Kategorie-Archiv: Kolumne

Nachrichten von Wildgänsen

Wir blättern morgens nur noch selten zusammen in der Zeitung, Frido und ich. So viele Fragen kann ich ihm gar nicht beantworten, wie die Fotos in ihm wachrufen, wer kann das überhaupt? Soldaten, Polizisten, Trauernde, Flüchtlinge, gekenterte Boote, Flugzeugtrümmer, Hausruinen. „Das ist in Paris!“, rief er neulich, den geliebten Eiffelturm wiedererkennend. „Ja.“ „Was machen die Polizisten da?“ „Sie passen auf.“ „Warum?“ „Weil…“ „Weil…?“ „Weil in Paris einige Männer… großen Schaden angerichtet haben.“ „Ich weiß.“ „Was weißt du denn?“ „Wir haben in der Schule darüber gesprochen.“

Es war wegen des abgesagten Länderspiels in Hannover. Wahrscheinlich war es in anderen Familien ein großes Thema gewesen, und die Lehrer hatten es aufgegriffen. Frido ist jetzt Erstklässler. Er liest kurze Sätze, aber Zeitungen noch lange nicht. Da wir kein Fernsehgerät haben und Nachrichtensendungen nur im Laptop mit Kopfhörern gucken, wenn Frido und Paul schlafen, dringt das Weltgeschehen sehr gefiltert zu ihnen vor. Das bisschen, was doch ankommt, beunruhigt Frido zutiefst, sogar die Sendung mit der Maus. Da wird jetzt regelmäßig das Schicksal einer Flüchtlingsfamilie in Deutschland verfolgt.

Man kann das überhaupt nicht feiner und sensibler machen, für mich ist die „Maus“ sowieso eine der höchsten Errungenschaften der Zivilisation, im Ernst. Das bisschen zum Beispiel, was ich über Indien weiß, habe ich zur Hälfte und mit Frido in einem „Special“ dieser Sendung gelernt, zur anderen Hälfte bei der Lektüre von Arundhati Roy und Salman Rushdie. Aber Frido konnte nach dem ersten Beitrag über die Flüchtlinge, in dem es auch um die Zerstörung ihrer Heimat ging, nicht einschlafen. Er besteht darauf, in jeder aktuellen Sendung, die wir immer verzögert angucken, dieses Thema zu überspringen.

Es ist aber nicht so, dass er in einer scheinheilen Welt aufwächst. Mit dem Leiden und Sterben, der Brutalität und Härte des Lebens befassen wir uns jeden zweiten Abend, wenn ich „Nils Holgersson“ vorlese, nicht in der gekürzten Kinderfassung. Ein großartiges Buch, mehr als hundert Jahre alt. All die Tiere darin, mit denen der verzauberte Nils sprechen kann, sind Persönlichkeiten, aber auch einige der besten und liebsten verlieren das Leben, zum Beispiel eine friedliebende Krähe, die gerade, als sie die Macht über ihren brutalisierten Clan gewonnen hat, vom Fuchs Smirre totgebissen wird, auch ein starker Typ.

Es sterben auch Menschen. Zwei Kinder verlieren ihre Familie und das Haus, in dem sie lebten, und wandern durch das Land, es geht um Tuberkulose, Armut, alle zwanzig Seiten geraten der Däumling und sein Gänserich in Lebensgefahr. Das alles will Frido hören, ich lasse nichts weg, inzwischen nicht einmal die ausführlichen Landschaftsschilderungen, die ihn anfangs langweilten. Inzwischen braucht er sie, und natürlich die große Lebensklugheit der uralten Wildgans Akka von Kebnekajse. Telefone und Autos sind noch nicht dabei, die Eisenbahn fährt mit Dampf, aber eine Märchenwelt ist das nicht.

Es ist eine Welt, in der alles vorkommt, Zauberei und Fortschritt, Leben und Tod, Angst und Erleichterung. Frido liebt das Buch, aber nach Schweden will er deswegen nicht. „Wann können wir mal wieder nach Paris fahren?“, fragt er. „Ich möchte da so gern hin… Papso?“ „Das werden wir schon hinkriegen.“

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Wallfahrt zu einer Raucherkneipe

Soll ich die Adresse nun rausrücken oder nicht? Der Laden ist ja ohnehin schon so gefragt, dass ohne Reservierung gar nichts geht, jedenfalls nicht am Samstagabend. Weder drinnen noch draußen sieht das aus wie eine coole Adresse. Es ist eine gemütliche Altstadtbutze im Osten der Republik, in der türmereichen Stadt Erfurt, und auch die Gäste gehören zu keiner Szene, die an ihrem Profil arbeiten muss, indem sie sich irgendeine location unterjocht, bis Tische und Stühle irgendwann nur noch für Gleichgepolte frei sind.

Nein, der Laden ist nicht exklusiv, er inkludiert die Exkludierten, jene, die woanders nach draußen gehen müssen oder in Kabinen gesperrt werden, die Raucher. Die sitzen da ganz vorn, in der geräumigen guten Stube. Weiter hinten bei den Nichtrauchern an der Theke ist es auch schön, und weil man im Osten etwas österreichischer mit den Vorschriften umgeht, sind die Bereiche weder durch Glastüren noch durch Fallgitter eisiger Druckluft getrennt. Kein Labor, sondern One World für alle, wie sich das für ein richtiges Gasthaus gehört.

