Vom Blockbuster zur Dekonstruktion

Rachmaninows vier Klavierkonzerte und die Paganini-Rhapsodie

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“Der Tag brauchte Stunden, um zu verdämmern, und alles – Himmel, hohe Blumen, stilles Wasser – verharrte in einem Zustand unendlicher abendlicher Spannung, vertieft eher denn aufgehoben von dem klagenden Muh einer Kuh auf einer fernen Weide oder dem noch ergreifenderen Schrei eines Vogels vom jenseitigen Ufer des Flusses herauf…“ Im Hintergrund ein Landhaus mit Dienerschaft, Flügel im Salon. So war der russische Sommer für die Reichen vor der Revolution, so beschreibt Vladimir Nabokov in „Erinnerung, sprich“ die Zeit um 1900, und selten hört man von dieser Weite so viel wie im zweiten Satz des 1. Klavierkonzerts von Sergej Rachmaninow, 1891 komponiert.

Er kannte diese Welt, und er hatte sie schon einmal fast verloren. Fünf Landgüter hatte seine Mutter mit in die Ehe gebracht, ein Vermögen, das sein Vater durchbrachte, ehe Sergej zehn Jahre alt war. Nur seiner Begabung und dem Klavierunterricht, den er schon als Vierjähriger von seiner Mutter erhalten hatte, verdankte er seine Ausbildung am Moskauer Konservatorium. Mit siebzehn fand er dann jenen Ort, an dem 85 Prozent seiner Kompositionen entstehen würden, Iwanowka, das Landgut seiner Verwandten, 600 Kilometer südöstlich von Moskau, wo er sich gleich in eine Cousine verliebte.

Da stellte er mit achtzehn Jahren sein erstes Klavierkonzert fertig. Der triumphalistische Fanfarenbeginn mitsamt großer virtuoser Gestik in fis-Moll sorgte für Begeisterung, als der Pianist im Konservatorium den ersten Satz spielte. Tiefer geht jenes Andante, in dem der im Orchester beschworenen Weite ein halb träumendes Individuum gegenüber sitzt, vertraut, wie man hört, auch mit Chopin, sogar tristantische Wehmut ist zu hören. Dem Komponisten war die Partitur es wert, sie ein Vierteljahrhundert später zu überarbeiten, die Instrumentierung zu verfeinern, Linien herauszuarbeiten, im Solopart die leitenden und die begleitenden Passagen geschmeidiger zu verbinden.

Da war er längst berühmt und hatte schon die beiden Klavierkonzerte geschrieben, aus deren Schatten das erste und das vierte heute erst allmählich wieder heraustreten. Der Weg zum zweiten Konzert war schwer nach der mißglückten Uraufführung seiner ersten Sinfonie 1897. Weil Alexander Glasunow sie betrunken dirigierte, kamen die Stärken der Partitur nicht durch. Nach vernichtenden Kritiken komponierte Rachmaninow nicht mehr, sammelte Erfahrungen als Dirigent und ließ sich von einem der ersten russischen Psychiater behandeln. Erst dann war er reif für sein zweites Klavierkonzert. Und für die Ehe mit der Cousine Natalya Satina. Sie zogen nach Iwanowka.

Hier entstand 1901 auch das zweite Klavierkonzert in c-Moll, bis heute kaum zu trennen von seiner Kinokarriere. Es liefert den Soundtrack für Filme von „Menschen im Hotel“ bis „Hereafter“. „Rachmaninow“, seufzt 1955 in Billy Wilders Welterfolg „Das verflixte siebte Jahr“ die schöne Frau, an den Flügel gelehnt, und dann erliegt sie dem Pianisten, der eine Passage aus dem Konzert intoniert. Diese Fantasie eines New Yorker Angestellten, dessen Nachbarin von Marylin Monroe gespielt wird, ließ „Rachmaninow“ zum Synonym für Ekstase werden, für den Tastenhengst als unwiderstehlichen Superhelden – und setzte ihn dem Spott der Intellektuellen aus. Vielleicht ist es aber an der Zeit, genau das als Qualität wahrzunehmen, was dem Klischee zugrunde liegt. Denn es ist eine filmtaugliche Rolle, vom Komponisten selbst am Klavier gestaltet.

Die Soloakkorde des Beginns zeigen ein düsteres Ich, dem die Außenwelt fehlt. Die kommt mit dem Orchester dazu, als würde in die Totale gezoomt. Das Thema in Streichern, Klarinette und Fagott bewegt sich im Bann der Depression, aber es schafft einen Horizont, vor dem das pianistische Ich seine Rolle findet. All die Kaskaden sind kein „Blendwerk“, sie bilden die DNA des Protagonisten. Die Entwicklung und Inszenierung dieser Gestalt folgt in „Rach 2“ einer Perspektive, wie sie später im Kino der Blockbuster etabliert wurde.

Während das Orchester auf den Tastenritter reagiert, bildet es zugleich die Umgebung, das Ambiente, durch das er sich bewegt, vom Heroismus des ersten Satzes über das Sentiment des zweiten bis zu den Orgasmen pianistischer Triumphe im Finale. Rachmaninow nahm das Werk mit auf seine erste USA-Tournee, zudem das frisch komponierte 3. Klavierkonzert. Man wäre gern dabei gewesen, als Gustav Mahler und Rachmaninow 1910 in der Carnegie Hall das Dritte mit dem New York Philharmonic aufführten. Mahler probte so akribisch, dass das Orchester Überstunden machen musste.

Dieses d-Moll-Konzert gilt als das mit den meisten Noten pro Sekunde, und es ist zugleich symphonischer konzipiert als seine Vorgänger. Die schlicht kreiselnde Anfangsmelodie des ersten Satzes ähnelt einer liturgischen Weise aus Kiew, was der Komponist allerdings stets bestritt: Das Thema, sagte er, habe sich „einfach von selbst komponiert.“ Am Ende des zyklisch angelegten Werkes wird aus dieser Melodie eine Klangexstase aus Durakkorden, die in der Kombination massiver Klavierakkorde mit den Blechbläsern auf Schostakowitsch vorausweist. Auch dieses Werk erwies sich als kinotauglich in  „Shine“, einem Film über den schizophrenen Pianisten Daniel Helfgott.

Als Rachmaninow im April 1917 das Gut Iwanowka besuchte, war es dort schon zu Plünderungen gekommen. Er verließ mit Natalya und den zwei Töchtern Rußland für immer. 1918 kam die Familie in New York an, und damit begann die auch vom Komponisten selbst betriebene Stilisierung zum „Russen in Amerika“, der in New York mit russischen Dienern, russischen Gästen und russischen Gepflogenheiten lebt, sich das aber auch leisten kann: Am Flügel, den ihm die Firma Steinway schenkt, hat er gleich nach der Ankunft fast 40 Konzerte in vier Monaten gegeben. Bis zu seinem Tod 1943 trat er allein in den USA mehr als tausend Mal auf. Zu oft, um noch gut komponieren zu können?

Die Verrisse nach der Uraufführung des 4. Konzerts am 18. März 1927 in Philadelphia rügten Eklektizismus und Sinnleere, und noch heute gilt diese Musik vielen als nicht recht geglückt. Im ersten größeren Werk, das in den USA entsteht, scheint er nicht mehr der Alte zu sein – aber vielleicht will er das auch gar nicht. Ungeduld ist darin, die eine „große Erzählung“ nicht zustandekommen lässt. Das erste Allegro vivace beginnt, als sei man schon in der Durchführung, das Finale lässt aus Orchestersplittern eine Tastenraserei frei werden, deren Ironie sich mit der eines Poulenc berührt. Und im zweiten Satz zitiert Rachmaninow das Eingangsthema von Schumanns Klavierkonzert, des romantischen Ahnherrn – wie in Zeitlupe und von a-Moll nach C-Dur gewendet.

Der Protagonist wird durchscheinend in diesem Konzert, das Orchester unberechenbarer, selbstbewusster. Ob Rachmaninow will oder nicht, er komponiert den Abschied vom Klavierkonzert in der Form eines Klavierkonzerts. Aber die Verrisse trafen ihn tief; auch dieses Werk unterzog er einer Revision. Man wird der Partitur gerechter, wenn man sie nicht von ihren Konzertvorgängern her hört, sondern auf dem Weg zu jener Rhapsodie, in der Rachmaninow seine späte Kunst der Fragmentarisierung auf die Spitze treibt – und den Pianisten noch mehr zum Teil eines lichten Orchestersatzes macht.

Die Rhapsodie über dasThema der 24. Caprice von Niccolo Paganini entstand 1934 in einer Bauhausvilla, die Rachmaninow sich am Vierwaldstätter See hatte errichten lassen, einem zweiten Iwanowka. Hier fand er zur Balance von Ironie und Pathos, Materialbefragung und Virtuosität. Wie das Thema dekonstruiert wird, wie Motivsplitter zu Farbereignissen werden,, das allein ist schon ein Vergnügen. Rachmaninow gönnt sich Eskapaden, die Jazzgeschichte vorwegnehmen; er ruft sogar (wie vor ihm Hector Berlioz und Eugène Ysaÿe) den Hymnus zum Jüngsten Tag herauf, ohne damit zu kokettieren.

Bezeichnenderweise hat das Werk Konzertlänge, und in der 18. Variation entsteht aus der Umkehrung einer Figur, nach Dur gewendet wie das Schumann-Zitat im 4. Klavierkonzert, unversehens eine Weite, in der sich die Seele ausbreiten kann. Da ist er wieder, Nabokovs „Zustand unendlicher abendlicher Spannung“, aber diesmal entsteht er mit dem Blick nach innen. Das Material selbst anstelle einer Erzählung erlaubt es Rachmaninow, noch einmal zu träumen. Schließlich fordert er hypervirtuos das Schicksal heraus: Der rasende Pianist wird vom „Dies irae“ in den Blechbläsern gestoppt und umgeht die Barriere – um mit feinem Lächeln das Stück wie einen Gag enden zu lassen.

Dieser Text erschien – auch in englischer und französischer Übersetzung – im Booklet zur Neueinspielung der genannten Werke durch Lise de la Salle und das Philharmonia Zürich unter der Leitung von Fabio Luisi bei Philharmonia Records, Oktober 2015