Kategorie-Archiv: Kolumne

Wenn der Tag mit Zeus beginnt

Noch ehe die Sonne aufgeht, derzeit selten sichtbar im Dauergrau, ja noch ehe ich eine Lampe anstelle, leuchtet jetzt mitunter Homers rosenfingrige Eos im Morgendunkel, und ein Knabe erzählt von den Heldentaten der Antike. Es ist Frido, der uns neuerdings gern auf diese Weise weckt. Seit er zum Geburtstag acht CDs mit Geschichten von Odyssee und Argonauten und Herkules bekommen hat, ist er davon beseelt. Ich wollte zuerst schreiben, „ist er auf dem Trip“, aber das ist dieser berufsjugendliche Journalistenjargon, der mir zunehmend auf den Zeiger, hm, wider den Geist geht.

Ja, Frido ist davon beseelt. Es begab sich sogar, dass an seinem Geburtstag, dem siebten, alle seine gleichaltrigen Gäste sowie der vierjährige Paul, der sich nichts entgehen lässt, irgendwann nicht mehr zu sehen und verdächtig ruhig waren, weil sie sich um den CD-Player versammelt hatten und gebannt der Erzählung vom männerfressenden Zyklopen lauschten. In den USA ist so brutales Zeug wahrscheinlich längst verboten, bis rauf in die Universitäten und im Gegensatz zu Feuerwaffen. Man muss es vernommen haben, um zu begreifen, warum diese Texte nichts beschädigen können in ihren Hörern.

Natürlich sind die Sagen für Kinder umgeschrieben worden, aber nicht aufgeweicht. Die Versionen von Dimiter Inkiow sind genial, fassbar und doch poetisch, er schrieb sie in den 1990ern für den Kinderfunk von Radio Bremen, der kongeniale Peter Kaempfe sprach sie; „Lars der Eisbär“ ist danach nicht mehr zu ertragen. Ich bin ziemlich beruhigt, dass nicht nur Frido etwas damit anfangen kann, sondern auch seine Schulfreunde. Erstens heißt das, er ist halbwegs normal, zweitens, wenn er das nicht ist, gibt es wenigstens noch ein paar andere Exoten. Und er mag immer noch „Familie Speck fährt weg“…

Man kann also tatsächlich im frühen 21. Jahrhundert sieben Jahre alt sein und noch nie ein Digitalbrett bedient haben, dafür aber seinem Vater Nachhilfe in, zum Beispiel, Herkulik geben. Die Hälfte aller von Herkules bewältigten Aufgaben (ich hatte nur den Augiasstall im Kopf) hat mir Frido auf einer Radtour ums Dorf erläutert, die Entstehung Siziliens (Zeus!) zum Frühstück, den Beinamen Pallas für Athene zwischen Tür und Angel, Namen wie Hephaistos und Agamemnon gehen ihm bequem von der Zunge, von Hermes hat er eine schöne Zeichnung angefertigt, mit Flügeln an den Sandalen.

Ja, so machen wir restlichen Bildungsbürger unsere Kinder untauglich für den Überlebenskampf im Digitalkapitalismus, weltfremd den Sagen aus Europas Tiefe lauschend. Allerdings sind die voll mit Fieslingen und Taktiken, mit Gier nach Gewalt und Besitz, mit modernen Techniken. Besonders den Göttern scheint von Flugtechnik bis Ultraschall, von Raumzeitkrümmung bis Morphing nichts wirklich fremd zu sein. Dank Frido weiß ich nun auch von einer Nymphe, die noch schöner war als die Rosen, die sie pflegte. Wer so etwas im Morgengrauen erzählt bekommt, weiß, wie es einen stärken kann.

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Tram 6 zum unsterblichsten Raucher von Zürich

Man kann eigentlich nur noch hysterisch lachen, wenn in einer Dönerbude der Züricher Altstadt ein Minifläschchen Mineralwasser 4,50 Franken kostet, während einem der Dönerteller einem mit CHF 18,50 relativ fast nachgeschmissen wird. In Walsrode müsste ein Gastronom bei solchen Preisen mit Strafanzeige und leerer Bude rechnen. In Zürich sind 4,50 Franken, also derzeit 4,09 Euro, so etwas wie die kleinste Zahlungseinheit. Kaffee, Tram, überall mindestens 4,50. Zur Tram komme ich noch, die schert etwas aus der Reihe, gemeinsam mit dem großen Züricher Joycekenner Fritz Senn.

