Der große Andere

Früher wurde das Zerrissene in Mahlers Sinfonik gerühmt. Heute kehren die Musiker das Intakte der Riesenformen hervor.

Das Schiff schiebt sich in den Morgendunst über der Lagune. »Pianissimo mit Empfindung« schreibt der Komponist in Takt 24 vor, die Geigen steuern auf ihren vorerst höchsten Ton zu. Fünf Takte weiter hat der Dampfer mit rauchendem Schlot die Bildmitte erreicht, beim Fortissimo ist er ganz nah, und dann kommt Gustav von Aschenbach vor die Kamera. Vom Deckstuhl aus über die Lagune blickend und schon seinen Tod in Venedig ahnend, grundiert vom Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Lucino Viscontis Film kam 1971 ins Kino und war das sichtbarste Zeichen des fulminantesten Comebacks der Musikgeschichte: dem des Komponisten Gustav Mahler. Noch zehn, elf Jahre zuvor war Mahler, den Visconti hier, frei nach Thomas Mann, als homosexuellen Aschenbach zeigte, besonders in Deutschland ein Außenseiter gewesen, von dem die meisten höchstens wussten, dass er um 1900 berühmt gewesen war und groß besetzte Sinfonien geschrieben hatte.

Heute ist Mahler geradezu erschlagend präsent. Seine Werke sind Saalfüller ersten Ranges. Der Stapel an Schallplatten und CDs wächst und wächst, es sind über 2000 Aufnahmen. Es gibt wahrscheinlich mehr Bücher über Mahler als über dessen Liebling Mozart. Die Zahl der Einzelstudien lag 1987 bei 2500, seither haben die Wissenschaftler das Zählen aufgegeben. Das könne »von keinem Einzelnen mehr überschaut werden«, konstatiert Bernd Sponheuer, Mitherausgeber der neuesten gewichtigen Publikation, des Mahler-Handbuchs , in dem 80 Seiten allein der Rezeption gelten, einschließlich »Mahler im Film«. Nachdem es unter Musikologen jahrzehntelang zum guten Ton gehörte, Visconti schlecht zu finden, wird er nun »historisch ernst genommen«.

Was ist los mit uns und diesem Musiker? Für die Generation, die heute einen großen Teil des Klassikpublikums ausmacht, geboren mit dem beginnenden Mahler-Boom um 1960, hatte er noch den Reiz des großen Anderen. Wir entdeckten ihn im Kino, oder weil es bei Zweitausendeins diese günstige Kassette mit Leonard Bernsteins Gesamteinspielung gab, der ersten überhaupt, mit Granitmuster als Dekor und einem flammenden Lennie, der ein Bruder von Gustav zu sein schien. Was für ein Leben, was für eine Musik! Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht, hatte nur 50 Jahre gelebt, war zum dirigierenden Weltstar aufgestiegen, hatte die schönste Frau von Wien erobert und in (fast) zehn Sinfonien einen Kosmos geschaffen. Er hatte Abgründe in Leben und Liebe durchlitten und sah mit seinem Adlerkopf unzweifelhaft genial aus. Und dass seine erste Sinfonie Der Titan hieß, war Anlass genug, ihn selbst für titanisch zu halten. Einsame Jünglinge auf der Suche nach sich selbst liebten ihn als Verbündeten, als heldenhaften Individualisten und waren eifersüchtig auf andere Fans.

Von den Diskursen, die Mahlers Renaissance begleitet hatten, wussten wir nichts oder wenig. Als der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus 1972 in der ZEIT über die »rätselhafte Popularität« des Komponisten nachdachte, schrieb er, »auf vertrackte Weise« werde von Mahler »ein Stück musikalische Gegenwart vorweggenommen«, andererseits müsse sich der Hörer nicht »allzu abrupt« von »musikalischen Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts trennen«. Die »Personalisierung« der Musik in Viscontis Film verurteilte er scharf als »Rückfall in veraltete Auffassungsformen«. Es handele sich um »absolute Musik«, Pierre Boulez, der Komponist, bedeutende Mahler-Dirigent und einstige Chefinquisitor der Serialisten erinnert sich heute, Avantgardisten wie er hätten Mahler »unter die Ladenhüter einer überholten Romantik eingereiht«, »verfettet und degeneriert«, reif für den »Schlaganfall durch expressiven Überdruck«.

