Kunst im Klima der Zensur

Ungarns nationalistische Regierung duldet Hetze gegen Juden und Schwule und drangsaliert das Kulturleben.

Die alte gelbe Straßenbahn, die längs der Donau zum Zentrum rumpelt, ist zum Platzen voll. Nachts um elf drängen sich hier Musiker mit Instrumentenkästen und ihr Publikum. Gerade haben sie im Palast der Künste, einem gleißenden Bau im Süden von Budapest, Ungarns größten lebenden Komponisten gefeiert – in dessen Abwesenheit, denn der nun 85 Jahre alte György Kurtág verlässt sein Dorf in Frankreich nur noch selten. Sein Kollege Peter Eötvös hat Kurtágs Botschaften für Sopran und Ensemble dirigiert, längst ein Klassiker, und András Keller, Primarius des berühmten Keller Quartetts, hat an diesem Abend als Dirigent mit 100 Instrumentalisten die Stele von 1994 errichtet, eins der bedeutendsten Orchesterwerke der Gegenwart, in Ungarn noch nie gespielt. Ob man es hier bald wieder hören wird, ist fraglich.

Derzeit droht Kurtágs Trauermusik Stele zu einem Abgesang auf eine der reichsten kulturellen Szenen zu werden, die es in Europa gibt. Das Concerto Budapest, das sie aufführte, hat seinen Hauptsponsor verloren und hofft auf staatliche Hilfe. Die ist allerdings völlig unberechenbar. Gerade jetzt treffen rigide Kürzungen viele Musiker in Ungarn, auch die Theater und zahlreiche Filmemacher. Das hat zu tun mit den Sparauflagen der Europäischen Union, deren Ratsvorsitz seit Januar Ungarn innehat. Doch die Kürzungen vermischen sich auf schwer entwirrbare Weise mit der Politik einer konservativen bis nationalistischen Regierung , mit der Maßregelung des kritischen Filmregisseurs Béla Tarr , mit der unverhohlen politisch motivierten Verfolgung liberaler Philosophen als »Geldverschwender« und dem Hass, der einem der international renommiertesten ungarischen Musiker in seiner Heimat entgegenschlägt.

András Schiff , in Italien lebend, zählt zu den besten Pianisten der Welt. Schon als 14-Jährigen unterrichtete ihn Kurtág in Budapest, noch zu kommunistischer Zeit zog Schiff nach Italien. Von dort schrieb er im Dezember 2010 einen Leserbrief an die Washington Post gegen die Einschränkung der Pressefreiheit unter der neuen Regierung, gegen Antisemitismus und Nationalismus in seiner Heimat. »Die Leute haben Angst«, erklärte er. In der ungarischen Zeitung Magyar Hirlap hetzte daraufhin ein Parteigenosse des Regierungschefs Viktor Orbán, Zsolt Bayer, gegen die Kritiker der ungarischen Politik, wobei er jüdische Namen aufzählte. Als »stinkendes Exkrement« bezeichnete er Nick Cohen vom Guardian, es folgten die Namen Cohn-Bendit und Schiff und der Satz: »Leider ist es nicht gelungen, einen jeden bis zum Hals im Wald von Orgovány zu verscharren.«

Wobei jeder Ungar weiß, dass in diesem Wald 1919 mindestens 300 Linke und Juden von Offizieren des späteren »Reichsverwesers« Miklós Horthy gefoltert und getötet wurden. »Bayers Anspielung bedeutet, dass leider damals zu wenig Juden ermordet wurden, und jetzt haben wir also ihre Nachfolger am Hals«, sagt der ungarische Dirigent Ádám Fischer. Man stelle sich vor, ein Freund Angela Merkels hätte Vergleichbares in einer deutschen Zeitung veröffentlicht – falls sich eine Zeitung dafür überhaupt fände. Guttenbergs Doktorspiele wären drittrangig neben dem Sturm des Entsetzens und der Empörung, der dem folgen würde. Ungarn aber blieb still. Antisemit Bayer bekam für frühere Veröffentlichungen noch einen bedeutenden Literaturpreis. Auf eine Entschuldigung wartet der Pianist András Schiff, dessen Familie viele Angehörige in Auschwitz verloren hat, bis heute. Stattdessen hat ein ungarisches Gericht gerade in einem Urteil dem Nazifilm Jud Süß bescheinigt, »unideologisch« zu sein. Es ging dabei um die Frage, ob es erlaubt ist, den Propagandafilm ohne wissenschaftlichen Rahmen öffentlich vorzuführen.

