Allein mit seinem Willen

Fünfzig Jahre nach Wilhelm Furtwänglers Tod steht der Nachruhm des Dirigenten und Komponisten in voller Blüte. Aber was hat er uns musikalisch noch zu sagen?

Siebzig Tage hatte in Berlin der Frost gedauert, und jetzt, am 24. März 1942, waren die Leute erkältet und husteten. Auch bei Beethovens Neunter.

Schlimmerer Konzerthusten als an diesem Abend ist wohl nie mitgeschnitten worden – aber auch keine aufregendere Interpretation der Neunten. Wilhelm Furtwängler dirigierte die Berliner Philharmoniker. Der erste Satz war eine Katastrophe. Im größeren Sinn. Da wühlen und reißen Temposchwankungen Schluchten in die Musik, dann werden die Sechzehntel der Bässe in ruppigstem Spiel in die Schlacht geschickt, und die Reprise klingt wie im Krieg, weil Furtwängler das Paukentremolo lauter als fortissimo spielen lässt und mit eigens hinzugefügten scharfen Auftakten der Pauke das Getöse so anschärft, dass die Musik sich selbst vernichtet. Schön ist das nicht. Aber existenziell.

Wir hören natürlich einiges hinein in dieses historische Tondokument, aber wie sollten wir nicht? Im selben Monat würde Lübeck als erste deutsche Stadt in einem Flächenbombardement brennen, im selben Jahr würden 146 000 deutsche Soldaten in Stalingrad umkommen. Im eroberten Polen hatte die millionenfache Ermordung der europäischen Juden begonnen. Geplant von jenen Machthabern, denen Furtwängler die Hand reichte, während er versuchte, jüdische Musiker zu schützen. Wer jetzt, fünfzig Jahre nach dem Tod des Dirigenten, seine Aufnahmen hört, kommt selten umhin, das Dritte Reich mitzuhören. Den einen erscheint Furtwängler dabei als Lichtgestalt im Dunkeln, den andern als Marionette von Mördern – in jedem Fall aber ist da die Faszination, die sich bei enormer Nähe von Kunst und Geschichte einstellt – eine Nähe, die Furtwängler nicht wahrhaben mochte. Kein Podiumskünstler hat sich je entrückter und zeitenthobener gesehen.

In Hals und Haltung einem Marabu ähnlich. Dann gibt er einen unspielbaren Einsatz

Vielleicht nährt auch diese Mischung von Verstrickung und Entrückung, gesteigert im Medium knisternder alter Tondokumente, eine Aura, die sich um Furtwängler eher zu verdichten als zu lichten scheint, je historischer er wird. Kein anderer Maestro jener Zeit ist auf dem Plattenmarkt so präsent wie der 1886 geborene Archäologensohn. Mit 320 CD-Eintragungen im Internet-Handel liegt er sogar vor Arturo Toscanini (215). Auch wer Furtwängler nur am Rande wahrnimmt, ihn nicht erleben durfte oder in bildungsbürgerlicher Ehrfurcht vor seinem Erbe aufwachsen musste, vernimmt doch in der Nähe dieses Namens stets ein Raunen, sieht Nebel wallen, überaus deutsche, und mag sich fragen: Was hat er nur? Was hat er uns musikalisch zu sagen? Ist seine Präsenz, seine diffuse Dominanz angemessen inmitten all der wunderbaren toten und lebenden Musiker, die wir außerdem hören können?

Ist er gar für sein Repertoire, das klassische und romantische, der schlechthin größte Interpret des Jahrhunderts, wie sein beredtster Bewunderer, Joachim Kaiser, schreibt? Nun hat der allerdings den Meister noch selbst erlebt. Wer ohne diesen Hintergrund Probebohrungen im Plattenberg vornimmt, ist keineswegs immer so beeindruckt wie bei der existenziellen Neunten aus Berlin. Vom selben Werk gibt es eine als epochal gehandelte Aufnahme, die 1951 in Bayreuth entstand und mit einem schrecklich zähen ersten Satz beginnt. Da wirken die unablässigen Rubati ebenso lähmend wie die schweren Betonungen, die der 65-Jährige den Bass-Sechzehnteln aufdrückt, ohne Dringlichkeit zu erreichen. In Bruckners Siebter aus demselben Jahr wird der Choral im Finale durch extreme Verlangsamung derartig entrückt, dass es manchen wohl Schauer verursachen mag, aber ebenso auch plakativ anmuten und unberührt lassen kann. Bruckner jedenfalls sah die Verlangsamung nicht vor.