Das Reservieren hat geklappt. Mit den besten Aussichten auf den Abend können wir unseren Herbstspaziergang in Erfurt machen, eigens angereist, zwei Herren mittleren Alters, die sich das Rauchen nicht abgewöhnen. Wallfahrt zu einer Kneipe, übernachtet wird in nikotinfreien Klosterzellen mit Lutherbibel! Es ist so voll, dass unser Tisch wirklich erst um Punkt acht frei wird. Die Beatles singen „Back to the U.S.S.R.”, alle weiteren Stücke kommen aus den 70ern. Die Wände über der Täfelung sind mit alten Reklametafeln gepflastert.

Retro! Man könnte befürchten, dass sich dort lauter Herren mittleren Alters in ihre Jugend zoomen, aber das haben weder wir noch die anderen nötig. Jedes Alter zwischen 20 und 70, viele Studenten, Grundmundart Thüringisch, Thügida ganz sicher nicht. Die Kellnerin, eine stressresistente und omnipräsente blonde Elfe, stellt die ersten Biere auf den Tisch, dreidreißig für ein großes. „Jetzt bin ich angekommen!“, ächzt mein Mitpilgrim behaglich, reisst sein Big Pack auf und studiert die lange Liste der Fleischwaren auf der Cellophankarte.

Vergangenheit? Ja, London war früher besser, jetzt hat das Geld alles echte Leben aus der City vertrieben. Aber Erfurt hat seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr so gebrodelt wie jetzt, und hier, im Qualm, kann man hervorragend über die Gegenwart sprechen und was zu tun ist. In Erfurt, finden wir, gäbe es nicht viel zu verbessern. Nun gut, man sollte die grauenhaften neuen Hochbauten östlich des Stadtkerns umgehend einebnen, neben denen der DDR-Riegel am Gargarin-Ring geradezu spätgotisch anheimelt. Aber sowas ist ja schnell getan.

Ach, die gewaltige Grillplatte, die am Vierwaldstätter See 30 Schweizer Franken kosten würde statt 15 Euro wie hier, da aber sowieso nicht angeboten wird! Die Flinkheit, mit der die Elfe den suppentellergroßen Aschenbecher auswechselt! Highway to Hell mit Bon Scott! Das heitere Fummeln der Studies! Smartphones leuchten hier nur auf, wenn jemand im trüben Licht die Speisekarte illuminiert. Sowas kann man doch nur erfinden, meinen Sie? Nee, man kann es finden. Aber ich finde doch, man sollte es vorher ein bisschen suchen müssen.

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Trio für Clara, Puzzle für Robert

Dieses Manuskript“, vermeldete das Auktionshaus Sotheby´s stolz, „wurde von der Wissenschaft noch nicht erschlossen.“ So etwas treibt den Preis. Für 176.500 Pfund wechselten die dreizehn Blätter vor zwei Jahren den Besitzer – und blieben unsichtbar. Eine prima Geldanlage, so eine Urskizze von Robert Schumann, erst recht, wenn es die zu einem seiner bedeutendsten Werke ist, dem Trio d-Moll für Klavier, Violine und Cello nämlich, das der 37jährige im Sommer 1847 fertigstellte und dann seiner Clara zum Geburtstag schenkte.

Geldanlage? Was hat eine Handschrift, mit der sich der Weg zu einem Gipfel romantischer Kammermusik erschließen lässt, in einem Privattresor verloren? Und wie kriegt man sie von dort in die öffentliche Hand? Nur, wenn einer sich zum Festpreis von der Preziose trennen mag. So geschah das vor sechs Jahren mit Beethovens Manuskript der Diabelli-Variationen, dessen Eigentümer sich entschloss, auf astronomische Auktionsaussichten zu verzichten, und es für eine immer noch siebenstellige Summe ans Bonner Beethoven-Haus verkaufte.

Und so soll es jetzt geschehen mit Schumanns stürmischer Liebeserklärung an die Pianistin Clara, die das Trio mit Freunden uraufführte -  in Dresden, wo es entstand. Dorthin könnte die Skizze,

trio

die unschätzbare Aufschlüsse erlaubt, aus den USA zurückkehren. Die Staats- und Universitätsbibliothek wird beim Kauf zwar von Bund, Land und der Kulturstiftung der Länder unterstützt, aber 30.000 Euro fehlen noch. Die werden jetzt im Wortsinn zusammengepuzzelt: Auf slubdd.de ist eine Manuskriptseite als Puzzle zu sehen.

Von den 150 Teilen sind die meisten noch leer – aber jedes Mal, wenn 200 Euro beieinander sind, erscheinen wieder ein paar Töne mehr. Jeder kann handfest das öffentliche Interesse unterstreichen, das dieses Trio zu einem der meistaufgeführten gemacht hat. Und vielleicht sogar, in kleinen Schritten, zu einem Bewusstseinswandel der klügeren Fafners beitragen: In ihren Tresoren setzen solche Schätze wohl Geld an, aber ihren Geist entfalten sie dort nicht. Sonst hätte Robert seiner Clara ja auch einen Scheck ausschreiben können.

Dieser Text erschien am 7. Oktober 2015 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und ist urheberrechtlich geschützt