Wallfahrt zu einer Raucherkneipe

Soll ich die Adresse nun rausrücken oder nicht? Der Laden ist ja ohnehin schon so gefragt, dass ohne Reservierung gar nichts geht, jedenfalls nicht am Samstagabend. Weder drinnen noch draußen sieht das aus wie eine coole Adresse. Es ist eine gemütliche Altstadtbutze im Osten der Republik, in der türmereichen Stadt Erfurt, und auch die Gäste gehören zu keiner Szene, die an ihrem Profil arbeiten muss, indem sie sich irgendeine location unterjocht, bis Tische und Stühle irgendwann nur noch für Gleichgepolte frei sind.

Nein, der Laden ist nicht exklusiv, er inkludiert die Exkludierten, jene, die woanders nach draußen gehen müssen oder in Kabinen gesperrt werden, die Raucher. Die sitzen da ganz vorn, in der geräumigen guten Stube. Weiter hinten bei den Nichtrauchern an der Theke ist es auch schön, und weil man im Osten etwas österreichischer mit den Vorschriften umgeht, sind die Bereiche weder durch Glastüren noch durch Fallgitter eisiger Druckluft getrennt. Kein Labor, sondern One World für alle, wie sich das für ein richtiges Gasthaus gehört.

Das Reservieren hat geklappt. Mit den besten Aussichten auf den Abend können wir unseren Herbstspaziergang in Erfurt machen, eigens angereist, zwei Herren mittleren Alters, die sich das Rauchen nicht abgewöhnen. Wallfahrt zu einer Kneipe, übernachtet wird in nikotinfreien Klosterzellen mit Lutherbibel! Es ist so voll, dass unser Tisch wirklich erst um Punkt acht frei wird. Die Beatles singen „Back to the U.S.S.R.”, alle weiteren Stücke kommen aus den 70ern. Die Wände über der Täfelung sind mit alten Reklametafeln gepflastert.

Retro! Man könnte befürchten, dass sich dort lauter Herren mittleren Alters in ihre Jugend zoomen, aber das haben weder wir noch die anderen nötig. Jedes Alter zwischen 20 und 70, viele Studenten, Grundmundart Thüringisch, Thügida ganz sicher nicht. Die Kellnerin, eine stressresistente und omnipräsente blonde Elfe, stellt die ersten Biere auf den Tisch, dreidreißig für ein großes. „Jetzt bin ich angekommen!“, ächzt mein Mitpilgrim behaglich, reisst sein Big Pack auf und studiert die lange Liste der Fleischwaren auf der Cellophankarte.

Vergangenheit? Ja, London war früher besser, jetzt hat das Geld alles echte Leben aus der City vertrieben. Aber Erfurt hat seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr so gebrodelt wie jetzt, und hier, im Qualm, kann man hervorragend über die Gegenwart sprechen und was zu tun ist. In Erfurt, finden wir, gäbe es nicht viel zu verbessern. Nun gut, man sollte die grauenhaften neuen Hochbauten östlich des Stadtkerns umgehend einebnen, neben denen der DDR-Riegel am Gargarin-Ring geradezu spätgotisch anheimelt. Aber sowas ist ja schnell getan.

Ach, die gewaltige Grillplatte, die am Vierwaldstätter See 30 Schweizer Franken kosten würde statt 15 Euro wie hier, da aber sowieso nicht angeboten wird! Die Flinkheit, mit der die Elfe den suppentellergroßen Aschenbecher auswechselt! Highway to Hell mit Bon Scott! Das heitere Fummeln der Studies! Smartphones leuchten hier nur auf, wenn jemand im trüben Licht die Speisekarte illuminiert. Sowas kann man doch nur erfinden, meinen Sie? Nee, man kann es finden. Aber ich finde doch, man sollte es vorher ein bisschen suchen müssen.

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