Dirigent! Was für ein Job!

So glamourös wie er war keiner. Zum 100. Geburtstag von Herbert von Karajan

Da hebt er ab, der Dirigent. Alpen, Schnee, Privatjet. Er startet hinein in klare Luft – und während er die Maschine steuert, konzentriert auf Armaturen und Gipfelketten blickend, vertieft das spätromantische Crescendo eines unsichtbaren Orchesters das Bild ins Zeitlose. »Dirigent! Was für ein Job!« So denkt man, unwillkürlich, so schön ist das Klischee inszeniert. Im neuesten Film über Herbert von Karajan, einer 92-minütigen Dokumentation, können wir Spätentdecker aus genüsslicher Distanz noch mal den Star besichtigen, den unsere Eltern bewunderten. Er ist wieder da – als Hype zum Hundertsten. Die Kulturkaufhäuser errichten ihm Altäre, in Büchern, Sendereihen, Feuilletons wird er neu entdeckt – und plötzlich auch von Leuten geschätzt, die ihn zu Lebzeiten als Medienphänomen abtaten oder nie auf dem Podium erlebten.

Da ist tatsächlich ein Musiker zu entdecken. So schlecht war er doch gar nicht, denkt man beim Hören zuerst und ist fasziniert von dieser einst überpräsenten und gleichzeitig merkwürdig fernen Gestalt. Karajan war immer ein »Begriff«. Im Hannover der sechziger Jahre wurde einer der letzten Polizisten, die den Verkehr von Hand dirigierten, der »Karajan vom Emmichplatz« genannt. Wie kam das? Und wie fügt es sich, dass er einerseits einen fantastischen Bruckner aufnimmt, riskant, gefährlich, körperhaft, und zeitgleich mit Eliette auf Salzburger Festspielfotos posiert wie der Schah von Persien? Es ist ein Herrscherpaar, das da 1965 vor der geöffneten Tür einer schweren Limousine steht, im Festspielornat, in den Gesichtern das feine kontrollierte Lächeln derer, die wissen, dass das Foto am nächsten Tag in den Zeitungen ist: der mächtigste Dirigent der Welt und seine Frau, verfügend über mehrere Häuser, zwölf Autos, Jacht und Jet, Picassos und Renoirs.

Nach seinem Tod dämmerte der Mythos vom Maestro

Man versteht den Neid, den Eckhard Henscheid noch 1978 fast verwundert diagnostizierte: »Zu beobachten ist der seltene Fall, wie einer, dessen Bild sich haarscharf mit der herrschenden Ideologie von Glanz und Erfolg und Karriere deckt, dennoch überwiegend der Mißgunst anheimfällt, weil man in ihm wenn nicht den Scharlatan, so doch den Hans im Glück unter seinesgleichen wittert, der davon auch noch gar zu viel Wesens macht.« Und Henscheid fragte: »Warum sucht das angebliche Masseninteresse an Kunst ausgerechnet einen Dirigenten aus, warum grad diesen?« Tatsächlich gab es ja genug andere Stardirigenten, die auch ohne Jet und Jacht noch mehr Spaß am Leben zu haben schienen als der ernste, jenseits des Podiums oft schüchterne Karajan. Aber es war eben keiner so mächtig, mit zeitweise drei Chefposten, omnipräsent auf dem Plattenmarkt.

Nach seinem Tod vor 19 Jahren verschwand er so schnell wie ein gestürzter Diktator, beigesetzt in einer Pyramide aus Tonträgern und Musikfilmen, kurz bevor in Berlin die Mauer fiel. Fast eine Art Lord Voldemort, den man erst mal besser nicht erwähnte. Danach entstanden Bücher und Artikel, denen man die Erleichterung schon in den Titeln anmerkt: Der Mythos vom Maestro (1991) von Norman Lebrecht oder Dirigentendämmerung? (1997) von Peter Gülke, der den Dirigenten Christoph von Dohnányi zitiert: »Es gibt heute eine größere Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester, und die macht es unmöglich, dass der Dirigent sich noch wie ein Star verhält. Wir erleben generell das Ende eines total patriarchalischen Systems.« Dieses System hatte Karajan nicht erfunden, aber er war sein Kind und seine Krönung. Zuerst hatten die Komponisten des 19. Jahrhunderts noch selber das Zusammenspiel der wachsenden Ensembles koordiniert, denen sie vorstanden, als einer der Ersten Carl Maria von Weber. Dessen Macht faszinierte schon das Kind Richard Wagner: »Nicht Kaiser und nicht König, aber so dastehen und dirigieren.« Wagner tat das dann auch, aber für die Uraufführung seines Tristan überließ er diese Macht einem jungen Bewunderer. Hans von Bülow probt 1865 den Tristan., während seine Frau Cosima ein Kind von Wagner zur Welt bringt. Die Entstehung des Berufsdirigenten fällt mit seiner Demütigung zusammen, und wie im Gegenzug wird von Bülow ein Orchesterleiter von ungeheurer Autorität, anspruchsvoll und launisch. Er schuf das Modell des »Neuschöpfers«, wie sein Bewunderer Arthur Nikisch ihn nannte.

