Man kann eigentlich nur noch hysterisch lachen, wenn in einer Dönerbude der Züricher Altstadt ein Minifläschchen Mineralwasser 4,50 Franken kostet, während einem der Dönerteller einem mit CHF 18,50 relativ fast nachgeschmissen wird. In Walsrode müsste ein Gastronom bei solchen Preisen mit Strafanzeige und leerer Bude rechnen. In Zürich sind 4,50 Franken, also derzeit 4,09 Euro, so etwas wie die kleinste Zahlungseinheit. Kaffee, Tram, überall mindestens 4,50. Zur Tram komme ich noch, die schert etwas aus der Reihe, gemeinsam mit dem großen Züricher Joycekenner Fritz Senn.
Ich traf ihn überraschend, nachdem ich es geschafft hatte, ohne zusätzliche Ausgaben (man könnte doch mal einen Brückenzoll an der Limmat einführen!) zur Augustinergasse 9 zu kommen, wo die James Joyce Foundation Zurich ihren Sitz hat, im 2. Stockwerk. Unten wurde renoviert, oben herrschte Ruhe. Man kann da einfach in die Bibliothek spazieren und in Erstausgaben blättern. Eine junge Frau erschien und fragte mich auf englisch lächelnd, ob ich auch „Fritz“ treffen möge. „Mister Senn is present?!“
Sie ging ihn holen. Er kam und sah immer noch so aus wie vor 22 Jahren, als ich ihn erstmals erlebte. Nur die weißen Haare gehen ihm, jetzt 88 Jahre alt, nicht mehr bis über die Schultern, dem zierlichen, freundlichen Spurensucher. Er spricht mit englischem Akzent infolge maßloser Beschäftigung mit Joyce, zu dem er die weltweit größte Sammlung zusammentrug und dessen Wortspiele er, der Senn des Lesens, in seinen Büchern durchtriebener dechiffriert, als Joyce selbst es hingekriegt hätte.
Durch Butzenscheiben fiel Sonnenlicht auf Tausende Buchrücken und Dutzende Kostbarkeiten, die da wie in einer Familienwohnung hängen und liegen, Fotos, Totenmaske, zwei Koffer, Bierflaschen aus Dublin. Dazwischen Kleinigkeiten, die man kaufen kann, etwa ein rotes Notizbuch, auf dessen Seiten unten Sätze der Molly aus dem Ulysses gedruckt sind. Daher heißt das Notizbuch „Molly“. Es gibt auch ein blaues, das „Stephen“ heißt und noch drei weitere, jeweils für zehn Franken, in diesem Fall völlig okay.
Ich hatte nur einen Fünfzigfrankenschein, das kleinste, was ein Züricher Automat rausrückt, und Senn konnte nicht wechseln. „Nehmen Sie Molly so mit“, sagte er mit seinem leichten Nuscheln, “wenn sie uns etwas ins Gästebuch schreiben…“ Dann kopierte er mir noch eine Liste mit Joyce´s Züricher Adressen.
Auf Senns Rat hin nahm ich die Tram 6 den Berg hoch nach Fluntern, zur schönsten Raucherbronze der Welt (falls es überhaupt noch andere gibt). Joyce sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen hinter seiner Grabplatte, in der Rechten ein aufgeschlagenes Buch, in der Linken, den Arm aufgestützt, eine Zigarette, sehr cool, ganz unfriedhöfisch. Er hat einen fabelhaften Platz mit Blick über Stadt und See auf die Berge, die an diesem Tag in sonnigem Dunst flimmerten. Auch seine Nora ist dort bestattet und sein Sohn Giorgio und dessen Frau Asta. Von ihnen allen weilte „Jim“ am kürzesten auf Erden, keine 59 Jahre.
Ein paar Meter weiter: Elias Canetti. Ich warf auf seine Platte, in der sein Autogramm als ausgefrästes Negativ zu lesen ist, nur einen kurzen Blick, ich fand ihn immer etwas hochmütig und zähnefletschend. Keiner, der mit Wortspielen viel anfangen konnte; er und Joyce fanden einander gegenseitig sowieso eher bescheuert… Dann schaffte ich es gerade noch rechtzeitig zur Tramhaltestelle. Nicht, dass die 6 so selten führe, aber ein Billet für 4,50 gilt eine Stunde lang, inklusive Rückfahrt. Wer nur James Joyce folgt und dabei nicht mal ein Döner braucht, kehrt aus Zürich bereichert zurück.
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