Kategorie-Archiv: Kolumne

Standing by a parking meter

Man könne in Hannover eine Parkuhr aufstellen und SPD dranschreiben, knirschte noch im jüngsten Kommunalwahlkampf der CDU-Kandidat, dann würde selbst die Parkuhr Oberbürgermeister. Vielleicht hat er mit seinem Vergleich dem Rivalen zugearbeitet: Die SPD stellt erneut den Stadtchef, seit 1946 den elften in Folge. Parkuhren gibt es in Hannover zwar seit dreizehn Jahren nicht mehr, doch als Zeichen bescheidener Standhaftigkeit sind sie aus dem kollektiven Gedächtnis offenbar nicht herauszuschrauben – schlank, verlässlich und völlig analog.

Neben der Telefonzelle zählt dieses Gerät zu den nahezu ausgestorbenen Konstruktionen der vordigitalen Epoche. Zehn Einbeinige brauchen nun mal mehr Platz als ein Parkscheinautomat. Während aber das Zellensterben noch Wehmut auslöste, lichteten sich die Reihen der Parkuhren unbeweint. Erst jetzt, da sie ein Jubiläum feiern, besinnt man sich: Da war doch was? Am 4. Januar 1954 wurden die ersten „Parkometer“ in Duisburg aufgestellt, knapp 20 Jahre nach „Black Maria“, dem ersten Parkmessgerät der Welt in Oklahoma City.

1955 kam es auch in Hannover zu ersten Anpflanzungen in Luisenstraße und Rathenaustraße, sogar eine Parkuhrenfabrik siedelte sich an der Leine an. Die Parkuhr schuf Jobs: „Standing by a parking meter / when I caught a glimpse of Rita“, so besangen 1967 die Beatles den Charme der „Meter Maid”, einer Parkuhrenkontrolleurin. Wer einen Führerschein erwarb, dem wurde die Handbewegung zur zweiten Natur, mit der man nach Einwurf der Münzen den Drehschalter bewegt. Damals war die Parkuhr ein Symptom wachsender Mobilität, heute erscheint sie als Feldzeichen analoger Stabilität.

Die Weltordnung schien an den Parkuhren geradezu revolutionssicher festgezurrt zu sein, und genau deswegen war das „parcmètre“ bevorzugtes Quälobjekt des anarchistischen Pariser Redaktionsboten Gaston, dem Comic-Helden von André Franquin. Er ließ 1982 sogar einen ferngesteuerten Hund Säureattentate auf die Geräte verüben, und seinem Widersacher, dem wackeren Ordnungshüter Knüsel, albträumte, eine Parkuhr werde von einer hydraulischen Presse zum Pizzablech flachgehauen: DOMP! „Rrraaahh…“

Sieben Jahre später geriet die Weltordnung ins Rutschen. Parkuhren und Telefonzellen ragten noch ein für Jahrzehnt wie Masten und Deckaufbauten einer sinkenden Fregatte zwischen digitalen Datenströmen in den Wind der Geschichte. Messerscharfe Centmünzen fällten die Einbeiner. Wenn demnächst jeder Parkscheinautomat die Gebühr der Nachfrage anpasst, per Smartphone vorgebucht wird und nur noch Reiche in den Zentren parken, wird das unflexible Altgerät sogar noch zum Denkmal sozialer Balance.

Und sollte bei einer Kommunalwahl in Hannover eines Tages eine reaktivierte Parkuhr gegen eine Software antreten, werden die Bürger für die Entscheidung wohl nicht mehr Minuten brauchen, als man einst für einen Groschen bekam.

Dieser Text erschien in der HAZ vom 4.1.14 und ist urheberrechtlich geschützt

Tunnelblick am Jahresende

Merkel blieb Kanzler, Herta Müller bekam den Literaturnobelpreis, Frank-Walter Steinmeier übergab das Amt des Außenministers an Guido Westerwelle, dessen Anhänger nach dem 14,6-Prozent-Erfolg der FDP sangen: „So sehen Sieger aus, schalalalala!“ Es starben die Schriftsteller Johannes Mario Simmel und John Updike, auch Michael Jackson ging für immer, und verschrottet wurden zwei Millionen fahrtüchtiger Autos, für die die Deutschen fünf Milliarden Euro einer so genannten „Abwrackprämie“ einstrichen. Unschwer zu errechnen, auf welches Jahr wir hier zurückblicken: 2009.

Im Rückblick auf den Rückblick bekommt der Rückblick erst seinen tieferen Sinn. Wenn man sich anschaut, was sich in vier Jahren geändert hat und was nicht und wovon wir in so relativ kurzer Frist schon vergessen haben, wann genau es war, werden auch all die topaktuellen Rückblicke, von denen wir jetzt auf allen Kanälen überschwemmt werden, sehr durchscheinend. Merkel blieb Kanzler, Alice Munro bekam den Nobelpreis, Guido Westerwelle übergab das Amt des Außenministers an Frank-Walter Steinmeier. Es starben die Schriftsteller Doris Lessing und Walter Jens, auch Lou Reed ging für immer…

Was in den Rückblicken eher nicht ganz oben vorkommt, sind Fortschritte jenseits markanter Ereignisse und Namen. Wie viele Millionen weiterer Autos gebaut wurden und erfolgreich zur Erwärmung der Erdatmosphäre beitrugen, wieviel Gletschereis und Regenwald verschwanden, wieviele Nahrungsmittel weggeworfen wurden und wieviele Menschen verhungerten, wieviele Waffen verkauft und wieviele Menschen getötet wurden – da wären doch stolze Zahlen zu haben, darunter sogar Rekordwerte, aber das möchte man wirklich nicht lesen, nicht gerade jetzt. Bäh! Es gibt doch so viel Schönes und Lustiges.