Ja, wenden nun gern die Interpretationshistoriker ein, so dürfe man aber nicht argumentieren, denn Furtwängler stehe nun einmal, wenn auch reichlich spät, in der auf Wagner zurückgehenden Tradition der Espressivo-Interpretation und sei als deren letzter Exponent eben nicht an den Kriterien der neusachlichen (Toscanini) oder gar historisierenden (Norrington) zu messen. Aber eher kommt es wohl auf die Spannung von Fall zu Fall an, und ganz sicher liegt es nicht nur an historischer Distanz, wenn einen dieser Bruckner ermüdet. Nur wenige Jahre später nahm beispielsweise Franz Konwitschny die Siebte mit dem Gewandhausorchester auf, so unmittelbar ihre Stimmen lebendig machend und rubatofrei solche Spannung erzeugend, dass man auch heute umfangendes Glück erlebt, wo bei Furtwängler alles nach Mahnung klingt.

Indessen kann er auch erstaunlich griffig sein wie in einer der frühesten Aufnahmen. Der erste Satz aus Beethovens Fünfter ist 1926 von schwebender Kompaktheit, kein bisschen raunend und pathetisch und zerdehnt. Das Tempo schwankt hinter den Noten auf so feine, unberechenbare, einleuchtende Weise, dass in dieser Musik etwas zu fließen scheint so wie die Hirnströme beim Komponieren. Kurt Sanderling, der jetzt 92-jährige Dirigent, hat in den zwanziger Jahren in Furtwänglers Berliner Konzerten eine Eigenschaft erlebt, die er in dieser Vollendung bei keinem andern angetroffen habe: das Gefühl, der Geburt des Werkes beizuwohnen. Aber er sagt auch: Wenn man es Jahrzehnte später auf Platten hörte, war alles vorbei. Nicht das Geringste mehr. Sanderling ist aber sicher, dass ihn damals nicht nur die Optik beeindruckt haben kann. Wobei die, wie Filmaufnahmen zeigen, jedenfalls unverwechselbar war.

Zuerst breitet Furtwängler, durch Hals und Haltung einem Marabu ähnelnd, die Arme aus, halb wie gekreuzigt, halb wie im Abflug, dann gibt er mit flatternd herabfallenden Armen einen völlig unspielbaren Einsatz, den das Orchester aber doch einigermaßen erwischt, schließlich schlägt die Rechte den Takt, während die Linke in der Luft mit nervösen kleinen Fingerbewegungen an einer unsichtbaren Substanz herumzukneten scheint. Die ersten Forteschläge in Schuberts Unvollendeter treffen den Dirigenten wie Schüsse von hinten, und das Zucken seiner langen Gliedmaßen lässt ihn sekundenlang wie eine Marionette aussehen – er sah sich auch gern als Medium. Wenn ihm aber etwas missfällt, unterbricht er die Probe, jäh zusammensinkend, und guckt neben seinem Pult zu Boden, als hätte da jemand einen toten Hund hingelegt. Allein an seinen Bewegungen kann es nicht unbedingt liegen, dass man ihn so verehrte.

Doch sie vermitteln durchaus sein Interesse an jenem Dahinter der Musik, zu dem er wie kein anderer Zugang gehabt haben soll. Viel davon ist zu spüren im Liebestod einer Gesamtaufnahme von Tristan und Isolde, die 1952 für die Electrola entstand. In einem Tempo, wie es langsamer nicht denkbar ist, nimmt Kirsten Flagstad Abschied, und es entsteht da hinter ihr ein Licht, als hebe sich Atlantis wieder aus den Fluten, eine nie zerstörte Welt, mit der das 19.

Jahrhundert vielleicht noch verbunden war – und dann geht es weiter in die Fluten selbst, in zusammenfassender Gelassenheit. Dominante und Tonika wogen groß und dunkel und schwer, ein menschenferner Puls, eine Welt vor den Menschen, wobei die Musik in einem Maße sich entmusikalisiert und Realität wird, dass man sich kaum entziehen kann. Es ist etwas Grauenhaftes darin, aber auch ein Trost, weil man es überhaupt gesehen hat.

