zwischen Putto und Matrone

Sono solo“, soviel italienisch kann ich gerade. Und die Speisekarte lesen. Es ist nicht schlimm, in Italien allein zu speisen, auch wenn von dort der mahnende Spruch „Wer allein isst, stirbt alleine“ kommt. Vielleicht verdankt sich gerade dieser Einsicht die Gepflogenheit, Singles in Restaurants völlig normal zu behandeln, nicht mit dem Hauch von Mitleid, der in Deutschland noch üblich ist, verbunden mit der unausgesprochenen Frage, ob es sich um einen Geschäftsmann, einen Strohwitwer oder einen Verlassenen handelt. Nein, ich kriege einen Tisch mittendrin und gehöre dazu. Das entspannt.

Weniger selbstverständlich ist es, ausgerechnet in Venedig ein gutes Lokal zu finden. Ich habe da vor Jahren mal ein schlammartiges, schwarzgraues Nudelgericht zurückgehen lassen; was blieb, war ein Lagunentrauma . Touristen werden da, wo sie scharenweise auftreten, oft schlecht behandelt. Aber ich bin diesmal kein Tourist und habe das richtige Lokal gefunden: Kinder an jedem zweiten Tisch. Man geht mit Kindern nicht in Abgreiferias mit Schnöselkellnern. Und für einen Alleinspeisenden sichern Kinder die Kurzweil. Zu wem gehört wer in der großen Familienrunde da an der Wand?

Im Hochstuhl sitzt ein Putto mit staunenden Augen, um die Tische rast ein Dreijähriger herum, gefolgt von zwei Mädchen, die sind etwa fünf und sechs Jahre alt. Dann sitzen da zwei blonde Mütter, fast gleichaltrig, und zwei schwarzhaarige Väter, einer 35, einer 45, und ein Großelternpaar. Es gibt nichts Unterhaltenderes, als zu erwägen, ob die Väter Brüder sind oder die Frauen Schwestern oder wie man da sonst verwandt ist. Die jüngeren Männer sitzen nebeneinander und reden auf jene Weise wenig miteinander, die von Vertrautheit zeugt. Der eine reicht den Putto dem andern. Also Brüder?

Aber ähnlicher sind sich die blonden Frauen. Also Schwestern? Auch dass zwei Brüder zwei Schwestern heiraten, kommt ja vor. Ich werde es nicht herausfinden. Ich finde nicht mal heraus, woher das Paar neben mir kommt. Sie sehen aus wie Deutsche, um die 40, reden aber wenig, und das wenige wird vom Geschrei der Kinder übertönt. Noch lauter ist nur die Britin hinter mir. Mit knarrender Penetranz dominiert sie ihre Gruppe; ich stelle mir eine Matrone mit langen Zähnen vor. Aber es handelt sich um eine bildschöne Mittzwanzigerin.

Vielleicht hört man manchen Leuten an der Stimme an, wie sie einmal aussehen werden? Jetzt fange ich also schon an, mir die Zukunft wildfremder Leute auszumalen, anstatt mich in den zarten Fisch auf meinem Teller zu vertiefen. Hm, und der ältere, erschöpft blickende Herr dahinten mit der jungen Frau? Sind sie die Eltern der madonnengleichen Dreizehnjährigen? Niemand checkt mich, den einzigen Single hier, der genau so neugierig ist, wie er selbst nicht beguckt werden möchte. Das ist unfair. Nächstes Mal komme ich mit der ganzen Familie hierher. Siamo quattro! Dann können die anderen wenigstens rätseln, ob Paul, der am liebsten rote Sachen trägt, ein Junge oder ein Mädchen ist.

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Wackelige Angelegenheit

Es wackelt. Es wackelt sehr, während unten schon der Welfenspieß zu erkennen ist, oder Telemax, oder wie der Funkturm nun heißt. Es wackelt immer schlimmer. Auf die Sturmtiefs ist auch kein Verlass mehr. Die angekündigten mit Namen wie “Xaver“ werden Brisen, aber die namenlosen … „hui“, ruft sogar eine der Stewardessen hinter mir, wenn auch heiter. Sie sind beide lustig. In Frankfurt hat ein Passagier, der am Eingang keine Brezel mehr abkriegte, gescherzt, dann fliege er nächstes Mal mit Air Berlin und nicht mit Lufthansa, da haben sie gesagt: „Der kriegt kein Getränk.“ Natürlich kriegte er trotzdem eins.

Dann wurde auch schon aus der Reiseflughöhe ins Sturmtief gewechselt. Wenn wir schon abstürzen müssen, möchte ich nicht ausgerechnet in, bei oder auf Hannover fallen, das fände ich würdelos. Nichts gegen Hannover, aber ein Absturz muss Größe haben. Die hat eine Stadt für den, der in ihr aufwuchs, naturgemäß nur selten, zudem ist Größe wirklich nicht die hiesige Spezialität. Und meine? Einer muss Flugangst haben, das hilft allen, hat mir mal ein Therapeut gesagt. Die Angst, die die andern nicht haben, versammelt sich in ihm, es ist eine Aufgabe. Das ist magisches Denken, aber es verleiht, nun ja, Größe.