Schiff will in Ungarn bis auf Weiteres nicht mehr auftreten. »Ein Auftritt dort könnte für mich sehr unangenehm werden, und ich möchte nicht mit Bodyguards herumgehen«, sagt er. Was im Ungarn der Regierung Orbán vorgeht, wird an den Musikern deswegen so deutlich, weil sie, einer Übersetzung nicht bedürfend, im Ausland besonders präsent sind und ziemlich zahlreich – dank einer Geniedichte, wie sie wohl kein anderes Land der Welt hat, an der Zahl seiner gerade mal zehn Millionen Bürger gemessen. Und weil jene Musiker nicht schweigen, die ihr Erfolg unabhängig macht. Gemeinsam mit András Schiff und weiteren Künstlern und Intellektuellen wie der Philosophin Ágnes Heller und dem Filmemacher Béla Tarr hat der Dirigent Ádám Fischer, in Reaktion auf den Hetzartikel, einen Aufruf an alle Künstler der EU unterzeichnet, sich »für die Bewahrung der moralischen Grundrechte Europas« einzusetzen. Man könne diese Aufgabe »nicht allein den Regierungen überlassen«. Dass der antisemitische Kommentator Bayer noch immer Mitglied der Regierungspartei ist, nennt Fischer – auch in ungarischen Zeitungen – einen Skandal.

In Deutschland kennt man Fischer seit seinen Jahren als Generalmusikdirektor in Mannheim und dem gefeierten Ring -Dirigat in Bayreuth 2001. Fischer war bis zum vorigen September Chefdirigent an der Oper Budapest. Die neue Regierung hat nicht ihn gefeuert, sondern seinen glücklosen Intendanten durch einen linientreuen Mann ersetzt, so wie sie das auch mit vielen anderen Chefs staatlicher Einrichtungen tat: öffentlich-rechtlichen Medien, Museen, Theatern, Forschungsinstituten… Fischer, dessen innovativer Kurs ohnehin nicht gut im Haus ankam, sah nun keine Chance mehr und nahm von selbst den Hut. Der Vertrag des künstlerischen Leiters und Regisseurs Balázs Kovalik wurde schon vorher auf Geheiß der Regierung nicht verlängert.

Dabei hatte der Stil, den Kovalik hier wagte, mit Regietheater wenig zu tun. Im Mefistofele von Arrigo Boito erlebt man zirzensische Ausstattung mit Gegenwartsrequisiten, Trockeneisnebel umwallt Tangatänzerinnen, Hubpodien sind im Dauereinsatz, die Figuren sind holzschnitthaft: Der Teufel hüllt sich unterm Gelächter etlicher Opernbesucher in eine Europafahne. »Modern, aber viel zu kostenaufwändig« findet der neue Intendant Ádám Horvath, der zuvor Sänger im Ensemble des Hauses war, diese Inszenierung. Näher ist ihm ein Regisseur wie Marco Arturo Marelli, »zeitgemäß, dabei sehr ästhetisch«. Und er freut sich auf Bildmagier Achim Freyer, der den Ring gestalten soll. Redet das Ministerium, das Horváth als Intendanten einsetzte, auch bei der künstlerischen Ausrichtung mit? »Keineswegs, wir sind unabhängig! Aber wir müssen uns an das Budget halten. Daher sollte die Regie zu 60 Prozent im Rahmen bleiben.« Den er sich »traditionell im guten Sinne« denkt.

