Tunnelblick am Jahresende

Merkel blieb Kanzler, Herta Müller bekam den Literaturnobelpreis, Frank-Walter Steinmeier übergab das Amt des Außenministers an Guido Westerwelle, dessen Anhänger nach dem 14,6-Prozent-Erfolg der FDP sangen: „So sehen Sieger aus, schalalalala!“ Es starben die Schriftsteller Johannes Mario Simmel und John Updike, auch Michael Jackson ging für immer, und verschrottet wurden zwei Millionen fahrtüchtiger Autos, für die die Deutschen fünf Milliarden Euro einer so genannten „Abwrackprämie“ einstrichen. Unschwer zu errechnen, auf welches Jahr wir hier zurückblicken: 2009.

Im Rückblick auf den Rückblick bekommt der Rückblick erst seinen tieferen Sinn. Wenn man sich anschaut, was sich in vier Jahren geändert hat und was nicht und wovon wir in so relativ kurzer Frist schon vergessen haben, wann genau es war, werden auch all die topaktuellen Rückblicke, von denen wir jetzt auf allen Kanälen überschwemmt werden, sehr durchscheinend. Merkel blieb Kanzler, Alice Munro bekam den Nobelpreis, Guido Westerwelle übergab das Amt des Außenministers an Frank-Walter Steinmeier. Es starben die Schriftsteller Doris Lessing und Walter Jens, auch Lou Reed ging für immer…

Was in den Rückblicken eher nicht ganz oben vorkommt, sind Fortschritte jenseits markanter Ereignisse und Namen. Wie viele Millionen weiterer Autos gebaut wurden und erfolgreich zur Erwärmung der Erdatmosphäre beitrugen, wieviel Gletschereis und Regenwald verschwanden, wieviele Nahrungsmittel weggeworfen wurden und wieviele Menschen verhungerten, wieviele Waffen verkauft und wieviele Menschen getötet wurden – da wären doch stolze Zahlen zu haben, darunter sogar Rekordwerte, aber das möchte man wirklich nicht lesen, nicht gerade jetzt. Bäh! Es gibt doch so viel Schönes und Lustiges.

Es gibt einen Autorückblick, in dem „die größten Design-Flops“ Revue passieren, und einen, der die spektakulärsten Unfälle in einer Videogalerie versammelt. Es gibt den TV-Rückblick, in dem 43 „Tatort“-Produktionen Anlass zur Sorge um die Unterhaltungsqualität des deutschen Fernsehens geben, es gibt die Liste der peinlichsten Berliner und der teuersten Kunstwerke sowie die verdienstvolle Übersicht „Diese Promis kamen nach Leverkusen“. FAZ-Literaturredakteure stellen die Bücher vor, die sie im ablaufenden Jahr am meisten beeindruckt haben, und BILD-Reporter erläutern „Gänsehaut-Momente“, die ihnen in den Katastrophengebieten zuteil wurden.

Die Redaktionen haben große Freude am summarischen Überblick. Vielleicht möchten sie, sonst dem Tagesgeschehen und den Trends ausgeliefert, auch einmal abgeschlossene Sammelgebiete vorweisen, nebenher auch ihren Fleiß im ganzjährigen Einsatz. „Das hätten wir also hinter uns!“ Na schön. Ich bin froh, wenn wir die Rückblicke hinter uns haben. Übrigens hat Frido sich in diesem Jahr das Seepferdchen-Abzeichen erschwommen und ist darauf unglaublich stolz. Jetzt springt er sogar vom Ein-Meter-Brett. Hier und da macht die Menschheit echte Fortschritte, auch wenn Merkel dauernd Kanzler ist.

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