Kategorie-Archiv: Kolumne

Wie wahr ist der Frühling?

Allmählich muss ich es wohl glauben, sogar für wahr halten, aber es ist wie ein Traum. Vielleicht bilde ich es mir ein, vielleicht leben wir überhaupt alle in einem kollektiven Wahn oder einer Matrix, die uns wähnen lässt, es sei Frühling. Neulich war jedenfalls noch Eiszeit, mindestens Zwischeneiszeit. Ich fand die Vorstellung fast reizvoll, dass wie schon einmal vor langer Zeit Gletscher von Norden her die Stelle unter sich begraben würden, an der sich Hannover befindet, und am Deister haltmachen würden, knapp vor unserer Haustür. Ich sah schon Mammuts durch die verwaisten Dörfer stapfen. Und hörte, wie dauernd die Heizung ansprang.

Immerhin, die Nächte begannen wieder kürzer zu werden wie jedes Jahr. Es wurde schon vorm Wachwerden hell. Soweit die massive Wolkendecke das eben zuließ. Als ich beim Kaffeekochen Schneeflocken sah, lachte ich hysterisch. Die Blümchen, die Frido mit seiner Mutter eingepflanzt hatte, an einem irreal sonnigen und warmen Dienstag im frühen März, waren längst wieder erfroren. Die leichteren Kinderklamotten kamen wieder in den Schrank, die Polaranzüge wieder zum Einsatz. Die Vögel verstummten. Die Züge der Wildgänse – wo wollten die hin? Schon wieder zurück nach Afrika?

Und nun das. Die Heizung ist still. Durchs offene Fenster dringt Getschilp. Um die Bäume im Garten leuchtet ein Meer blauer und weißer Blüten. Vor wenigen Tagen brauchte ich einen Schal, jetzt ist schon ein Hemd zuviel. Das geht zu schnell, das kann ich nicht glauben. Und dann war es am ersten warmen Abend auch noch sternklar, das ist doch inszeniert! Man unterschätzt ja auch die Macht der Fantasie. Wir sehen, was wir sehen wollen, etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung glaubt jetzt, überall Frauen in kurzen Röcken zu sehen. Die Gartenfreunde sehen Blumen, und die Himmelsfreunde halten ihre Smartphones hoch und identifizieren neben dem Mond den Jupiter. Vielleicht sehen sie ihn nur auf dem Bildschirm und merken nicht, dass es aus dicken Wolken schneit! Virtual reality!

Aber mein Nacken tut weh. Dass ich eine halbe Stunde mit offenem Fenster Auto gefahren bin, könnte ich mir ja noch einbilden, aus purer Sehnsucht nach dem Lenz. Aber von der Zugluft ächzen jetzt noch die Muskeln. Sacre du printemps! Das kann kein Phantomschmerz sein. Also sind wohl auch die Blüten echt, und die warme Luft? Und es schneit wirklich nicht, und wir haben auf der Terrasse gesessen? Allerdings saßen wir um eine Feuerschale… Gerade ist mir eine Wespe ins Zimmer geflogen. Das ist keine Projektion der Sehnsucht. Also gut, ich glaub´s. Komm rein, Frühling. Ich muss sowieso alle Fenster öffnen, um deine Wespe loszuwerden.

Der Text erschien am 20.4.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt

Die 970.000-Stunden-Birne

Sie haben wohl noch viel vor“, meinte die Kassiererin, als auf dem Band acht Packungen Glühbirnen à 40 Watt anrückten. „Oh ja“, sagte ich. „Der Vorrat muss reichen, bis die Glühbirne wieder erlaubt ist.“ Er sieht gar nicht so schlecht aus, der Vorrat. In letzter Zeit halten die Birnen nämlich länger. Während ich noch vor einem Jahr den Eindruck hatte, die Leuchtmittelindustrie produziere gezielt kurzatmige Auslaufmodelle, um uns noch früher zum Erwerb teurer Novitäten zu zwingen als von der EU vorgesehen, erweisen sich nun Birnen, die ich im Verlauf der letzten Jahre erwarb, als erstaunlich zählebig.

Außerdem passieren hier neuerdings seltsame Dinge. Mehrfach erloschen Glühbirnen, um in dem Moment, da ich sie auswechseln wollte, wieder aufzustrahlen. Wackelkontakt, dachte ich beim ersten Mal, aber beim dritten Mal besann ich mich auf die Psychologie der Dinge, die uns zum Beispiel lehrt, bockige Benzinrasenmäher durch starkes Lob zum Anspringen zu bringen. Nein, ich habe keinen Wackelkontakt, das ist ein Tipp aus einem britischen Gartenbuch, und er funktioniert. Es sollte einem nur keiner dabei zuhören…

Wenn also ein so aggressives, bulliges Gerät wie ein Rasenmäher auf Lob reagiert, warum sollte sich nicht ein fragiler Gegenstand, der sogar eine Seele besitzt (so nannte man früher den Glühfaden), von sich aus gegen einen der dämlicheren Beschlüsse der EU aktiv werden? Besonders wenn er bei Leuten in der Fassung sitzt, die bekennende Birnenfans sind? Könnte es nicht sein, dass sich einige Glühfäden einfach über die Brenndauer von 1000 Stunden hinwegsetzen, die ihnen das „Phoebus“- Kartell einst verordnet hat? Haben Sie Zweifel? Dann rufen Sie mal die Website www.centennialbulb.org/cam.htm auf.