Aber zusehends setzte sich eine Perspektive durch, die Theodor W. Adorno schon 1960 in seinem epochalen Essay Mahler – eine musikalische Physiognomik aufgerissen hatte. Gleich anfangs sieht man da den Vorhang, hinter dem die Apokalypse wartet: Der Anfang der Ersten reiche hinauf »bis zum höchsten a, einem unangenehm pfeifenden Laut, wie ihn altmodische Dampfmaschinen ausstießen. Gleich einem dünnen Vorhang hängt er vom Himmel herunter, verschlissen dicht; so schmerzt eine hellgraue Wolkendecke in empfindlichen Augen.« Wer das erst 1980 und jenseits der Diskurse las, empfand nicht unbedingt einen Widerspruch zu jenem feinen Dunst, in dem Viscontis Dampfboot das Adagietto der Lagune durchquerte… Adorno stellte »das Gebrochene« als wesentliche und neue Qualität heraus, das Auflösen alter Formen zugunsten einer romanartigen Sinfonik, die Verbindung trivialer Idiome mit höchster Komplexität, die Vorahnung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

Mit ihm entdeckten wir bei Mahler ein anderes, gegenwärtigeres, langes 19. Jahrhundert. Seiner Musik merkte man, anders als der von Brahms und Bruckner, die Eisenbahnschienen und Telegrafendrähte an, die jene Zeit durchschnitten, die Spannung – und den verzweifelten Traum von einer Mitte. Mit dieser Zerrissenheit konnte sich eine Generation identifizieren, die in Wohlstand aufwuchs und von Atomraketen albträumte. Zumal Mahlers Musik noch (grenzerweiternd) einer in Jahrhunderten gewachsenen tonalen Harmonik folgte. Man »verstand« sie und fühlte sich verstanden. Das vermeintlich Vertraute begünstigte freilich Mahlers Weg in die Routine des Konzertbetriebs. 1989 beobachtete Eckhard Henscheid entsetzt die »gemütlichen Frankfurter Kulturomas, die unverwelkt ewigen höheren Töchter und Kulturschnallen und vom Samstagabend noch nicht ganz regenerierten Abteilungsleiter«, an denen der »tief metaphysische Grauensspuk« der Neunten einfach abperle.

Während Mahler mehrheitsfähig wurde, teilten sich die Lager der Deuter: Die einen bestanden auf dem »negativen Mahler«, die anderen rühmten seine Emotionalität. Der Komponist Dieter Schnebel hatte 1985 den »Kult des Negativen« satt und suchte »das Schöne an Mahler«. Damit blieb er nicht allein. Heute kehren viele Musiker in Mahlers Werken eher das intakte Ganze hervor. Simon Rattles Interpretation der Fünften mit den Berliner Philharmonikern etwa ist sensibel und technisch perfekt, ein Spaziergang in gut erschlossener Bergwelt. Größer als zu einer der frühesten Aufnahme dieser Sinfonie könnte der Kontrast nicht sein: Hermann Scherchen dirigiert 1953 den zweiten Satz nicht nur, wie verlangt, »stürmisch, mit größter Vehemenz«. Er treibt das Orchester der Wiener Staatsoper in eine Welt der Entsetzensschreie. Diese Ausdrucksenergie ist nicht mehr musikalisch, sondern existenziell – wobei die ohnehin unkulinarisch hackenden Trompeten in der frühen Mono-Aufnahmetechnik noch härter und greller klingen.

Je vertrauter und historischer Mahler wird, desto mehr tritt seine Fähigkeit ins Bewusstsein, das Disparate, Auseinanderstrebende und Fragmentarische ein letztes Mal zur großen Form zusammenzuzwingen. Damit bietet er auch eine Antwort auf unsere zunehmend fragmentierte Wahrnehmung der Welt. Der Komponist und Theoretiker Berthold Tuercke hat Mahler mit den Internetnutzern verglichen und der »schier unendlichen Verfügbarkeit von Partikularem«, dem sie sich gegenübersehen. Während der Internetnutzer schon mit der Verfügbarkeit zufrieden sei, versuche Mahler, das Zerstückte »zur Form zu krümmen«, einen »qualitativen Sprung« vor Augen. Es gibt zwar keinen großen Komponisten, der nicht diesen Sprung tut, aber keine andere Musik, bei der auch die Anstrengung spürbar wird. Vielleicht fühlen wir unsere Sehnsucht nach Sinn darum gerade bei Mahler real gestillt. Nicht nur Aufführungen der erlösungswilligen Achten haben immer wieder Ereignischarakter. Und vielleicht ist es auch der Abschied vom Dogma einer rein auf sich bezogenen »absoluten Musik«, den wir hier genießen.