Es gibt einen Autorückblick, in dem „die größten Design-Flops“ Revue passieren, und einen, der die spektakulärsten Unfälle in einer Videogalerie versammelt. Es gibt den TV-Rückblick, in dem 43 „Tatort“-Produktionen Anlass zur Sorge um die Unterhaltungsqualität des deutschen Fernsehens geben, es gibt die Liste der peinlichsten Berliner und der teuersten Kunstwerke sowie die verdienstvolle Übersicht „Diese Promis kamen nach Leverkusen“. FAZ-Literaturredakteure stellen die Bücher vor, die sie im ablaufenden Jahr am meisten beeindruckt haben, und BILD-Reporter erläutern „Gänsehaut-Momente“, die ihnen in den Katastrophengebieten zuteil wurden.

Die Redaktionen haben große Freude am summarischen Überblick. Vielleicht möchten sie, sonst dem Tagesgeschehen und den Trends ausgeliefert, auch einmal abgeschlossene Sammelgebiete vorweisen, nebenher auch ihren Fleiß im ganzjährigen Einsatz. „Das hätten wir also hinter uns!“ Na schön. Ich bin froh, wenn wir die Rückblicke hinter uns haben. Übrigens hat Frido sich in diesem Jahr das Seepferdchen-Abzeichen erschwommen und ist darauf unglaublich stolz. Jetzt springt er sogar vom Ein-Meter-Brett. Hier und da macht die Menschheit echte Fortschritte, auch wenn Merkel dauernd Kanzler ist.

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Der Mond ist aufgegangen…

Lange Winterabende? Die Kinder schlafen tief, die Eltern wickeln Geschenke ein, so stellt man sich das ja gern vor. Paul stellt sich das aber anders vor. Gerade jetzt geht ihm so viel durch den Kopf, dass er es im Bett einfach nicht aushält. Ohnehin ist er dort, wie sein Bruder, erst nach acht gelandet, und das mit den Geschenken haben wir auf zehn verschoben, weil man ja auch mal was essen möchte. Kaum ist das Huhn fertig, da steht er im Schlafsack in der Tür, mit fröhlichem Lächeln. „Paul“, rufe ich, und den Rest kennt er auch längst: „Du gehörst ins Bett.“ Ich schnappe ihn, bringe ihn zurück und zeige ihm seinen Hasen, der schon schläft.

Fünf Minuten später ist er wieder da. „Paul! Gleich essen wir, und dann gehen wir auch schlafen!“ Ah, und jetzt zu Tisch! Schlurfende Geräusche im Flur. „Jetzt bist du dran“, sage ich zu seiner Mama. Sie nimmt ihn in den Arm und geht vor die Haustür. Sie zeigt ihm Mond und Sterne und sagt ihm, dass sie träumen. Und dass auch alle Kühe und Pferde und Hunde im Dorf schon träumen. „Nu“, sagt er und zeigt auf die Katze Minou, die gerade aus dem Haus ins Freie huscht. Okay, die nicht. „Aber die schläft auch gleich. Und Frido schläft schon lange. Und du kannst jetzt auch schlafen.“ „Nein!“ Das Huhncurry und der Reis sind mittlerweile wirklich nicht mehr zu heiß.

21.30 Uhr. Schlurf, schlurf. „Paul!“ rufe ich. „Wir wollen jetzt mal alleine sein! Du kommst hier wirklich nicht zu kurz. Jetzt reichts!“ Er bricht in Tränen aus. „Meina Miisss!“ ruft er, er möchte noch ein Fläschchen Milch. Also gut. Warmmachen, ab ins Bett mit Knabe und Flasche, weiteressen. Danach bin ich zu erschöpft zum Geschenkeeinpacken und gucke mir einen Film über Martha Argerich an. Ihre Tochter Stephanie erzählt darin, sie habe als Kind machen können, was sie wollte. Allerdings war sie auch von einer Schar von Au-Pair-Mädchen und hilfreichen jungen Pianisten umgeben, so dass ihre Mama ihrerseits auch machen konnte, was sie wollte.

Während Martha Chopin spielt, höre ich von hinten Geschrei. Paul wird gerade zum fünften Mal ins Bett gebracht. Wie lange wird es dauern, bis er Frido aufweckt? Aber der schlummert tief. Er hat seinen großen Auftritt hinter sich, 2. König beim Krippenspiel im Kinderhaus. Die versammelten Eltern waren fast noch aufgeregter als ihre Kinder. Sie tuschelten, lachten und fotografierten, weswegen die drei Könige weitgehend auf ihren Text verzichteten, still wie ein Denkmal. Frido hat irgendwann zwischen den Zähnen hervorgepresst: „Betlehem, das war der Name!“ Und er war wahnsinnig stolz auf seinen blauen Königsmantel mit Goldborte. „Ich habe genau gehört, was du gesagt hast“, habe ich ihn hinterher gelobt.

Nichts weckt ihn auf. Und Paul schläft mit einem dritten Fläschen pünktlich zum Filmende ein. Mitternacht. Der Vollmond steht südlich überm Dorf und beleuchtet einen einsamen Raucher vor der Haustür. „Lange Winterabende“, sagt der irgendwann zu sich selbst, „herrlich.”