Was sehen Sie dort, alle 30 Sekunden aktualisiert? Eine große Glühbirne! Sie befindet sich im Feuerwehrhaus von Livermore in Kalifornien und leuchtet permanent seit dem 8. Juni 1901, Stromausfälle und einen Umzug ausgenommen. Natürlich hat man damals dickeren Draht verwendet, aber warum der schon rund 970.000 Stunden hält und glüht, kann kein Forscher erklären. Wahrscheinlich sollte man auch besser einen Isländer fragen. Wenn auf Island beim Straßenbau ein Fels nicht zu zerbohren ist, lässt man ihn in Ruhe, weil vermutlich ein Geist darin wohnt, und baut eine Kurve drumherum.

Etwas Magie belebt doch ungemein. Warum sollen wir den Spuk im Alltag nur Isländern und südamerikanischen Romanautoren überlassen? Ich stelle mir vor, dass meine Glühbirnen jetzt, da keine mehr hergestellt werden, zum geplanten Zeitpunkt kurz verlöschen, um dann, nach Berührung, ein leuchtendes comeback zu feiern. Und natürlich kaufe ich nie alle Birnen, die im Regal noch zu finden sind. Ein paar lasse ich immer stehen, zum Nachwachsen. Ob bei mir sonst alles okay ist? Aber ja. Ich habe sogar noch 100-Watt-Birnen im Vorrat!

Der Text erschien am 6.4.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt.

Ich träume von der Kaiserzeit

Wenn es nur Multitasking wäre! Das kriegt ein temporär alleinerziehender Mensch ja hin, ob er will und kann oder nicht, wat mutt, dat mutt. Heißgetränke für alle, Zeitung holen, Windelwechseln, Vorlesen, vorher wenigstens einen Artikel lesen („Papa, sind das auch Kardinals?“ „Nee, Verfassungsrichter…“), gucken, ob Paul doch schon die Türklinke erreicht, duschen, dabei gucken, was Paul mit dem Föhn macht und ihm verbieten, ins Klo zu fassen, Frido erinnern, dass es Frühstück nur für Leute (oder je nach Tier des Tages Bären, Riesenhirsche, Schimpansen) gibt, die schon angezogen sind, Apfelsaft vom Boden aufwischen…

Ich beschwere und ich rühme mich nicht. Bis vor wenigen Jahrzehnten haben nur Frauen so den Tag begonnen, völlig selbstverständlich. Es ist lächerlich, wenn jetzt Männer vom Familienalltagsstress so heroisch erzählen, als würden sie Asteroiden stoppen, Steilwände bezwingen, Jets mit ausgefallenen Triebwerken notlanden und was noch so als männlich gilt. Zumal ja die „Hausfrau und Mutter“ von einst den ganzen Tag so weitermachte, während ich ab neun an den Schreibtisch darf und mich erholen: Stundenlang nur ein Thema! Und dann noch eins, bei dem man nicht ganz von vorne anfangen muss!

Was viel mehr stresst als das Multitasking, ist das Multilearning. Den Begriff habe ich mir ausgedacht, wahrscheinlich gibt es längst ein Äquivalent. Die Neologismen überschwemmen uns, und wir lernen sie. „Binge viewing“ für komatösen DVD-Konsum ist das neueste, zum Grundwortschatz durchgesintert sind bereits „shitstorm“ für majoritäres Erbrechen im Netz oder „shareholder value“ für minoritäres Absahnen in Wirklichkeit. Dann tauchen auch noch irre, alte Begriffe auf wie “Gradtagszahlen“. Muss man kennen, wenn man sich auf die Heizkostenabrechnung vorbereitet, was sich nach dem eisigen März empfiehlt.

Wo kriegt man zur Zeit Benzin für unter 1,60 Euro? Und wer legt eigentlich diese Preise fest? Man muss auch die Gebührenordnung für Kitas recherchieren, sich über Änderungen in der Umsatzbesteuerung auf dem Laufenden halten und eine neue Bankleitzahl merken, während die Post das Porto erhöht, Throne bersten, Reiche zittern, Eurozonenränder splittern; gibt es irgendeinen Bereich, in dem nicht täglich Updates fällig werden? Sogar das neue Buch mit Findus und Pettersson heißt „Findus zieht um“! Hilfe! Manchmal, ich gebe es zu, träume ich von der Kaiserzeit, und zwar der österreichischen unter Franz Joseph. 68 Jahre lang derselbe Regent. Das endete schlecht, aber welche Kontinuität!

Kontinuität bietet mir eigentlich nur das morgendliche Ritual. Es ist zwar Multitasking, aber wenigstens immer dasselbe. Ich mag es. Heißgetränke, Windelnwechseln, Vorlesen… 68 Jahre wird das allerdings nicht dauern. Voraussichtlich schon am Ostermontag kommt Paul an die Türklinke.

Der Text erschien am 30.3.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt