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Überall lauern die Spunks

Für Erwachsene ist ein Umzug strapaziös. Für Kinder ist es ein Naturereignis, ein Erdbeben, bei dem nichts an seinem Platz bleibt, beängstigend, aber auch aufregend. Frido kann sich an den letzten Umzug noch erinnern, aber Paul ging bis jetzt davon aus, dass mein Schreibtisch genau so feste Wurzeln hat wie der Baum vorm Haus, auch wenn der andere Blätter zu anderen Zeiten abwirft, er hielt unsere Küche, das Kinderzimmer, den alten schwarzen Flügel für feste Teile der ihm vertrauten Erdoberfläche und weiß nun nicht, wie ihm geschieht.

Als die ersten Regale leergeräumt wurden, reagierte er noch mit Entsetzen, während Frido mir half, Bücher in Kisten zu stapeln. Paul begriff aber bald, dass es ums Packen geht, und warf, was immer greifbar war, seinerseits in jeden verfügbaren Behälter. Mittlerweile weiß er auch, dass es um Aufbruch geht. Also holt er den grünen Rollkoffer, schiebt ihn herum, zerrt ihn mit herkulischer Kraft aufs Sofa, jenes weiße Sofa, das neulich noch im Sofazimmer stand.Nun ist es neben den Esstisch verrückt worden. Es ist zum Verrücktwerden.

Und darum spielen Frido und Paul verrückt. Der eine schlurft mit Schubladen an den Füßen herum, um die der andere das Staubsaugerkabel wickelt. So werden auch für uns die Umzugsvorbereitungen allmählich zum Naturereignis, unberechenbar. Mit einer Hand fängt man die Regalpfosten auf, die von der Wand ins Zimmer kippen, mit der anderen einen Knaben, der auf einem Stapel Kartons Pirouette und Hechtsprung kombiniert. Zugleich scheinen sich die Dinge zu vermehren, während man packt. Immer wächst von irgendwo noch ein Aktenordner hervor, eine Legokiste, ein Stapel CDs, ein Rudel Spunks.

Spunks nenne ich, frei nach Pippi Langstrumpf, Dinge, von denen ich nicht weiß, warum ich sie mitnehmen sollte, die ich aber nicht wegzuwerfen wage. Zubehör zu Geräten aus dem vorigen Jahrhundert, welke Souvenirs, gilbende Bußgeldbescheide, Becher mit Sprung… Anfangs habe ich noch systematisch gepackt, mittlerweile schmeiße ich das Zeug fast genauso wahllos in die Kiste, wie es Paul mir vorgemacht hat. Und während er und Frido sich im Chaos einrichten, beginne ich darin unterzugehen. Wo finde ich Halt?

Da. Da steht sie, unbeirrbar, souverän disponierend, Anweisungen gebend, die geborene Regisseurin. Sie wird dafür sorgen, dass an der nächsten location die Requisiten wie von selbst an ihre Plätze fliegen und die Kinder in ihre Betten. Ich bin da gern Statist und Handlanger und tue, was man mir sagt. Hauptsache, mein Schreibtisch passt durch die Tür. Wenn er seine finale Landeposition erreicht hat, wünsche ich mir, dass er wirklich Wurzeln schlägt. Der Flügel ist schon vorausgereist, er ist 98 Jahre alt und würde jetzt auch gern mal seßhaft.

Paul nicht. Animiert vom Umsturz, hat er gerade herausgefunden, wie er aus dem Gitterbettchen klettern kann. Und ich? Würde mich da gern hineinlegen.

Künstler brauchen Ruhm und Ehre

„Frido hat übergemalt!“ Anna schwenkte stolz ihr Blatt, auf dem sie die vorgedruckten Umrisse eines Krokodils säuberlich ausgemalt hatte, mit verschiedenen Farben für Jacke und Hose. Alle Kinder hatten so ein Ausmalblatt von der Zahnärztin gekriegt, die im Kindergarten gewesen war. Frido hatte das Tier mit kühnen grünen Schraffuren versehen, die ihm eine enorme Bewegungsdynamik verliehen und großzügig die Konturen überschritten. Hier verschaffte sich die Wildnis wieder das Recht, das dem Reptil durch die pädagogischen Bemühungen der Dentalvorsorge genommen worden war.

Aber nein, Frido hatte übergemalt, und Anna hatte es richtig gemacht. Ihrer Mutter war es peinlich. „Anna! Fridos Krokodil ist auch sehr schön!“ „Ja“, sekundierte ich, „eure beiden Krokodile sind schön! Ganz verschieden!“ „Aber Frido hat übergemalt!“ Sie war nicht zu bremsen. Frido stand ratlos da mit seiner Bewegungsstudie. „Du hast es gaanz, gaanz toll gemacht“, sagte ich genervt zu Anna, im Tonfall schon etwas grenzwertig. Ihre Mutter war mir zum Glück nicht böse. Man kann einfach nicht immer alles richtig machen.

Dabei kann das Richtigmachen so verlockend sein! Egal ob man Umrisse säuberlich ausmalt oder gegenüber Kindern die treffend hilfreiche pädagogische Bemerkung macht, eine, für die Jesper Juul einen loben würde. Ich bin auch idiotisch stolz, wenn ich mal auf Anhieb richtig einparke, in einem Bogen und paßgenau. Man braucht das manchmal. Mit etwa zwölf fiel mir ein „Jahrbuch für Jungens“ in die Hände, das hieß wirklich so, in dem wurde erklärt, was richtige „Jungens“ machen. Kniebeugen in frischer Luft und Modellflugzeuge aus Balsaholz basteln! Das hatte geradezu exotischen Reiz.

Ich riß das Fenster auf, machte die Übungen nach und fragte mich, wer mir mit den Flugzeugen helfen könnte. Ich ahnte aber, dass mein Vater mir lieber beim Geigeüben geholfen hätte, einer gehobenen Form der Sägearbeit. Außerdem wurde jeden Sonntag moderne Kunst in der Kestnergesellschaft beguckt. So würde nie ein richtiger Junge aus mir werden. Dafür entwickelte ich früh die, nun ja, richtigen Kriterien für Kunst. „Ähnlich“ muss sie nicht sein, teuer auch nicht, nur spannend. Schwer zu erklären. Die einen sehen es, die anderen sagen „das kann mein Kind auch.“ Ja, natürlich kann es das!

Als Frido im Kindergarten jetzt an die Staffelei durfte, tuschte er ein Bild, für das ich den einen oder anderen Miro und ein paar späte Picassos abhängen würde, hätte ich welche. Ein Tanz der Farben und Formen. „Fantastisch“, sagte ich. „Bo sagt, ein Spinnennetz sieht anders aus“, sagte Frido traurig. Da halfen keine Komplimente mehr, da halfen nur Ruhm und Ehre: Ich hängte das Werk über meinen Schreibtisch. Er strahlte. Ich könnte es natürlich rahmen lassen und am offenen Fenster daneben Kniebeugen machen, außerdem das Einparken üben und das Rauchen vollständig einstellen. Aber das mit dem Richtigmachen habe ich jetzt, glaube ich, wirklich hinter mir. Ab jetzt wird übergemalt!

Was Fliegende am liebsten trinken

Es ist eines der ganz großen Themen unserer Zeit. Die Onlinedienste von Spiegel, Focus, ZEIT, New York Times greifen es im Jahrestakt auf, das Fraunhofer-Institut hat ihm eine Testreihe gewidmet, im Internet finden sich mehrere hunderttausend Einträge dazu. Und ich dachte, ich hätte mal ein Mauerblümchen von Thema gefunden, ein Tomatenpflänzchen, besser gesagt. Es gibt ja Phänomene des Alltags, die jeder kennt, aber kaum einer bemerkt und aus denen ein aufmerksamer Zeitgenosse schon Muster einer Epoche herauslesen kann, ehe es zweihundert Jahre später ein Kulturhistoriker tut.

Offenbar wimmelt es aber von aufmerksamen Zeitgenossen. Zuerst fiel es dem Bordpersonal auf, dann auch den Fluggästen selbst, dass auf Flügen unverhältnismäßig große Mengen von Tomatensaft verzehrt werden. 1,6 Millionen Liter verabreicht etwa die Lufthansa jährlich ihren Passagieren. Sie trinken an Bord genauso viel Tomatensaft wie Bier. Von den 46 Millionen Litern Tomatensaft, die in Deutschland ingesamt in einem Jahr getrunken werden, entfallen bis zu fünf Prozent auf das in der Luft konsumierte Gemüseliquid, beim Orangensaft sind es nur 0,4 Prozent.

Ich genieße ihn oben auch, den dicken roten Saft mit Peffer und Salz, ein Zeug, das ich am Boden noch nie gekauft oder bestellt habe. Meine These dazu war bislang, dass es ein Ritual ist wie der Uso beim Griechen oder das Flaschenbier nach dem Rasenmähen oder der Stollen zu Weihnachten, es gibt ja unzählige historische Zusammenhänge zwischen Ritualen, Speisen und Getränken, von Osterlamm bis Weihnachtsgans, von Pessachbrot bis Abendmahlswein.

Der Tomatensaft aber verdankt nach jüngsten Forschungen seine Beliebtheit in zehn Kilometern Höhe dem Kabinenluftdruck. Im Originalrumpf eines A 310 wurden am Boden normaler Druck sowie der niedrige Druck simuliert, wie er beim Fliegen herrscht. Die Versuchspersonen fanden, dass „oben“ fast alles fade schmeckt. Der Tomatensaft indessen, der ihnen am Boden muffig vorkam, wurde in der Luft als angenehm fruchtig beschrieben. Kurz, er schmeckt erst dann gut, wenn man nicht mehr besonders gut schmecken kann, weil der Niedrigdruck die Rezeptionsfähigkeit einschränkt.

Und das soll es schon gewesen sein? Für mich bleiben drei Fragen offen. Erstens die nach dem rituellen Komplex, unter besonderer Berücksichtigung von Erdenferne und deren Kompensation durch muttermilchartig sämige Flüssigkeiten. Zweitens sollte man bedenken, dass früher ganze Lammkeulen serviert wurden, wo jetzt sich jetzt bestenfalls zwei Nudeln krümmen – hilft der dicke Saft beim Sättigen? Drittens: Warum konnte etwas so Unerhebliches wie Tomaten in der Luft ein derartig großes Thema werden? Vielleicht eben darum.

Endlich ein großes Thema, das konfliktfrei ist und in eine Hand passt. Darauf einen… hm. Haben wir nicht im Kühlschrank. Wäre doch mal eine Idee, als Mittel gegen Fernweh. Auch, wenn´s muffig schmeckt.

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