Man könnte erwägen, ob Bülows Nachfolger über Nikisch und Furtwängler bis hin zu Karajan, eigenmächtige, virile Halbgötter am Pult der Berliner Philharmoniker, nicht alle ihren Ahnherrn rächten, indem ihre Namen auf den Plakaten immer größer wurden als die der Komponisten. Doch das liegt vor allem daran, dass das Publikum zunehmend verstorbenen Komponisten lauschte und weniger auf die Musik gespannt war als auf das, was der Dirigent daraus machen würde – mehr noch, wie er es machen würde. »Sag mir Bescheid«, soll eine Dame im Nikisch-Konzert vor hundert Jahren ihrer Begleiterin gesagt haben, »wenn er anfängt zu faszinieren.« Die Faszinationskraft ist fortan eine wesentliche Eigenschaft des Dirigenten. In Karajan muss sie sich potenziert haben. »Der brauchte nur die Nase rauszustrecken, da hat das Publikum geschrien«, sagt eine Sängerin.

Aber so einfach ist es mit Karajan nicht, er war ja nicht nur subjektiver Faszinator in deutscher Tradition. Schon 1929 hat er in Wien den Italiener Arturo Toscanini erlebt, »der umwerfende Eindruck meines Lebens«. Der Antipode Furtwänglers, Despot der Präzision, Gegner subjektiver Unberechenbarkeiten (und der Nazis), ist Vorbild für den Perfektionisten Karajan. Der erklärte später, er habe »eine Verbindung zwischen der Fantasie Furtwänglers und der Präzision Toscaninis« erreichen wollen. Unabhängig davon, wie weit er dabei eigenes Profil gewann, ist das nach 1945 vermutlich für sein Image gut: Dieser Dirigent ist nicht zu »deutsch«. Trotzdem wird er im Jargon des »Dritten Reichs« rezipiert: »Karajan«, schreibt ein Kritiker 1949, »ist bei aller Sachlichkeit ein Musiker von echter Besessenheit.« – »Fanatisch« setze er seine »präzise Werkvorstellung« durch, mit »straffer, beherrschter Führung«. Wäre der Text nicht in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen, man könnte meinen, mit diesem Feldherrn hofften die Deutschen doch noch einen Krieg zu gewinnen. Das Vokabular der Führerbewunderung begleitet ihn lange. »Ich habe ihm ins Gesicht sehen können«, schreibt 1938 der Kritiker der Berliner Zeitung am Mittag, als er das »Wunder Karajan« ausruft, »es war ein Gesicht, von dem der heilige Ernst für die Sache ausging, ein Gesicht, das äußerste Konzentration und besessenes Künstlertum ausdrückte.« Und 1957 liest man in der Welt: »Ich sah dem Mann in die hellen, klaren Augen, sah ein sehr ernstes Gesicht, erfüllt von unbedingter Lauterkeit der künstlerischen Gesinnung – und eben von der Bereitschaft zur Verantwortung.« Diskutiert wurde hier die Frage, ob ein Dirigent auf drei Gipfelposten zugleich ganze Arbeit leisten könne: als Chef der Wiener Staatsoper, der Salzburger Festspiele und der Berliner Philharmoniker.

Da hatte schon das Wirtschaftswunder Karajan begonnen, von dem Adorno 1968 sagt: »In Karajan setzt ein objektiver gesellschaftlicher Zwang bis ins innerste Gefädel der musikalischen Darbietung sich um. Er war der musikalische Genius des Wirtschaftswunders.« Es gibt aber eine Menge Aufnahmen, die bis ins innerste Gefädel sehr frei sind, unberechenbar und existenziell und mit teils extraterrestrischen Farbwirkungen wie eben Bruckners Neunte. Oder solche, wo man sich freut, dass Karajan mit weltumfassender, erleuchteter Naivität die Absichten der Komponisten hinter sich lässt wie in seinem 1956er Rosenkavalier. Über das Späte, sanft Rückblickende, Gebrochene dieser Musik sieht er hinweg. Am Schluss hört man kalt gleißende Weiten, in denen die Lebenden verschwinden, galaktisch, unmenschlich fast.

