Moskau für Anfänger

Der Barkeeper war ein einziges langes, blasses, saures NJET. Und es ging nicht etwa um das letzte Glas nach Mitternacht, sondern um den Kaffee, sechs Uhr morgens im Hotel, ehe der Bus zum Flughafen Scheremetjewo fuhr. Eine Tasse hatte ich schon, aber nach vier Stunden Schlaf braucht man etwas mehr, um wach zu werden. Da der Frühstücksraum noch geschlossen war, musste der Barkeeper die abreisenden Musiker versorgen. Eine zweite Tasse zapfte er mir unter Zähneknirschen, dann verbarg er sich hinter einer Säule. Ich ging hin und bestellte den dritten Kaffee. „One breakfast, one coffee“, erklärte er.

„Das hier ist ein Hotel“, sagte ich ebenfalls auf Englisch. „Ich werde so lange Kaffee trinken, bis ich wach bin. Das ist in jedem Hotel der Welt so üblich.“ Er knirschte jetzt so mit den Zähnen, dass ihm das Pulver aus den Mundwinkeln zu rieseln schien, und wandte sich wieder der Maschine zu, um das Sieb aufs neue zu füllen. Obwohl er vielleicht halb so alt war wie ich, schien er mir 70 Jahre Ostblock in Reinform zu verkörpern, oder mein Klischee davon: übellaunig, störrisch, unkommunikativ, bei Bedarf bizarre Regeln aufstellend. Wer zum ersten Mal nach Moskau kommt, wird seine Klischees nicht los.

Genau so kreischend laut hatte ich mir die Metro vorgestellt, so grotesk das Neobarock der unter Stalin gebauten U-Bahnhöfe, so eisig ungemütlich den Roten Platz, so unberechenbar die Bürokratie: Bei der Einreise hatten wir etwa eineinhalb Stunden am Zoll verbracht, bis sich herausstellte, dass die Vorschriften für Instrumente sich geändert hatten. Es mussten nur noch jene Geigen und Bratschen mit Formularen bewehrt werden, die älter als 50 Jahre waren. Vielleicht hatten auch die Beamten, von Sotschi und Snowden erschöpft, keine Lust mehr zum Stempeln, jedenfalls durfte ich unerwartet durch den grünen Bereich.

Mit meiner Bratsche hatte ich auch ein paar überaus günstige Vorurteile mitgebracht, die russische Liebe zur Musik betreffend. Dass unsere Aeroflot-Maschine „Dmitrij Schostakowitsch“ hieß, passte schon mal prima, besser noch, dass meine russische Sitznachbarin mir gleich stolz erklärte, wer dieser Schostakowitsch sei. Vielleicht wäre er, lebte er noch, auch zu unserem Konzert gekommen, denn er verehrte Bach, und wir spielten die h-Moll-Messe. Beinahe hätten wir sie aber in lückenhafter Version spielen müssen. Denn – Klischee „russisches Chaos“ – zwei Stunden vorm Konzert war keine Orgel da.

Man zeigte auf die Riesenorgel an der Saalwand im „Haus der Musik“: Die tue es doch auch?! Nein, nicht wirklich. Wir brauchen ein kleines ambulantes Gerät, gestimmt auf einen Kammerton von 415 Hertz. Das kam dann kurz vor knapp, denn in Moskau ist alles möglich. Dann erschien das Publikum, das wunderbarste, das man sich denken kann, Enthuasiasten jeglichen Alters. Viele Kinder waren dabei, ab sechs Jahren etwa, nicht abgerichtet und feingemacht, sondern neugierig. Und dann wichen alle Klischees dem Geist. Schade, dass Njet, der Barkeeper, nicht dabei war. Es hätte ihm gut getan. Aber vielleicht musste er arbeiten, wie wir – und hatte noch nie Applaus dafür bekommen.

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