Konservativ ist der offizielle Kulturbetrieb immer gewesen. Um György Ligeti, einen der Größten des Jahrhunderts, gähnte in Ungarn zeitlebens ein »schwarzes Loch«, sagt Komponist Peter Eötvös, dessen Musik überall, nur nicht in seiner Heimat gespielt wird. Die Regierung hat weder den Traditionalismus, den Nationalismus noch den Antisemitismus erfunden und auch nicht die Gepflogenheit, wichtige Posten mit eigenen Leuten zu besetzen. »Es ist eine paternalistische Gesellschaft, das wäre mit den Sozialisten auch nicht besser geworden. Aber sie waren ängstlicher«, meint Dirigent Ádám Fischer. »Das Problem am Kopf-durch-die-Wand-Stil von Orbán ist, dass die Leute es normal finden.« Normal, dass ein Gesetz mit Gummiparagrafen die Journalisten lähmt, normal, dass öffentlich Bedienstete ohne Angabe von Gründen entlassen werden können?

»Es droht die Gefahr, dass das Land in einer nationalistischen Diktatur versinkt«, erklärte kürzlich der Dirigent Iván Fischer der FAZ . Wie sein Bruder Ádám ist er auch im Westen tätig, aber anders als dieser hat er ein Orchester in Ungarn, mit dem er auch reist. Das Budapest Festival Orchestra ist der sinfonische Botschafter des Landes, es konzertiert von Los Angeles bis Tokyo. Nach Fischers Interview wurden 17,5 Prozent der staatlichen Subventionen, bis dahin knapp vier Millionen Euro, gestrichen. Eine politische Strafe? Das will der Dirigent »nicht für möglich halten«. Dass zugleich die Ungarische Nationalphilharmonie, auf globalem Parkett kaum präsent, nun das Doppelte von dem bekommt, was Fischer gestrichen wurde, freut ihn zwar, »denn alles, was für Musik ausgegeben wird, ist hochnotwendig in Ungarn«. Aber verstört ist er schon. Anfragen bei den Behörden blieben bis heute unbeantwortet.

Er will auch weiterhin kein Blatt vor den Mund nehmen. »Entweder ist in Ungarn Meinungsfreiheit oder nicht. Dazwischen gibt es keine Grauzone. Wenn es keine Meinungsfreiheit gibt, muss man sofort weggehen.« Er hat schon einen Koffer in Berlin, wo er ab Herbst das Konzerthausorchester leitet. In Budapest geht er einstweilen davon aus, dass er sich in einer europäischen Demokratie befindet. Wobei auch er zu bedenken gibt, wie anders diese Demokratie ist. Noch immer werde es von vielen als »nationale Wunde« empfunden, dass Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg große Territorien verlor. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine kommunistische Diktatur; der Holocaust, an dem auch Ungarn als Täter beteiligt waren, wurde »als rein deutsche Angelegenheit betrachtet« ( Imre Kertész ). Und in der Demokratie sahen nach 1989 viele eine »postkommunistische Nomenklatura« an der Macht, die das Land ebenso ausraubte wie Ganoven aus dem Westen. Und jetzt, im Europa der offenen Grenzen, sagt Iván Fischer, »ist es schwer mitzuziehen«. Leicht entwickele sich da eine Paranoia, die Tradition hat: »Die Welt ist gegen uns.«

Mit 53 Prozent der Stimmen eroberte die konservative Fidesz-Partei im vergangenen April zwei Drittel der Sitze im Parlament, die Rechtsextremen von der »Jobbik« kamen auf 17 Prozent, die Bevölkerung ist polarisiert. Auf der einen Seite Leute wie Fischer, die Ungarn »an die westliche Welt anschließen möchten«, auf der andern jene, die das »System der nationalen Einheit« wählten. Wer aber nun an der Donau die lastende Atmosphäre einer heraufdämmernden Diktatur erwartet, findet ein Budapest, neben dem Berlin fast ein bisschen depressiv wirkt. Nächtliche Gassen, in denen man sich nicht fürchten muss. Schräge Kneipen, in denen man selbstverständlich Englisch spricht. In Oper und Konzert ein höchst gemischtes, hochintelligentes Publikum, das Iván Fischers hellwache, neugierige Interpretation von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie enthusiastisch feiert.

»Budapest vibriert von Kultur, es ist ein Schatz von Europa, es könnte ein osteuropäisches Paris sein. Demgegenüber stehen Behörden, die das einfach nicht verstehen. Das war immer so«, sagt Fischer. »Jetzt kommt der Riesendruck dazu, den Europa ausübt, um zu sparen. Diese Kultur braucht einen Marshallplan, um gerettet zu werden. Das sage ich nicht ganz im Spaß.« Aber Hilfe, gar Nachhilfe von außen, gibt Peter Eötvös zu bedenken, hat einen sonderbaren Beigeschmack in einer Nation, die sich jahrhundertelang gegen übermächtige Herrscher definierte, gegen Tataren, Türken, Habsburger, Russen.

