Kock, Bachs und die sehr coole GWLB

Ach, der Kock! Hermann Kock! Natürlich kennen Sie den nicht, nur Freaks kennen den und ein paar Wissenschaftler, es sei denn, es ginge um den Schlagzeuger Hermann Kock oder den gleichnamigen Hersteller von Fenstern und Türen. Ich bin weder Freak noch Wissenschaftler, aber ohne Hermann Kock wäre ich verloren gewesen auf meiner Großbaustelle rund um die Familie Bach, die zeitweilig aus mir ein Mischtier zwischen Freak und Wissenschaftler machte. Kock hat eine gigantische Genealogie der Familie Bach erstellt, 1995 gedruckt, mit allen Namen und Daten, die er kriegen konnte, bis hin zu Eintragungen aus Akten um 1600 und mit jedem Baby, egal, wie alt es wurde.

Dieser Mann, über den ich jetzt auch seinem Buch nichts mehr entnehmen kann, weil es heimgekehrt ist, muss sich fast um den Verstand geforscht haben, um all das zusammenzutragen und dann noch fünf gewaltige, auseinanderzufaltende Tafeln anzufertigen, auf denen der Wald der Stammbäume kartiert ist. Da das hier eine Kolumne ist, muss ich nicht mit Zahlen aufwarten, wir werden eh dauernd mit Zahlen beballert. Demnächst wird man auch Sonnenaufgänge in Farbwerten mit Stellen hinterm Komma schildern und ihre emotionale Wirkung mit Hirnstrommessung und bildgebenden Verfahren einkreisen, bis keiner mehr weiß, was Homer meinte, als er von der rosenfingrigen Eos sprach: „Hä?“

Also gut, eine Zahl. 250 Euro wollte der Antiquar in Berlin haben, der einzige, der den Kock anbot. Da hatte ich das Buch schon ein Jahr lang immer wieder von der Bibliothek verlängert bekommen, nie merkte es ein anderer vor. „Das kauft Ihnen doch sonst keiner ab“, feilschte ich dem Antiquar ins Telefon. „240 Euro, wenn Sie es selbst abholen.“ „Sind ja auch nur 350 Kilometer“, meinte ich und fuhr mit dem Kock nach Hannover, bei jeder fünften Verlängerung muss man das Buch vorzeigen. „Hm. Müsste mal zum Buchbinder“, sagte der freundliche Mann in der Baracke. Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek wird seit Jahren renoviert, der Leihbetrieb läuft in einem Provisorium.

Es ist das netteste Provisorium, das ich kenne. Als schienen sie zu ahnen, was bei mir los war, haben sie mir Gebühren zu verpassten Fristen erlassen, Bücher in Rekordgeschwindigkeit aus dem Außenlager geholt, andauernd mit einer Flexibilität agiert, die in deutschen Bibliotheken ihresgleichen sucht. Vielleicht gibt es ein sympathetisches Band zwischen Außenposten Alexandrias und Autoren auf sonderbaren Großbaustellen, ohne dass jemand etwas erklären muss. Der freundliche Mann in der Baracke blickte auf den windschiefen grauen Leineneinband. „Ich mach mal´n Vermerk“, meinte er, „nehmen Sie´s wieder mit.“ Und so ging es dann ein Jahr weiter, und noch mal elf Tage.

Heute habe ich den Kock final zurückgegeben. Nach sieben anderen Büchern schob ich ihn verschämt rüber: „Der bleibt jetzt bei Ihnen. Müsste mal zum Buchbinder…“ Er guckte beiläufig drauf: „Ach hier, der Buchrücken, ja…“ Ich hatte auf der Fahrt noch gedacht, ich müsste denen doch eine Schachtel Konfekt mitbringen oder eine Verlagsvorschau mit meinem Buch oder beides, aber diese hannoversche Beiläufigkeit ist viel besser. „Hat sehr geholfen“, murmelte ich. Dann zog ich mir für vierzig Cent einen Capuccino und rauchte eine vor der Baracke unter dem weiten Himmel der so befreiend unterschätzten Stadt Hannover und dankte ohne Worte dem Kock und Leibniz´ Leuten.

Der Antiquar in Berlin ist das Buch bis heute nicht los geworden.

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