Ich traf ihn überraschend, nachdem ich es geschafft hatte, ohne zusätzliche Ausgaben (man könnte doch mal einen Brückenzoll an der Limmat einführen!) zur Augustinergasse 9 zu kommen, wo die James Joyce Foundation Zurich ihren Sitz hat, im 2. Stockwerk. Unten wurde renoviert, oben herrschte Ruhe. Man kann da einfach in die Bibliothek spazieren und in Erstausgaben blättern. Eine junge Frau erschien und fragte mich auf englisch lächelnd, ob ich auch „Fritz“ treffen möge. „Mister Senn is present?!“

Sie ging ihn holen. Er kam und sah immer noch so aus wie vor 22 Jahren, als ich ihn erstmals erlebte. Nur die weißen Haare gehen ihm, jetzt 88 Jahre alt, nicht mehr bis über die Schultern, dem zierlichen, freundlichen Spurensucher. Er spricht mit englischem Akzent infolge maßloser Beschäftigung mit Joyce, zu dem er die weltweit größte Sammlung zusammentrug und dessen Wortspiele er, der Senn des Lesens, in seinen Büchern durchtriebener dechiffriert, als Joyce selbst es hingekriegt hätte.

Durch Butzenscheiben fiel Sonnenlicht auf Tausende Buchrücken und Dutzende Kostbarkeiten, die da wie in einer Familienwohnung hängen und liegen, Fotos, Totenmaske, zwei Koffer, Bierflaschen aus Dublin. Dazwischen Kleinigkeiten, die man kaufen kann, etwa ein rotes Notizbuch, auf dessen Seiten unten Sätze der Molly aus dem Ulysses gedruckt sind. Daher heißt das Notizbuch „Molly“. Es gibt auch ein blaues, das „Stephen“ heißt und noch drei weitere, jeweils für zehn Franken, in diesem Fall völlig okay.

Ich hatte nur einen Fünfzigfrankenschein, das kleinste, was ein Züricher Automat rausrückt, und Senn konnte nicht wechseln. „Nehmen Sie Molly so mit“, sagte er mit seinem leichten Nuscheln, “wenn sie uns etwas ins Gästebuch schreiben…“ Dann kopierte er mir noch eine Liste mit Joyce´s Züricher Adressen.

Auf Senns Rat hin nahm ich die Tram 6 den Berg hoch nach Fluntern, zur schönsten Raucherbronze der Welt (falls es überhaupt noch andere gibt). Joyce sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen hinter seiner Grabplatte, in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch, in der Linken, den Arm aufgestützt, eine Zigarette, sehr cool, ganz unfriedhöfisch. Er hat einen fabelhaften Platz mit Blick über Stadt und See auf die Berge, die an diesem Tag in sonnigem Dunst flimmerten. Auch seine Nora ist dort bestattet und sein Sohn Giorgio und dessen Frau Asta. Von ihnen allen weilte „Jim“ am kürzesten auf Erden, keine 59 Jahre.

Ein paar Meter weiter: Elias Canetti. Ich warf auf seine Platte, in der sein Autogramm als ausgefrästes Negativ zu lesen ist, nur einen kurzen Blick, ich fand ihn immer etwas hochmütig und zähnefletschend. Keiner, der mit Wortspielen viel anfangen konnte; er und Joyce fanden einander gegenseitig sowieso eher bescheuert… Dann schaffte ich es gerade noch rechtzeitig zur Tramhaltestelle. Nicht, dass die 6 so selten führe, aber ein Billet für 4,50 gilt eine Stunde lang, inklusive Rückfahrt. Wer nur James Joyce folgt und dabei nicht mal ein Döner braucht, kehrt aus Zürich bereichert zurück.

