Kategorie-Archiv: Kolumne

Duo für Klavier und Laufstall

Paul hasst das Gehege, aber manchmal geht es nicht anders. Angeblich ist der Laufstall ja sogar rehabilitiert und gilt nicht mehr als Foltergerät der schwarzen Pädagogik. Länger als fünf Minuten können wir ihn sowieso nicht drin lassen. Er setzt seine tragende Stimme so ein, als sollten die Nachbarn denken, bei uns gehe es zu wie in einem rumänischen Waisenhaus. Sähen sie Pauls Gesicht bei seinem Gebrüll, wüssten sie, dass es ihm blendend geht. So fordernd sind nur selbstbewusste Menschen. Die Stirn gefurcht wie ein grimmer Zeus, die Augen schleudern Blitze, zwischen den Fingern drohen die hölzernen Gitterstäbe zu brechen, naja, leicht übertrieben, aber er ist kräftig für seine neun Monate.

Nur einer kann Pauls Gebrüll in heiteres Gelächter verwandeln, ohne ihn aus dem Laufstall zu heben, und das ist Frido. Er klettert rein. Er spielt nämlich gern mal Baby, was ein ganz guter Trick ist, mit der Eifersucht umzugehen. So schnell verschwindet die nicht. Als Paul gerade angekommen war, schlug Frido schon vor, ihn in Wuppertal abzugeben. Es ist für einen praktisch allein herrschenden Prinzen ein schwerer Schlag, wenn die Huldigungen der Besucher zuerst dem Baby gelten und die Eltern auf unartikuliertes Gebrüll schneller reagieren als auf einen in klaren Worten vorgetragenen Befehl. Aber allmählich wird der Eindringling interessant. Man kann mit ihm spielen.

Und vor allem bewundert er den großen Bruder. Wenn beide zusammen im Gehege stehen, strahlt Paul so breit wie ein Fan, dessen Star sich bereit erklärt hat für ein gemeinsames Foto, und Frido lächelt fast verlegen. Wenn sie in der Wohnung unterwegs sind, krabbelt Paul ihm hinterher, so schnell er kann, am liebsten zum Flügel. Dort setzt sich Frido auf den Hocker und meißelt Cluster in die Tasten, Paul hockt unter dem schwarzen Monster, kreischt vor Vergnügen und drischt mit einem Kochlöffel auf den Boden. Für die Nachbarn muss es klingen wie eine Kreuzung aus John Cage und Wackener Schlammschlacht. Sie haben uns aber versichert, ihnen mache das nichts aus, nur weiter so.

Immerhin signalisiert uns das Getöse, dass nebenan alles okay ist. Erst wenn sie still sind, muss man nachsehen und stellt fest, dass Frido seinen Bruder gerade frei aufzustellen versucht, damit er gehen lernt. Oder dass er ihm interessiert dabei zusieht, wie er Bücher aus den Regalen räumt und die Zeitungen zerfetzt, die ich mir zum Lesen aufgehoben habe. Nur ein Raum rangiert an Attraktivität noch über dem Klavierzimmer, und das ist der, in den sie fast nie hineindürfen. In meinem Zimmer liegen so viele Zettel auf dem Boden in fragilen Ordnungen, dass ich selbst nur mit behutsamen Schritten darüber hinwegsteigen kann.

Aber Paul wird immer schneller, und Frido weiß längst, wie man meinen Computer ausschaltet. Ich sehe den Tag kommen, an dem ich mit Laptop und Zetteln am einzig sicheren Platz der Wohnung sitze. Im Laufstall.

Wenn Bach in der Kirche stört

Eine Freundin von mir orgelt ab und zu in Gottesdiensten. Neulich kam etwas Neues dazu: In der Kirche wurde meditiert, ob sie die passende Musik machen könne? Sie versuchte es mit Bach, aber das passte nicht. Mental viel zu anstrengend, dabei komme man nicht zur Einkehr und Ruhe. Man werde nächstes Mal CDs nehmen. Es gibt genug von diesen Wellness-Kompilationen. Eso-Geklingel, weichgekochte Gregorianik, flauschige Pentatonik, was man halt so zur Massage braucht. Jetzt also auch in Kirchen, sie versuchen ja alles. Ich kriege davon nicht so viel mit, ich bin kein Kirchgänger.

Allerdings spiele ich oft Sakralmusik, in Kirchen wie in Konzertsälen, und bin vollkommen überzeugt von ihrer Größe, egal, ob es katholische oder protestantische, lateinische, italienische, deutsche Texte sind. Monteverdi und Verdi, Buxtehude und Bach, Mozart und Beethoven – der Wahnsinn! Natürlich werden die Werke nicht geändert. Egal ob es lateinische Messtexte oder rankenreiche deutsche Barockdichtungen sind, gespielt wird, wie es da steht, und bis jetzt hat noch kein Zuhörer erklärt, er habe als Mensch der Gegenwart „ganz andere Bedürfnisse“ und suche nach „neuen Ausdrucksformen“.

Diese Begriffe fand ich jetzt in einem Gemeindebrief. Der Pastor erzählte von seinen Erfahrungen mit Konfirmanden. Sie wünschten sich, „dass unsere Gottesdienste lebendig, verständlich, unterhaltsam und abwechslungsreich“ sind. Wenn ich ab und zu doch mal in einen Gottesdienst gerate, merke ich, dass diese flockigen Kriterien längst die erstaunlichsten Verrenkungen hervorbringen, kuriose Mischungen aus Exegese und Leitartikel, eilfertiges Aufgreifen gerade geläufiger Reizthemen, zwischendurch neue Kirchenlieder irgendwo zwischen Gospel und Kitsch mit handgesägten Reimen.

Im venezianischen San Marco, wo im 17. Jahrhundert ein ungeheurer Schatz von Kirchenmusik entstand, hörte ich fromme Schlager in Terzen von der Empore triefen; Monteverdi muss da im Grab rotieren. Vielleicht ist es schräg, große Sakralmusik mit einem kleinen Gottesdienst zu vergleichen, aber jedenfalls sind die Konzerte besser besucht. Womöglich schätzen die Leute die Herausforderung durch eher nicht unterhaltsame, dafür aber formal strikt durchorganisierte Bemühungen großer Geister um Transzendenz.

Ich will nicht, dass in Kirchen wieder zu Kreuzzügen aufgerufen und der Ehebruch gegeißelt wird, aber etwas Stolz einer steinalten Institution würde mich als Konfessionslosen mehr interessieren als ein Serviceanbieter, der die Leute „abholt“ und Fun & Wellness mit einem Kreuz oben drauf organisiert. Eine Punkattacke wie die von Pussy Riot in der Moskauer Kathedrale würde bei uns komplett verpuffen. Jeder würde denken, es ist eine coole Konfirmandenaktion! Diese Toleranz ist ja wunderbar. Aber wenn Bachs Choralvorspiele in der Kirche stören, kriegt der Populismus selbst schon etwas Intolerantes. Und vor dem möchte man irgendwo auch mal sicher sein.

Kein, keiner, am keinsten

Das jüngste Beispiel kommt aus Hamburg, vom ersten Piratenprozess auf deutschem Boden seit 400 Jahren. Der deutsche Verteidiger der somalischen Seeräuber fand, dass der Staatsanwalt die sozialen Umstände der Kriminellen nicht genug berücksichtige. Er werde sogar seiner Rolle „in keinster Weise“ gerecht. Ich hatte bis dahin schon fast Verständnis entwickelt für Männer, die mit Maschinenpistolen auf Besatzungsmitglieder feuern, so eingehend schilderte der Artikel das Elend in der Heimat der Angeklagten, aber jetzt stutzte ich, wie immer, wenn ich diesen Pseudosuperlativ höre oder lese: „In keinster Weise“.

Der epidemische Gebrauch des „keinst“ ist nicht neu. Schon vor fünf Jahren fand es ein genervter Surfer bei Google 900.000 Mal. Und schon vor 36 Jahren stellte Eike Christian Hirsch es in „Deutsch für Besserwisser“ in eine Reihe mit beliebten Wortverdrehungen der 1970er: „Noch und nöcher. In keinster Weise. Pirmanonsens. Noblenz-koblenz…“ Damals wurde die „keinste Weise“ also noch spaßig gebraucht. Man wusste, sie war schräg. So sieht sie noch der aktuelle Duden online, der die Wendung als „umgangssprachlich scherzhaft“ durchgehen lässt. Aber wer sie heute gebraucht, versteht keinen Spaß.

Was mich an ihr stört, ist nicht so sehr, dass es ein falscher Superlativ ist, da man ein Pronomen nicht steigern kann, schon gar kein „unbestimmtes Fürwort“, noch weniger ein so absolutes unbestimmtes Fürwort. Weniger als nichts geht nicht, solange nicht die Teilchenkollisionen im CERN Schwarze Löcher in die Sprache schlagen. Mich stört, dass diese Verdrehung gerade den Leuten zwischen den Zähnen herausfährt, die es richtig, richtig ernst meinen und keine weitere Diskussion wünschen. Wenn selbst Juristen sich ihrer bedienen, ist es kein Wunder, dass die Rechthaberei so um sich greift.

Beim „Wortschatz“-Portal der Uni Leipzig, das täglich automatisch Online-Veröffentlichungen wortstatistisch auswertet, finden sich „keinst“-Zitate von Aufsichtsratvorsitzenden, Politikern, Ministeriumssprechern und auffallend oft Jürgen Klinsmann, der sogar „in keinster Sekunde“ an den Abgang dachte, ehe er ging. Oft geht es um Dementi und heiße Eisen. Zensur, Militär, Banken, Fußball. Und jeder zweite User, der sich in einem Internetforum aufregt, versucht den Schaum vorm Mund mit „keinster Weise“ zum Argument zu nobilitieren. Die Wendung ist fast schon ein Indiz für Demagogie.

Mittlerweile sind die Piraten verurteilt, zu Haftstrafen zwischen zwei und sieben Jahren. Der Richter sagte: „Die Behauptung, arme somalische Fischer hätten gar keine andere Wahl, als sich der Piraterie zu verschreiben, ist unzutreffend.“ Er sagte nicht, sie sei „in keinster Weise zutreffend“. Zwei der Piraten sind erst neunzehn und haben ihre Strafe schon im Arrest verbüßt. Sie sind jetzt frei und gehen in Hamburg zur Schule. Dass ihr Deutschlehrer mit der Sprache so behutsam umgeht wie ihr Richter, ist in jedester Weise wünschenswert.