Kategorie-Archiv: Kolumne

Knödel und Musikdramen

„Es muss konsistent sein! Es muss konsistent sein!“ Wenn solche Worte auf der Terrasse eines rustikalen fränkischen Brauereigasthofs fallen, geht es nicht um Knödel, die hier sowieso konsistent sind, ob mit Pfifferlingsfüllung oder ohne. Solche Worte sind in der oberfränkischen Provinz nur in jenem Teil der Pfifferlingssaison zu hören, welcher mit den Bayreuther Festspielen zusammenfällt, und nur auf Terrassen, die nicht mehr als zwölf Kilometer vom Grünen Hügel entfernt sind. Man ereifert sich am Nebentisch über „Tristan“. Ich war nicht im „Tristan“ und kann zur Konsistenz nichts sagen, auseinandergefallen ist das Stück aber wohl nicht.

Es sind anspruchsvolle Festspielpilger, die hier am Fichtelgebirge sitzen, echte Opernfreaks, nicht die Adabeis, für die nur die Eröffnungspremiere in Frage kommt, weil sie da in ihren grauenvollen Roben vielleicht für Promis gehalten werden oder wenigstens die Hälse nach echten Promis recken können. Die Hotelgäste im Brauereigasthof, in dem seit 40 Jahren nichts verändert wurde (außer dass es jetzt WLAN und Brennesselgnocchi gibt), machen sich moderat fein, haben ihre Karten selbst bezahlt und kennen die Sänger und Inszenierungen der letzten dreißig Jahre besser als die meisten Kritiker. Sie haben hier anno 1978 noch Simon Estes erlebt, als Holländer!

Das war der erste männliche Afroamerikaner, der da auftrat. Nun also der erste Südkoreaner in dieser Rolle. Ein Gast aus Essen hat sich die Kritikerrunde nach der Premiere im Radio angehört. Dem Koreaner, hätten die Kritiker gerügt, fehle es an Höhe. „So ein Schwachsinn“, heult der Hamburger am nächsten Tisch auf, „gerade die Höhe war gut, gerade die Höhe!“ Ich bin ratlos. Mir hat weder in der Höhe noch in der Tiefe etwas gefehlt. Am nächsten Tag steht in fast allen Kritiken, die Höhen seien prima gewesen, es fehle in der Tiefe. Ich kann verstehen, dass die Festspielgäste ein gewisses Misstrauen gegenüber der Kritik entwickelt haben.

Die Kellnerin verfolgt alle diese Höhen und Tiefen mit großer Befriedigung. Jeder Disput bedeutet noch eine Runde, und wenn die Erinnerungen zurückreichen bis zum Debüt von Anja Silja als Senta anno 1960, werden Obstbrände fällig. Für sie sind alle ihre Sommergäste eine liebenswerte, leicht durchgeknallte Spezies, dank derer man Rücklagen für den Rest des Jahres bilden kann. Und sie passt gut auf sie auf. „Leberknödelsuppe vorm Schäufele? Damit versauen Sie sich den Appetit. Sie sind schon gut, wenn Sie überhaupt das Schäufele schaffen. Und nehmen Sie Bier dazu.“

Ich folge den Anweisungen. Das Schäufele zerfällt vor Zartheit schier in seiner dunklen Soße, von Knödeln umstellt. Es sind wohl nicht bloß Wagners Opern, die die Leute nach Franken locken. Ohne diese Gaststätten wären sie ja gar nicht durchzustehen. Vermutlich gibt es hier noch in hundert Jahren Knödel und Musikdramen. Konsistent, wie sie nun mal sind.

Gabo in der Morgenröte

Neulich las ich, dass Gabriel García Márquez, der große kolumbianische Schriftsteller, 85 Jahre alt, sehr vergesslich geworden ist. So vergesslich, dass, wie es auf Wikipedia heißt, „weitere Werke nicht zu erwarten sind“. Da steht auch, er leide an „Demenz“. Ich weigere mich, dieses Wort auf „Gabo“ anzuwenden, so, wie ich es überhaupt auf niemanden anwenden würde, der mir lieb ist. Es ist ein Klinikwort. Es reduziert einen Menschen auf ein Defizit. Demenz, fertig, abgehakt. Abgesehen davon (oder deswegen) wurde die „Demenz“ inzwischen dementiert. Fest steht, er wird nichts mehr schreiben.

Zu erfahren, dass er, dessen exzellentes Gedächtnis schon früh auffiel, zu vergesslich geworden ist, um noch Bücher zu schreiben, machte mich traurig. Von allen Lebenden, die ich nicht persönlich kenne, ist er mir einer der liebsten. Ich hatte mich auf die Fortsetzung seiner Erinnerungen „Leben, um davon zu erzählen“ gefreut – diese 604 Seiten hatten gerade mal für seine ersten 28 Lebensjahre gereicht. Ich muss zugeben, dass ich in den zehn Jahren seit der Lektüre so viel davon vergessen habe, dass ich das Buch gleich noch mal voller Spannung lesen könnte. Soviel zur Gedächtniskraft normaler Menschen…

Indessen habe ich längst nicht alles gelesen, was von ihm erschienen ist. Das fiel mir ein, als ich eines Morgens um fünf Uhr wach wurde, mich mit einem Kaffee zu den Büchern setzte und über die traurige Nachricht aus Kolumbien nachdachte, während sich ein bisschen Morgenröte durchs Fenster stahl. Ich griff mir „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“. Das hatte ich mal zu lesen begonnen und wieder weggestellt – warum? Weil es nicht die Fortsetzung von „Hundert Jahre Einsamkeit“ war? Nein. Bestimmte Bücher, vielleicht gerade die besten, brauchen einen Tag, eine Stunde, in der sie einen treffen können.