Karajan verband die Romantik mit dem Düsenantrieb

Einmal gestand auch Adorno, dass dieser Dirigent, wenn er wollte, nicht zu übertreffen war. Schönbergs Orchestervariationen seien »sinnvoll bis ins letzte Detail so durchgearbeitet und bewusst musiziert, dass Webern als Interpret sich nicht zu schämen gehabt hätte«. Das schrieb Adorno in seiner Musiksoziologie über einen »Matador«, er gab aber nicht zu, dass es Karajan war. Man würde es diesem Dirigenten ja auch durchaus zutrauen, dass er sich die Zweite Wiener Schule nur vornahm, um sie seinen schärfsten Kritikern wegzunehmen und zu beweisen, dass er alles konnte. Aber Weberns Passacaglia aus seinem eigenen Geburtsjahr 1908 dirigiert er wie die Filmmusik seines 20. Jahrhunderts, voller Extreme, verblüffend aufgewühlt. Karajan scheint sich selbst zu befragen in zerbrechlichen Passagen: Wer bin ich jetzt?

Er war offenbar mehrere. In denselben frühen siebziger Jahren entstanden Filme mit Beethovensinfonien, in denen sich Karajan so priesterlich inszeniert, dass er einem schon wieder leidtut. Die Tradition Bülows, der sein Orchester im Stehen und auswendig spielen und sich vorm Trauermarsch der Eroica schwarze Handschuhe auf einem Tablett bringen ließ, wird hier schauerlich vollendet. In der Siebten Sinfonie sitzen die Berliner Philharmoniker ohne Noten und Publikum auf schwarzen Podesten vor hellgrauem Hintergrund, angeordnet wie Kostbarkeiten im Schaufenster eines Juweliers, und in der Mitte scheint Karajan geschlossenen Auges den Genius Beethovens beschwören zu wollen, zeitenthoben, steril. Unterm Druck von Image und Markt wirkt er wie begraben, in einer Gruft die Hände hebend.

Das 19. Jahrhundert, in dem Karajan wurzelt und dessen Musik er hauptsächlich dirigierte, wirkt bei ihm wie ins 20. Jahrhundert hineinmodernisiert. Romantik mit Düsenantrieb, Magie mit Elektronik. Als Überflieger in jedem Sinne – bis hin zu den gewaltigen Spannungsbögen, für die ihn alle unisono loben – scheint er sein Jahrhundert überflogen zu haben wie in einer Art Paralleluniversum, das real war, solange er dirigierte. Er meinte es sicher auch ganz ernst, wenn er über die »klassisch-symphonische Musik« sagte, sie sei so erfolgreich, »weil sie ihre Zuhörer fast immer mit einem Ausblick ins Licht entlässt«. So schlicht wollte es sein Publikum haben, diese Haltung war es, die entscheidende Gegenbewegungen provozierte und noch immer die Wahrnehmung erschwert, dass er oft wagemutiger ist, als sein Ruf wollte.

Trotzdem hat beides miteinander zu tun. Es ist viel Naivität in Karajan – ein Kind. Man entdeckt es in seinen grotesken Vergleichen von Ferraris und Orchestern, in seiner Versessenheit auf immer neueste Technik, in seinem wütenden Trotz vom Wiener Opernstreit bis zum Zerwürfnis mit den Berliner Philharmonikern, seiner Nichtintellektualität, in seinem Wunsch, immer der Beste zu sein. Man entdeckt es aber auch da, wo er sich mit einer Abenteuerlust in die Partituren begibt wie in Realitäten, ohne Hintergedanken, ohne Fragen nach den Motiven der Autoren, nach Geschichte, nach Sprache. Fast unheimlich ist manchmal die Weltweite, ansteckend aber die Zuversicht. Als Pilot soll er nicht sehr gut gewesen sein, aber Christa Ludwig erinnert sich lachend: »Ich hatte das Gefühl, das Flugzeug kann gar nicht abstürzen. Da ist ja der Karajan drin.«

Ursprünglich veröffentlicht in der >Zeit< am 02.04.2008 in geringfügig kürzerer Version