Ich und der Pilot (wie er wohl aussieht? Werden seine Knöchel schon weiß am Joystick?) retten die Landung im sturmgezausten Niedersachsen. Aber selbst als die Maschine angedockt hat, wackelt sie noch. Die etwas ältere Stewardess (ich weiß, sie heißen längst anders, aber ich sage auch Schaffner zum Zugbegleiter) sagt zur jüngeren: „Du, das ist immer noch der Wind!“ Ich frage sie, ob sie schon mal eine windigere Landung erlebt habe. Sie zögert. „Na, ein Sturm… das ist dann schon so.“ „Und wir müssen gleich wieder zurück!“, ergänzt die jüngere, die Blonde. Ich wundere mich: „Kein Feierabend?“

„Oh nein. Wir müssen sogar noch nach Warschau.“ „Da kommen Sie ja nicht vor Mitternacht zur Ruhe“, sage ich, über die Maßen redselig, wie Überlebende so sind. Die lustige Blonde, fast stolz: „Ja. Und wir waren heute schon in Birmingham!“ Dazu fällt mir nichts mehr ein, aber dafür bellt nun mein Nachbar übern Gang, der mit den Brezeln, in sein Handy: „Wer spricht da? Wie bitte?“ „Air Berlin wahrscheinlich“, mutmaßt die Blonde und grinst breit: „Die wären jetzt abgestürzt.“ Der Wind hat sie eindeutig nicht unbeeindruckt gelassen, und sie ist eindeutig stolz auf ihren Piloten. Ja, wie sieht er denn nun aus?

Wie ein Chef, um es mal französisch zu sagen, denn in Frankreich bedeutet Chef vor allem Küchenchef. Tatsächlich steht der Pilot, ein schlanker grauhaariger Mann mit feinem Gesicht, am Ausgang in der Haltung und mit dem Lächeln, womit extrem gute Küchenchefs nach fünf überragenden Gängen ihre Gäste verabschieden. In der sicheren Bescheidenheit jener Profis, denen wir unser leibliches Wohl anvertrauten und die gut damit umgegangen sind. „Danke für die exzellente Landung“, hätte ich sagen mögen und tat es nicht. Warum nicht? Warum es nicht hier nachholen? Danke für LH-Flug 054 FRA/HAJ, Freitagnachmittag.

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Moskau für Anfänger

Der Barkeeper war ein einziges langes, blasses, saures NJET. Und es ging nicht etwa um das letzte Glas nach Mitternacht, sondern um den Kaffee, sechs Uhr morgens im Hotel, ehe der Bus zum Flughafen Scheremetjewo fuhr. Eine Tasse hatte ich schon, aber nach vier Stunden Schlaf braucht man etwas mehr, um wach zu werden. Da der Frühstücksraum noch geschlossen war, musste der Barkeeper die abreisenden Musiker versorgen. Eine zweite Tasse zapfte er mir unter Zähneknirschen, dann verbarg er sich hinter einer Säule. Ich ging hin und bestellte den dritten Kaffee. „One breakfast, one coffee“, erklärte er.

„Das hier ist ein Hotel“, sagte ich ebenfalls auf Englisch. „Ich werde so lange Kaffee trinken, bis ich wach bin. Das ist in jedem Hotel der Welt so üblich.“ Er knirschte jetzt so mit den Zähnen, dass ihm das Pulver aus den Mundwinkeln zu rieseln schien, und wandte sich wieder der Maschine zu, um das Sieb aufs neue zu füllen. Obwohl er vielleicht halb so alt war wie ich, schien er mir 70 Jahre Ostblock in Reinform zu verkörpern, oder mein Klischee davon: übellaunig, störrisch, unkommunikativ, bei Bedarf bizarre Regeln aufstellend. Wer zum ersten Mal nach Moskau kommt, wird seine Klischees nicht los.

Genau so kreischend laut hatte ich mir die Metro vorgestellt, so grotesk das Neobarock der unter Stalin gebauten U-Bahnhöfe, so eisig ungemütlich den Roten Platz, so unberechenbar die Bürokratie: Bei der Einreise hatten wir etwa eineinhalb Stunden am Zoll verbracht, bis sich herausstellte, dass die Vorschriften für Instrumente sich geändert hatten. Es mussten nur noch jene Geigen und Bratschen mit Formularen bewehrt werden, die älter als 50 Jahre waren. Vielleicht hatten auch die Beamten, von Sotschi und Snowden erschöpft, keine Lust mehr zum Stempeln, jedenfalls durfte ich unerwartet durch den grünen Bereich.

Mit meiner Bratsche hatte ich auch ein paar überaus günstige Vorurteile mitgebracht, die russische Liebe zur Musik betreffend. Dass unsere Aeroflot-Maschine „Dmitrij Schostakowitsch“ hieß, passte schon mal prima, besser noch, dass meine russische Sitznachbarin mir gleich stolz erklärte, wer dieser Schostakowitsch sei. Vielleicht wäre er, lebte er noch, auch zu unserem Konzert gekommen, denn er verehrte Bach, und wir spielten die h-Moll-Messe. Beinahe hätten wir sie aber in lückenhafter Version spielen müssen. Denn – Klischee „russisches Chaos“ – zwei Stunden vorm Konzert war keine Orgel da.

Man zeigte auf die Riesenorgel an der Saalwand im „Haus der Musik“: Die tue es doch auch?! Nein, nicht wirklich. Wir brauchen ein kleines ambulantes Gerät, gestimmt auf einen Kammerton von 415 Hertz. Das kam dann kurz vor knapp, denn in Moskau ist alles möglich. Dann erschien das Publikum, das wunderbarste, das man sich denken kann, Enthuasiasten jeglichen Alters. Viele Kinder waren dabei, ab sechs Jahren etwa, nicht abgerichtet und feingemacht, sondern neugierig. Und dann wichen alle Klischees dem Geist. Schade, dass Njet, der Barkeeper, nicht dabei war. Es hätte ihm gut getan. Aber vielleicht musste er arbeiten, wie wir – und hatte noch nie Applaus dafür bekommen.

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