Da versteht man dann doch, warum Furtwängler sich zum bewusst und eigentlich Anti-Historischen bekannte, und auch, warum er als Komponist mit solcher Energie in ein idealisiertes 19. Jahrhundert zurückdrängte und 1944 seine Zweite Sinfonie so schrieb, als sei die Fortexistenz einer Welt vor den Kriegen zu beweisen. Dass diese Musik eine Behauptung bleibt, dass da breite, glänzende Brucknertreppen sich bald unter Moos und Farn verlieren und das Panaroma jenseits der letzten Stufen nur an eine Wand gemalt ist, nimmt ihr doch nicht ihren Sinn. Andererseits erlebt man im 80 Minuten langen Klavierquintett die Ausweglosigkeit gewaltiger Anläufe auch als bedrückend.

Der Komponist brauchte 23 Jahre, von 1912 bis 1935, um aus diesem Werk herauszukommen. Es bildet sich da ein Vakuum um einen, der ganz mit seinem Willen allein ist, nichts offen lässt, der keinen Kontakt aufnimmt.

Von einsamer Warte blickt er hinab auf die Menschen – am liebsten in vollen Sälen

Wenig anfangen konnte dieser Musiker jedenfalls mit der Unmittelbarkeit menschlicher Gefühle, wie sie in Tschaikowskys Pathétique leben. Toscanini, Furtwänglers großer Rivale bis heute, hat 1938 eine glühende, fokussierte, zum Anfassen intensive Einspielung davon gemacht, neben der Furtwänglers Aufnahme aus demselben Jahr dräut und lastet, aber nicht fesselt. Seine auf den Italiener gemünzte Kritik an punktierenden Dirigenten, deren Endzweck nur präzises Zusammenspiel sei, geht hier nach hinten los. Nicht jeder verwackelte Einsatz ist kunstmoralisch legitimierbar. Auch den fast ironisch funkelnden Metamorphosen von Paul Hindemith tut Furtwänglers Unschärfe diesseits der letzten Dinge nicht gut. Die Berliner Philharmoniker spielen da schlampig wie ein mittelmäßiges Filmorchester, und dass sie es weit besser konnten, hört man, wenn Hindemith selbst mit ihnen dasselbe Stück realisiert.

Je heftiger man sich mit Furtwängler befasst, desto gespaltener wird einem zumute. Seine stärksten Aufnahmen bewegen den Hörer zur Hingabe, aber dem Musiker selbst mag man nicht immer trauen. Es ist etwas Bevormundendes in dieser einheitlichen Fühlweise, die er für sich beansprucht, an der manche Stücke wachsen, andere scheitern, wieder andere einander ähnlich werden.

Zugleich ahnt man, dass die unglaubliche Kraft der Suggestion beim Zusammenfassen, die ihm bei aller Skepsis auch sein Kollege Michael Gielen zugesteht, in der Flucht vor einer eigenen Spaltung entstanden sein könnte – nicht nur der in einen Dirigenten und Komponisten, auch der zwischen zwei Epochen, der Spaltung in einen, der bestimmen und einen, der zerfließen will.

Einer, der von einsamer Warte auf die Menschen herabblickt, aber am liebsten in vollen Sälen. Einer, der im Stehen flüchtet.

Und so flüchtet er an jenem Dienstagabend in Berlin auch aus dem Dritten Reich. Im Chorfinale verstummen die letzten Huster, so drastisch krachen die Gegensätze, so urtierhaft sprechen die tiefen Streicher ihr Rezitativ, so unendlich lang, ja gierig ist die Fermate auf Gott. Das allerletzte Presto hatte Beethoven mit beschwingten 132 halben Noten pro Minute veranschlagt, Furtwängler genügt das nicht mehr. Ausnahmsweise bleibt er nicht unter den Metronomangaben des Komponisten, sondern dreht auf bis 168, der Chor kann diesen Kuß der ganzen Welt nur noch wie einen Rap stammeln, und bis zum letzten Götterfunken ist das Stück nicht überm Sternenzelt angekommen, sondern aus der Kurve geraten und verbrannt. In seinen stärksten Stunden lässt Furtwängler Musik zu Realität werden. Oder an ihr zerbrechen. 1945 war Berlin zerstört, und das Magnetband mit der Neunten nahmen die Russen mit.

The Fascination of Furtwängler (Deutsche Grammophon, 2 CDs) Furtwängler Maestro Classico Vol. 1-3, je 10 CDs (History) Wagner: Tristan und Isolde, Philharmonia Orchestra London (EMI) Furtwängler: Sinfonien Nr. 1-3, Staatskapelle Weimar, G.A. Albrecht (Arte Nova) – Sinfonie Nr.2 Chicago Symphony Orchestra, Barenboim (Teldec) – Furtwängler: Klavierquintett, Clarens Quintett (tacet)

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 25.11.2004