„Den unordentlichen, stickigen Raum, der zugleich Schlafzimmer und Labor war, erhellte gerade erst ein Schimmer des Morgenrots im geöffneten Fenster…“ Ob es das Morgenrot war, das uns verband, mich und Gabo und den Doktor Juvenal Urbino, der frühmorgens im Haus seines gerade erst gestorbenen Freundes steht? Ich musste lachen über den Pragmatismus des Arztes, der, nachdem er festgestellt hat, dass sein alter Freund freiwillig aus dem Leben schied, zu ihm sagt: „Idiot. Das Schlimmste war doch schon überstanden.“ Solche Sätze gibt es nur bei Márquez. Man kann viel von ihm lernen.

Zum Beispiel, nicht zu bejammern, dass er nichts mehr schreiben wird, sondern von seiner Fantasie Gebrauch zu machen und zu sehen, wie jetzt, da Márquez vielleicht gerade seinen Kaffee in der Morgenröte trinkt, inmitten seines literarischen Universums, der alte Doktor Urbino zu ihm tritt und, da Gabo ihn nicht gleich erkennt, eine seiner sarkastischen Bemerkungen macht. Selbst wenn der Autor irgendwann seine Figuren vergisst, sie vergessen ihren Autor nicht, und schon darum, denke ich mir, geht es Gabo gut.

Dieser Text erschien am 21.7.12 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt

Zeitreise nach Kleiberstein

Alte Kurorte haben etwas so Verwunschenes, dass man ihnen Märchennamen geben kann, Namen wie etwa Bad Kleiberstein. Im Grandhotel gibt es einen bahnhofshallenhohen Frühstückssaal, dessen Fenster noch von einem Hoffensterglasmaler angemalt worden sind und den jederzeit der Zar mit Entourage betreten könnte, wären nicht da nicht die Thermoskannen auf den Tischen. Etwas moderner musste man mit der Zeit doch werden. Der Zar würde sich wohl kaum am Frühstücksbüffett selbst bedienen, auch wenn es so lang wie ein Bahnsteig ist. Und die Zarenkinder waren natürlich etwas zielführender erzogen als Frido, der zwischen den Tischen herumrast, und Paul, der ein durchsabbertes Brötchen in hohem Bogen von sich schleudert.

Das stört hier aber niemanden, im Gegenteil, die anderen Gäste lächeln verzückt. Sie alle sind im Durchschnitt siebzig Jahre alt, was heutzutage ja kein Alter ist, einerseits. Andererseits machen sie den Eindruck, als säßen sie hier seit Zarenzeiten und hätten seitdem kein Kind mehr gesehen. Stünden wir mit ihnen vor einem der großen Wandspiegel, vielleicht sähen wir nur uns… Eine Dame mit veilchenblauem Hut streckt lächelnd die Hand aus nach Frido, der mit einem Schälchen Vanillejoghurt an ihr vorbeihüpft, zwei andere huldigen Paul, der sie mit seinen ersten beiden Nagezähnen und breiverschmiertem Mund anstrahlt. Unser von Krümeln gesäumter, von Flecken bedeckter, lärmender kleiner Tisch ist eine Attraktion, was er in gewöhnlichen deutschen Hotels nicht wäre. Dort lösen Kleinkinder ein Stirnrunzeln aus. Nicht so in Bad Kleiberstein.

Die Ruhe hier, vom Rosengarten bis zum Thermalbad, ist eine so grundlegende, dass die Kurgäste kleine, schrille Akzente als Abwechslung begrüßen in den Stunden bis zum nächsten Auftritt des Kurorchesters in der Konzertmuschel beim Königsdenkmal. Sie blicken auf Kinder, als seien die Putten vom Deckengemälde herabgeklettert und in T-Shirts gesteckt worden. Vielleicht wäre es anders, wenn Frido und Paul hier einiges aus ihrem Protest- und Erpressungsrepertoire vorführten, aber die Ruhe von Bad Kleiberstein scheint selbst sie etwas zu mäßigen. Man spricht leiser, geht langsamer, atmet tiefer. Die gute Luft! Manchmal ist sie durchzogen von Parfümaromen, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, schweren, weißen, seifig süßen.

Manchmal fragt man sich, ob die andere Welt nicht bloß ein seltsamer Traum ist. Crisis? What Crisis? Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Mauer schon gefallen oder überhaupt schon gebaut ist. Natürlich kann man im Hotel Zeitungen lesen, und im Foyer flimmern die Nachrichten über einen großen Flachbildschirm. Aber es könnte auch ein Aquarium sein, es sind Vorgänge wie hinter dickem Glas. Gleich müssen wir los zum Bahnhof. Die Dampflok pfeift schon über die Kastanien, die Gouvernante hebt Paul in die Kutsche… Was klingelt da? Mein Handy. „Wo steckt du denn?“ Adieu, Bad Kleiberstein, adieu!