Michael Gielen, der Adornos Ideologiekritik an der Achten in sich »aufgesogen« hatte, bewunderte später, wie hier »Theologie in Sinnlichkeit umgesetzt wird; dass es sinnlich erfahrbare Schönheit ist«. Den Körper des Klangs als unmittelbares Ereignis realisierte etwa Daniel Barenboim, als er vor drei Jahren bei einem Zyklus mit der Staatskapelle Berlin in der Ersten einen mitreißenden Mahler enthüllte, der Adorno ausklammert. Risse, Affekte, Konflikte brachte er ganz direkt, naiv, ohne den doppelten Boden von Authentizität und Zitathaftigkeit zum Vorschein, man könnte fast sagen: als Musiker. »Die Symphonie ist fasslicher, als man beim Lesen der tiefsinnigen deutschen Kommentare vermuten könnte«, schrieb ein holländischer Kritiker. Allerdings schon 1903 und über die Dritte. Da hatte er in Krefeld gerade die Uraufführung mit dem Komponisten am Pult erlebt.

Viele Rezensionen von damals sprechen gegen den gut besuchten Gemeinplatz, dass Mahler so richtig erst von 1960 an in seiner Bedeutung erkannt worden sei. Zur letzten Uraufführung, die er selbst dirigierte, zur 8. Sinfonie in München, kamen Tausende von Zuhörern und Prominenz von Clémenceau bis Thomas Mann. Weder Bruckner noch Debussy wurden bis 1930 so häufig aufgeführt. Erfolgreicher war von seinen Zeitgenossen wohl nur Richard Strauss, folgenreicher nicht: Schönberg, Berg, Webern sind ohne Mahler nicht denkbar. Doch schon zu seinen Lebzeiten gewannen die Antisemiten an Einfluss, die in ihm den Juden verfolgten. Der nationalsozialistische Kritiker Fritz Stege beschwerte sich noch 1930 über die »in Berlin herrschende Mahler-Seuche«, aber von dieser Zeit an wurde Mahler in Deutschland so wenig gespielt, dass er von den Nazis gar nicht erst auf die Verbotsliste gesetzt werden musste.

In Deutschland hielt das Schweigen nach 1945 mit Ausnahmen an. Noch 1960 sah Adorno den Komponisten vom »Hass« einer Mehrheit geadelt, wie man ihn in Konzertführern jener Zeit nachlesen kann: »Da prallt Erhabenes auf Triviales, Gefühltes verdorrt in Konstruiertem«, die »Tragik zwischen Gewolltem und Erschaffenem« durchziehe das Werk einer »gespaltenen Natur«. Das waren Formulierungen aus dem Wörterbuch der antisemitischen Rezeption, von deren Protagonisten viele in der Bundesrepublik ihre Arbeit fortsetzten. Der Mahler-Boom der Sechziger war auch ein Reimport aus den USA: Während des »Dritten Reichs« fanden dort weit über hundert Mahler-Konzerte statt. Und in Holland, wo Mahlers Freund Willem Mengelberg an die 400 Konzerte mit den Sinfonien leitete, ist diese Tradition nie abgerissen. Doch nach dem Verdrängen in Deutschland ist seine Musik weltweit erst recht explodiert, mit bis heute anhaltender Energie.

Das berühmte Adagietto übrigens hat der Dirigent Mengelberg in Amsterdam einst mit dem Komponisten selbst erarbeitet. In der Partitur steht, was Mahler zu den Tönen dachte: »Wie ich dich liebe, du meine Sonne…« Das Adagietto hat er für Alma geschrieben. Der Tonsetzer wollte es so, man kann es auf einer historischen Mengelberg-Aufnahme nachhören: Schnelles Tempo, aber die Geigen schluchzen Glissandi, dass es nur so trieft. Dagegen ist Visconti schon Askese. So etwas geht heute gar nicht mehr. So war es aber einmal, und dass es so und so stimmt, ist typisch für alle Komponisten, mit denen die Welt in einem Jahrhundert nicht fertig wird.

Ursprünglich veröffentlicht in der Zeit am 07.07.2010