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12 Milliarden für ein Vorspiel

Es ist das größte und längste Vorspiel aller Zeiten. Und das teuerste wohl auch, mit 12 Milliarden Dollar. Es ist ziegelrot, einen halben Kilometer lang und so hoch, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um in einer Höhe, in der ungefähr auch die Kuppel des Reichstags beginnt, den Namen am Bug lesen zu können: „Prelude“. Wenn das größte Schiff der Welt nach einer musikalischen Kleinform heißt, würde ein noch größeres dann „Bagatelle“ genannt und eines von einem Kilometer Länge, dessen Kommandobrücke die Wolken berührt, „Menuett“? Während ein Tretboot „Sinfonie der Tausend“ hieße?

Mit dem Monster, das jetzt in Südkorea vom Stapel lief, hat jedenfalls der Transfer musikalischer Traditionen in nichtmusikalische Bereiche einen vorläufigen Gipfel erreicht, in dessen Schatten man die Vorläufer leicht übersieht. Autofreunde entsinnen sich jenes Sportcoupés der Mittelklasse, das als „Honda Prelude“ ganze 24 Jahre lang in fünf Generationen auf die Piste geschickt wurde, von 1978 bis 2002. Gereiften Damen von Welt ist zweifellos noch das 1982 kreierte Parfüm „Prélude Balenciaga“ ein Begriff. Und noch immer wird in den Welten der Technik und der Düfte präludiert.

Man findet das „Prelude to Love“, einen “zitrisch-frischen Duft”, ebenso wie die Software „Prelude CC“, welche die digitale Videoproduktion erleichtert. Musikalische Präludien und Préludes werden dagegen seit langem nicht mehr in nennenswerter Stückzahl hergestellt. Bach und Chopin haben in der Branche Maßstäbe gesetzt, denen auch Nachfolger wie Rachmaninow und Schostakowitsch nur noch huldigen konnten. Ähnliches gilt für die Symphonie, bei der die kosmetische Industrie in inzwischen sogar die von Beethoven etablierte Folge eins bis neun übernommen hat.

Wobei die Nummer sieben (bei „Evaflor“) zur „Duftfamilie holzig“ zählt, die man eher der „Pastorale“ zugeordnet hätte. Eine Reederei wirbt: „Wie eine Symphonie Ihr Herz berührt, vermag es auch eine Donau-Kreuzfahrt an Bord des 1997 gebauten, 110 Meter langen Kreuzfahrtschiffes Symphonie!“ Warum aber schreiben Komponisten überhaupt noch Streichquartette? Wohl nur, weil „Streichquartett“ ein so sperriger und unattraktiver Begriff ist, dass er nicht mal für die holzigste Duftnote in Betracht kommt. Geschweige denn für ein 600 Tonnen schweres schwimmendes Gerät, auf dem Erdgas verflüssigt wird.

Das nämlich ist die „Prelude“. Sie wird das vor Australien geförderte Erdgas bei 160 Grad minus auf ein Sechshundertstel seines Volumens reduzieren, um den Transport zu vereinfachen. Insofern verfahren die Ingenieure doch sehr ähnlich wie Bach und Chopin. Die haben ein Übermaß an Fantasie so komprimiert, dass eine Tastatur und wenige Minuten zur Umsetzung genügen und den Transport durch die Jahrhunderte erleichtern. Freilich handelt es sich um nichtfossile Brennstoffe von einer Nachhaltigkeit, neben der die größten Bemühungen der Energieforschung nur wie ein Vorspiel anmuten.

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Mit Xaver kam der Mann in Rot

Allmählich glaube ich es selbst. Der Nikolaus war da. Auch Xaver war da, er hält sich sogar immer noch in der Gegend auf, aber bei Frido hat er bei weitem nicht so tiefen Eindruck hinterlassen. Böen gab es, aber unsere Schornsteine hat das Orkantief nicht abgeräumt, und so konnte der Bischof von Myra durchs Ofenrohr kommen und fand Schuhe und Stiefel für seine Gaben vor. Dank Frido, der den Termin im Gegensatz zu seinen Eltern nicht vergaß, da er, während Xaver nahte, im Kindergarten schon den Nikolaus malte.

Ein geradezu dämonisches Wesen in Rot, mit schwarzer Mütze und bunten Päckchen an den Enden der langen Arme, daneben frei stehend eine Stele mit Kreuz, das alles umtost von dunkelblauen Schraffuren, fast scheint der Bischof etwas schräg zu stehen im Nachtwind. „He is expecting to find some presents in his boot“, sagte ich, während Frido neben uns stand. Auf keinen Fall sollte er Verdacht schöpfen. Seine Mutter seufzte. „Ich find´schon was.“ Frido ging seinen Freund im Nachbarhaus besuchen, und sie backte Kekse mit Paul.

Der verriet nichts davon, als sein großer Bruder zurückkam und sofort seine Stiefel in die Küche brachte. Wir stellten sie mit denen von Paul vor den alten Holzherd und öffneten dessen Klappe. Schließlich sollte der Nikolaus aus dem Ofenrohr bis zu den Stiefeln gelangen können. Dass ein mit Geschenken beladener, ausgewachsener Heiliger durch ein Rohr passt, fand Frido normal; ihn beschäftigte eher die Frage, wie der es ganz allein schaffen sollte, so viele Kinder zu versorgen. „Er hat vermutlich Helfer“, sagten wir. Unser Sohn fand, man müsse diesen Helfern und dem Mann in Rot doch eine Stärkung anbieten. Auf die geöffnete Ofenklappe legten wir Walnüsse und Mandarinen. Dann kam die Nacht.

