Die 970.000-Stunden-Birne

Sie haben wohl noch viel vor“, meinte die Kassiererin, als auf dem Band acht Packungen Glühbirnen à 40 Watt anrückten. „Oh ja“, sagte ich. „Der Vorrat muss reichen, bis die Glühbirne wieder erlaubt ist.“ Er sieht gar nicht so schlecht aus, der Vorrat. In letzter Zeit halten die Birnen nämlich länger. Während ich noch vor einem Jahr den Eindruck hatte, die Leuchtmittelindustrie produziere gezielt kurzatmige Auslaufmodelle, um uns noch früher zum Erwerb teurer Novitäten zu zwingen als von der EU vorgesehen, erweisen sich nun Birnen, die ich im Verlauf der letzten Jahre erwarb, als erstaunlich zählebig.

Außerdem passieren hier neuerdings seltsame Dinge. Mehrfach erloschen Glühbirnen, um in dem Moment, da ich sie auswechseln wollte, wieder aufzustrahlen. Wackelkontakt, dachte ich beim ersten Mal, aber beim dritten Mal besann ich mich auf die Psychologie der Dinge, die uns zum Beispiel lehrt, bockige Benzinrasenmäher durch starkes Lob zum Anspringen zu bringen. Nein, ich habe keinen Wackelkontakt, das ist ein Tipp aus einem britischen Gartenbuch, und er funktioniert. Es sollte einem nur keiner dabei zuhören…

Wenn also ein so aggressives, bulliges Gerät wie ein Rasenmäher auf Lob reagiert, warum sollte sich nicht ein fragiler Gegenstand, der sogar eine Seele besitzt (so nannte man früher den Glühfaden), von sich aus gegen einen der dämlicheren Beschlüsse der EU aktiv werden? Besonders wenn er bei Leuten in der Fassung sitzt, die bekennende Birnenfans sind? Könnte es nicht sein, dass sich einige Glühfäden einfach über die Brenndauer von 1000 Stunden hinwegsetzen, die ihnen das „Phoebus“- Kartell einst verordnet hat? Haben Sie Zweifel? Dann rufen Sie mal die Website www.centennialbulb.org/cam.htm auf.

Was sehen Sie dort, alle 30 Sekunden aktualisiert? Eine große Glühbirne! Sie befindet sich im Feuerwehrhaus von Livermore in Kalifornien und leuchtet permanent seit dem 8. Juni 1901, Stromausfälle und einen Umzug ausgenommen. Natürlich hat man damals dickeren Draht verwendet, aber warum der schon rund 970.000 Stunden hält und glüht, kann kein Forscher erklären. Wahrscheinlich sollte man auch besser einen Isländer fragen. Wenn auf Island beim Straßenbau ein Fels nicht zu zerbohren ist, lässt man ihn in Ruhe, weil vermutlich ein Geist darin wohnt, und baut eine Kurve drumherum.

Etwas Magie belebt doch ungemein. Warum sollen wir den Spuk im Alltag nur Isländern und südamerikanischen Romanautoren überlassen? Ich stelle mir vor, dass meine Glühbirnen jetzt, da keine mehr hergestellt werden, zum geplanten Zeitpunkt kurz verlöschen, um dann, nach Berührung, ein leuchtendes comeback zu feiern. Und natürlich kaufe ich nie alle Birnen, die im Regal noch zu finden sind. Ein paar lasse ich immer stehen, zum Nachwachsen. Ob bei mir sonst alles okay ist? Aber ja. Ich habe sogar noch 100-Watt-Birnen im Vorrat!

Der Text erschien am 6.4.13 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt.