Künstler brauchen Ruhm und Ehre

„Frido hat übergemalt!“ Anna schwenkte stolz ihr Blatt, auf dem sie die vorgedruckten Umrisse eines Krokodils säuberlich ausgemalt hatte, mit verschiedenen Farben für Jacke und Hose. Alle Kinder hatten so ein Ausmalblatt von der Zahnärztin gekriegt, die im Kindergarten gewesen war. Frido hatte das Tier mit kühnen grünen Schraffuren versehen, die ihm eine enorme Bewegungsdynamik verliehen und großzügig die Konturen überschritten. Hier verschaffte sich die Wildnis wieder das Recht, das dem Reptil durch die pädagogischen Bemühungen der Dentalvorsorge genommen worden war.

Aber nein, Frido hatte übergemalt, und Anna hatte es richtig gemacht. Ihrer Mutter war es peinlich. „Anna! Fridos Krokodil ist auch sehr schön!“ „Ja“, sekundierte ich, „eure beiden Krokodile sind schön! Ganz verschieden!“ „Aber Frido hat übergemalt!“ Sie war nicht zu bremsen. Frido stand ratlos da mit seiner Bewegungsstudie. „Du hast es gaanz, gaanz toll gemacht“, sagte ich genervt zu Anna, im Tonfall schon etwas grenzwertig. Ihre Mutter war mir zum Glück nicht böse. Man kann einfach nicht immer alles richtig machen.

Dabei kann das Richtigmachen so verlockend sein! Egal ob man Umrisse säuberlich ausmalt oder gegenüber Kindern die treffend hilfreiche pädagogische Bemerkung macht, eine, für die Jesper Juul einen loben würde. Ich bin auch idiotisch stolz, wenn ich mal auf Anhieb richtig einparke, in einem Bogen und paßgenau. Man braucht das manchmal. Mit etwa zwölf fiel mir ein „Jahrbuch für Jungens“ in die Hände, das hieß wirklich so, in dem wurde erklärt, was richtige „Jungens“ machen. Kniebeugen in frischer Luft und Modellflugzeuge aus Balsaholz basteln! Das hatte geradezu exotischen Reiz.

Ich riß das Fenster auf, machte die Übungen nach und fragte mich, wer mir mit den Flugzeugen helfen könnte. Ich ahnte aber, dass mein Vater mir lieber beim Geigeüben geholfen hätte, einer gehobenen Form der Sägearbeit. Außerdem wurde jeden Sonntag moderne Kunst in der Kestnergesellschaft beguckt. So würde nie ein richtiger Junge aus mir werden. Dafür entwickelte ich früh die, nun ja, richtigen Kriterien für Kunst. „Ähnlich“ muss sie nicht sein, teuer auch nicht, nur spannend. Schwer zu erklären. Die einen sehen es, die anderen sagen „das kann mein Kind auch.“ Ja, natürlich kann es das!

Als Frido im Kindergarten jetzt an die Staffelei durfte, tuschte er ein Bild, für das ich den einen oder anderen Miro und ein paar späte Picassos abhängen würde, hätte ich welche. Ein Tanz der Farben und Formen. „Fantastisch“, sagte ich. „Bo sagt, ein Spinnennetz sieht anders aus“, sagte Frido traurig. Da halfen keine Komplimente mehr, da halfen nur Ruhm und Ehre: Ich hängte das Werk über meinen Schreibtisch. Er strahlte. Ich könnte es natürlich rahmen lassen und am offenen Fenster daneben Kniebeugen machen, außerdem das Einparken üben und das Rauchen vollständig einstellen. Aber das mit dem Richtigmachen habe ich jetzt, glaube ich, wirklich hinter mir. Ab jetzt wird übergemalt!