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Kock, Bachs und die sehr coole GWLB

Ach, der Kock! Hermann Kock! Natürlich kennen Sie den nicht, nur Freaks kennen den und ein paar Wissenschaftler, es sei denn, es ginge um den Schlagzeuger Hermann Kock oder den gleichnamigen Hersteller von Fenstern und Türen. Ich bin weder Freak noch Wissenschaftler, aber ohne Hermann Kock wäre ich verloren gewesen auf meiner Großbaustelle rund um die Familie Bach, die zeitweilig aus mir ein Mischtier zwischen Freak und Wissenschaftler machte. Kock hat eine gigantische Genealogie der Familie Bach erstellt, 1995 gedruckt, mit allen Namen und Daten, die er kriegen konnte, bis hin zu Eintragungen aus Akten um 1600 und mit jedem Baby, egal, wie alt es wurde.

Dieser Mann, über den ich jetzt auch seinem Buch nichts mehr entnehmen kann, weil es heimgekehrt ist, muss sich fast um den Verstand geforscht haben, um all das zusammenzutragen und dann noch fünf gewaltige, auseinanderzufaltende Tafeln anzufertigen, auf denen der Wald der Stammbäume kartiert ist. Da das hier eine Kolumne ist, muss ich nicht mit Zahlen aufwarten, wir werden eh dauernd mit Zahlen beballert. Demnächst wird man auch Sonnenaufgänge in Farbwerten mit Stellen hinterm Komma schildern und ihre emotionale Wirkung mit Hirnstrommessung und bildgebenden Verfahren einkreisen, bis keiner mehr weiß, was Homer meinte, als er von der rosenfingrigen Eos sprach: „Hä?“

Also gut, eine Zahl. 250 Euro wollte der Antiquar in Berlin haben, der einzige, der den Kock anbot. Da hatte ich das Buch schon ein Jahr lang immer wieder von der Bibliothek verlängert bekommen, nie merkte es ein anderer vor. „Das kauft Ihnen doch sonst keiner ab“, feilschte ich dem Antiquar ins Telefon. „240 Euro, wenn Sie es selbst abholen.“ „Sind ja auch nur 350 Kilometer“, meinte ich und fuhr mit dem Kock nach Hannover, bei jeder fünften Verlängerung muss man das Buch vorzeigen. „Hm. Müsste mal zum Buchbinder“, sagte der freundliche Mann in der Baracke. Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek wird seit Jahren renoviert, der Leihbetrieb läuft in einem Provisorium.

Es ist das netteste Provisorium, das ich kenne. Als schienen sie zu ahnen, was bei mir los war, haben sie mir Gebühren zu verpassten Fristen erlassen, Bücher in Rekordgeschwindigkeit aus dem Außenlager geholt, andauernd mit einer Flexibilität agiert, die in deutschen Bibliotheken ihresgleichen sucht. Vielleicht gibt es ein sympathetisches Band zwischen Außenposten Alexandrias und Autoren auf sonderbaren Großbaustellen, ohne dass jemand etwas erklären muss. Der freundliche Mann in der Baracke blickte auf den windschiefen grauen Leineneinband. „Ich mach mal´n Vermerk“, meinte er, „nehmen Sie´s wieder mit.“ Und so ging es dann ein Jahr weiter, und noch mal elf Tage.

Heute habe ich den Kock final zurückgegeben. Nach sieben anderen Büchern schob ich ihn verschämt rüber: „Der bleibt jetzt bei Ihnen. Müsste mal zum Buchbinder…“ Er guckte beiläufig drauf: „Ach hier, der Buchrücken, ja…“ Ich hatte auf der Fahrt noch gedacht, ich müsste denen doch eine Schachtel Konfekt mitbringen oder eine Verlagsvorschau mit meinem Buch oder beides, aber diese hannoversche Beiläufigkeit ist viel besser. „Hat sehr geholfen“, murmelte ich. Dann zog ich mir für vierzig Cent einen Capuccino und rauchte eine vor der Baracke unter dem weiten Himmel der so befreiend unterschätzten Stadt Hannover und dankte ohne Worte dem Kock und Leibniz´ Leuten.

Der Antiquar in Berlin ist das Buch bis heute nicht los geworden.

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