Gern wüsste man von Staatssekretär Géza Szöcs, zuständig für Kultur, was er von den Sorgen hält, die Ádám Fischer, András Schiff und die weiteren Unterzeichner des Aufrufs geäußert haben – gefolgt von Prominenten wie Elfriede Jelinek, Jürgen Habermas, Daniel Barenboim. Und ob der Zentralisierung des Filmbetriebs eine der Musik folgen soll. Und welche Ziele er für die Kultur verfolgt. Aber jede seiner drei Mailadressen scheint ein toter Briefkasten zu sein, während er Zeit findet, einen Filmregisseur zur Rede zu stellen. Béla Tarr, für The Turin Horse mit dem Großen Preis der Berlinale geehrt, hatte dem Tagesspiegel freimütig gesagt: »Die Regierung muss weg, nicht ich«, es gebe eine Zensur, und die staatlichen Förderzusagen seien »nur noch Klopapier«. Nach einem Telefonat mit Szöcz hat Tarr in Ungarn erklärt, er distanziere sich vom Interview, es beschmutze den Erfolg des Films. »Ich pflege auf diese Art weder zu kämpfen noch zu diskutieren.« Die Budapester Premiere des Films, für diesen Donnerstag geplant, wurde inzwischen abgesagt.

Vielleicht empfiehlt es sich dann, wieder »unter der Tischdecke« zu sprechen? »Das«, sagt Komponist Peter Eötvös, »haben wir schon in den 50ern gemacht, es entsteht automatisch, darin sind wir geübt, das ist die große Kunst des Landes.« Er lacht darüber wie über eine Familienmacke. Obwohl man Eötvös’ Musik hier nicht spielt, ist er aus Holland zurückgekehrt nach Budapest, weil er nach der Sprache hungerte, dem Theater. Es gibt hier 200 Theater. Einige stehen vor der Schließung, die anderen erhalten nach und nach neue, linientreue Chefs. Am schwersten unter Beschuss steht der Intendant des Nationaltheaters, Róbert Alföldi. Die Rechtsextremen werfen ihm im Parlament Homosexualität vor, vorm Theater demonstrieren sie gegen ihn. »Er ist wunderbar«, sagt Eötvös, »er macht Welttheater. Und er hat großen Publikumszuwachs, das schützt ihn.« Und die Medien ? »Sie sind vorsichtig…«

Vorsichtig sind hier viele, am schmerzlichsten hat das Pianist András Schiff gemerkt. Nach dem Angriff auf ihn habe in Ungarn »kein einziger Kollege laut gesagt, Moment mal, das geht zu weit. Sie sind still, weil sie Angst haben. Aber so viel Angst muss man nicht haben, es ist nicht so weit wie 1933. Schweigen ist Einverstandensein, oder?« Natürlich schweigt keiner der Budapester Musiker, die man direkt auf den Hetzartikel anspricht. »So was dürfte eine Zeitung nicht drucken«, sagt einer, versteht aber nicht, dass der Pianist sich in Budapest um seine Sicherheit sorgt: »Haben Sie hier so ein Gefühl des Antisemitismus? Im Alltag fühlen wir das nicht.« »Furchtbar« nennt ein anderer die Publikation, hält aber auch Schiffs Kritik für »unglücklich«. Und alle, die hier leben, möchten, sofern sie zitiert werden, ihre Aussagen vor dem Druck autorisieren, was nach deutschem Presserecht nur bei Wortlaut-Interviews üblich ist.

»Es kann für mich weitreichende Konsequenzen haben«, bittet ein Gesprächspartner um Verständnis für die Vorsicht. Dass man mit einer Aussage anecken kann, ohne berufliche Konsequenzen zu befürchten, denen man ausgeliefert ist – das kommt dem Besucher allmählich selbst schon vor wie ein Privileg und nicht wie europäische Normalität.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 14.03.2011