Morgens vor sieben raste Frido in die Küche, dann zerrte er an meiner Bettdecke. „Sie haben die Nüsse geknackt und die Mandarinen gepellt! Das sieht total schön aus, soll ich es dir zeigen?“ Verrückt. Derselbe Junge, mit dem ich am Abend zuvor noch die Kugelgestalt der Erde erörtert hatte, überzeugte mich nun, dass der Nikolaus da gewesen war. Außer Keksen hatte er auch eine Hörspielkassette hinterlassen. Das „Sams“, Teil 2. Frido wollte sie sofort hören. Ich musste sie aber erstmal zurückspulen, da sie, in einem Paralleluniversum, schon mal von seiner großen Schwester gehört worden war. „Warum musst du die zurückspulen?“ „Vielleicht hat der Nikolaus da schon mal reingehört, damit er weiß, ob es dir gefallen könnte.“ „Dann hat er ganz schön viel gehört“, sagte Frido nachdenklich. „Oder seine Helfer“, sagte ich.

Als er im Kindergarten seinem Freund strahlend erzählte, dass der nächtliche Besuch sogar einen Imbiss eingenommen habe, begriff ich, dass Ähnliches geschehen war wie in einer guten Inszenierung, einer guten Geschichte. Sie macht sich selbstständig. Sie hat eine Wahrheit, neben der die Künstler nebensächlich werden. Einfach nur Helfer, die spät in der Nacht auch mal die eine oder andere Walnuss verzehren dürfen.

Regression? Legolize it!

Nostalgie mit Kindern, Teil zwei. Die Psychologen lockt man vielleicht besser mit dem Begriff der „legitimierten Regression“. Etwas anderes ist es ja wohl auch nicht, wenn ich neuerdings Techniken der Ingenieurskunst mit Legosteinen reaktiviere, die ich im Alter von zwölf bis sechzehn entwickelte. Den Bau von Türen mit Viertelkreissteinen als Scharnieren, Kräne mit Greifern, deren Stärke mit dem Gewicht der Ladung wächst, zielgenaue Armbrustwaffen… nein, die nicht. Schon gar nicht in einem Pazifistenhaushalt! Aber die Türen für den Jeep und der Greifer für den Containerkran haben Frido begeistert.

„Da wäre ich nicht drauf gekommen“, sagt er mit aller Souveränität seiner vier Jahre. Unpädagogisch bin ich. Wie soll er darauf kommen, wenn ich es baue? Aber das alte Fieber hat mich ergriffen. Am liebsten würde ich den Jeep ganz genau so bauen, wie er mir vorschwebt. Farblich homogen obendrein, aber das geht schon deswegen nicht, weil bereits zwei Kilo Steine im Containerschiff verbaut sind, ein Schwerlader von 50 Zentimetern Länge, neben dem die neuen Kreationen der Spielzeughersteller keine Chance haben. Es gibt tatsächlich ein Containerschiff von Playmobil – da passen gerade mal zwei Kisten drauf!

„Und auf UNSER Schiff“, erkläre ich Frido, der in der Drogerie andächtig vorm Spielzeugregal kniet, „passen zwanzig! Mindestens!“ Er sieht ein, dass es sich nicht lohnt, so ein fertiges Schrumpfschiff zu kaufen. Und dass auch alle Fahrzeuge, die wir aus Basislegos von ca. 1970 bauen können, locker die Neufabrikate übertreffen. Die bestehen zu zwei Dritteln aus Spezialteilen, die ohne Bauanleitung nur noch als Ornamente taugen. Von Fridos großer Schwester haben wir eine Menge solcher Teile, Raketensegmente, abgeschrägte Platten, allerdings auch zwei Seilwinden, die Frido nun am Jeep befestigt.

Er hat mich überzeugt. Als Legoan der alten Schule baute ich natürlich zuerst auch die Seilwinde aus antiquarischen Basisteilen, aber das Trumm hätte ein Fahrzeug von sieben Zentimetern Reifendurchmesser erfordert. Er hat es stillschweigend durch ein elegantes Fertigteil ersetzt, und allmählich werden wir zum Team. Ich sehe ein, dass ich nicht einfach so autistisch weiterbauen kann, wie ich 1978 aufhörte, und dass unsere Mehrgenerationenvehikel ihren chaotischen Charme haben, wie jene Kathedralen in Südfrankreich und Spanien, an denen in jedem Jahrhundert bis ins Barock herumgemörtelt wurde.

Ach ja, die Kathedrale. An der sind wir gescheitert. Eigentlich wollte Frido „Notre Dame“ nachbauen, am Ende wurde ein luxuriöser Kuhstall daraus. Auch dafür gibt es Parallelen in der Geschichte. Wenn ich es recht bedenke, ist meine neue Legomanie doch gar nicht regressiv, sondern, äh, soziale Plastik. Nur Fridos Mama hat da Zweifel, seit ich ihr neulich nachts um elf in der Küche stolz die Funktionsweise des Containerkrans vorführte. Sie tätschelte mir den Kopf und fragte mild: „Und was wünschst du dir zum Geburtstag?

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