Es ist eines der ganz großen Themen unserer Zeit. Die Onlinedienste von Spiegel, Focus, ZEIT, New York Times greifen es im Jahrestakt auf, das Fraunhofer-Institut hat ihm eine Testreihe gewidmet, im Internet finden sich mehrere hunderttausend Einträge dazu. Und ich dachte, ich hätte mal ein Mauerblümchen von Thema gefunden, ein Tomatenpflänzchen, besser gesagt. Es gibt ja Phänomene des Alltags, die jeder kennt, aber kaum einer bemerkt und aus denen ein aufmerksamer Zeitgenosse schon Muster einer Epoche herauslesen kann, ehe es zweihundert Jahre später ein Kulturhistoriker tut.
Offenbar wimmelt es aber von aufmerksamen Zeitgenossen. Zuerst fiel es dem Bordpersonal auf, dann auch den Fluggästen selbst, dass auf Flügen unverhältnismäßig große Mengen von Tomatensaft verzehrt werden. 1,6 Millionen Liter verabreicht etwa die Lufthansa jährlich ihren Passagieren. Sie trinken an Bord genauso viel Tomatensaft wie Bier. Von den 46 Millionen Litern Tomatensaft, die in Deutschland ingesamt in einem Jahr getrunken werden, entfallen bis zu fünf Prozent auf das in der Luft konsumierte Gemüseliquid, beim Orangensaft sind es nur 0,4 Prozent.
Ich genieße ihn oben auch, den dicken roten Saft mit Peffer und Salz, ein Zeug, das ich am Boden noch nie gekauft oder bestellt habe. Meine These dazu war bislang, dass es ein Ritual ist wie der Uso beim Griechen oder das Flaschenbier nach dem Rasenmähen oder der Stollen zu Weihnachten, es gibt ja unzählige historische Zusammenhänge zwischen Ritualen, Speisen und Getränken, von Osterlamm bis Weihnachtsgans, von Pessachbrot bis Abendmahlswein.
Der Tomatensaft aber verdankt nach jüngsten Forschungen seine Beliebtheit in zehn Kilometern Höhe dem Kabinenluftdruck. Im Originalrumpf eines A 310 wurden am Boden normaler Druck sowie der niedrige Druck simuliert, wie er beim Fliegen herrscht. Die Versuchspersonen fanden, dass „oben“ fast alles fade schmeckt. Der Tomatensaft indessen, der ihnen am Boden muffig vorkam, wurde in der Luft als angenehm fruchtig beschrieben. Kurz, er schmeckt erst dann gut, wenn man nicht mehr besonders gut schmecken kann, weil der Niedrigdruck die Rezeptionsfähigkeit einschränkt.
Und das soll es schon gewesen sein? Für mich bleiben drei Fragen offen. Erstens die nach dem rituellen Komplex, unter besonderer Berücksichtigung von Erdenferne und deren Kompensation durch muttermilchartig sämige Flüssigkeiten. Zweitens sollte man bedenken, dass früher ganze Lammkeulen serviert wurden, wo jetzt sich jetzt bestenfalls zwei Nudeln krümmen – hilft der dicke Saft beim Sättigen? Drittens: Warum konnte etwas so Unerhebliches wie Tomaten in der Luft ein derartig großes Thema werden? Vielleicht eben darum.
Endlich ein großes Thema, das konfliktfrei ist und in eine Hand passt. Darauf einen… hm. Haben wir nicht im Kühlschrank. Wäre doch mal eine Idee, als Mittel gegen Fernweh. Auch, wenn´s muffig schmeckt.
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