Kategorie-Archiv: Kolumne

Als die “Bild” mal Noten druckte

Es gibt ein Jubiläum nachzufeiern, um ein Dritteljahr verspätet, aber das wird in diesem Fall durch den majestätischen Irrsinn des Vorgangs locker ausgeglichen. Er verdient einen Ehrenplatz in der neueren Pressegeschichte, gerade bei der unterschätzten Auseinandersetzung mit den Klassikern. Anfang Juni 1990 las man vorn auf der „Bild“ ganz groß: „Mozart gut“. Nichts Neues, aber wahr, wenn auch sparsam formuliert. Das war aber nur die eine Hälfte der Überschrift, denn etwas kleiner stand darunter „gegen Herzinfarkt“.

Das war aber noch nicht der Hammer, obwohl die „Bild“ damit einer Studie um drei Jahre voraus war, die in den Neunzigern des vorigen Jahrhunderts Musik des beliebten Salzburgers als Therapeutikum für einfach alles ins Gespräch brachte. Sie sollte Schwangere entspannen, Embryonen schlauer machen, Kühen zu mehr Milch und Affen zum Abitur verhelfen. Alles längst wiederlegt. Es gibt auch keine WGs mit Yuccapalmen mehr, die mit der „Kleinen Nachtmusik“ beschallt werden. Denn die muss es ja immer sein, gerade für die „Bild“.

Sie druckten den Anfang ab, in Noten! Allein das war schon Wahnsinn. Man entsinnt sich, dass die Tagespresse damals generell auf hohem Niveau operierte. In der Regionalzeitung, in der ich arbeitete, war das Feuilleton fast so groß wie heute das der F.A.Z. Es gab zwei Opernfreaks in der Redaktion, beide durften reisen, wohin sie wollten, gern auch Erster Klasse oder Business, mit Aschenbecher in der Armlehne natürlich, und schreiben, soviel sie wollten. Naja, fast. Keiner fragte, wie viele das lesen wollen könnten. Ging halt.

Da kam also auch die „Bild“ auf den Geschmack und druckte auf Seite 1 den Anfang der Nachtmusik. Da stand jedenfalls: „So beginnt die Kleine Nachtmusik.“ Die beiden Takte waren offenbar redigiert worden. Sie begannen mit einem aufsteigenden Dreiklang anstatt mit dem bekannten Fanfarenmotiv. Außer, man stellte die Seite auf den Kopf. Es war ja die große Zeit von Georg Baselitz, der alles falschrum malte oder aufhängte, aber mit dem hatte das eher nichts tun, den konnte man bloß prima mit beißender Ironie erwähnen.

Besonders jetzt, da die Leute bei der „Bild“-Zeitung sich um 180 Grad vertan und es doch so gut gemeint hatten: Eine Steilvorlage für das arrogante Feuilleton (das in Regionalzeitungen schon damals nur noch im Westen so hieß). Die habe ich damals voll genutzt, ich fieser Bildungsbürger, als ich eine Kolumne dazu schrieb. Aber immerhin war ich so fair, auf den Hauch René Magritte auf der Seite hinzuweisen. Es war und bleibt wunderschön, dass da unter den kopfstehenden Takten stand: „So beginnt die Kleine Nachtmusik“.

So, in der Tat, hätte in breiter Öffentlichkeit eine neue Rezeption dieses Werkes beginnen können, das selbst ironischer Züge nicht entbehrt. Mittlerweile geht Ironie nur noch mit Tüttelchen und Anwalt. Und „Bild“ hat es nie wieder mit Noten versucht. Aber so bleibt die Sache einzigartig. Das Salzburger Mozarteum sollte den Erwerb der „Bild“-Originalausgabe in Erwägung ziehen, denn auf dem Autograph der Nachtmusik sitzt zäh irgendein Schweizer Privatier. Man kann, beweist er, notenkundig sein – und trotzdem nichts begriffen haben.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Himmelsfenster mit vier Palmen

Ach, Malle! „Na, auch zum Ballermann?“, wird unsere Sopranistin vom Sicherheitsbeamten in Hannover gefragt. Nett gemeint. Aber da lärmen auch schon die kurzgeschorenen Mittdreißiger in weißen T-Shirts, vor denen sie dann sitzen muss. Sie übersteht den Flug nur, indem sie sich über Kopfhörer das bordeigene Audioprogramm antut und sogar Andrea Berg noch erträglicher findet als das, was die Ballermänner hinter ihr hören lassen. Und die Damen hinter mir! Was die so von sich geben, vor allem die Blondine! Vielleicht ist es wirklich nicht so schlimm, wenn sie nicht wählen gehen.

Im Flieger nach Malle wird erstmal jedes Klischee krachend bestätigt. Ich habe schon vorher gewissen Personen von Stand nur mitgeteilt, ich begäbe mich „auf Konzertreise nach Spanien“, damit sie nicht pikiert die Braue heben: Auf Mallorca macht der Musik? Da, wo sie Bier aus Eimern trinken? Aber es gibt dort tatsächlich auch Kreise, die keinen Aufwand scheuen, um von elf Musikern protestantische Sakralmusik aus dem Thüringen des späten 17. Jahrhunderts aufführen zu lassen. Und aus dem Jahrhundert stammen die einzigen Ballermänner, die sie mögen, eiserne Geschütze vor der Kathedrale.

Die sandgelbe Kathedrale von Palma ist ein Wunder, und gleich daneben steht das eigentümlichste Bauwerk mit Blick aufs westliche Mittelmeer, der Palacio Real de la Almudaina, unser Arbeitsplatz. Es ist eine aufs zehnte Jahrhundert und die Araber zurückgehende Festung, in der sich ein Gewirr von Sälen und Gängen entwickelte im Laufe der Zeit, ein Empfangspalast der spanischen Könige mit einem atemberaubend schönen Innenhof. Vier Palmen in der Mitte und ein Brunnen, Steinlöwen, Balkons aus der Renaissance, romanische und gotische Bögen. Wer da den ganzen Tag probt, gerät aus der Zeit heraus.

Wenn man nach oben blickt, in das große Rechteck, das die Dachkanten bilden, spürt man die Weite des knallblau seidigen Septemberhimmels – und sieht Wolken in zwei Richtungen segeln. Die spanische Flagge mit dem Königswappen flattert zum Meer hin, während von dort weit oben lichte Flöze aus Zirruswolken angeweht kommen. Da kann einem schwindlig werden. Unterdessen taucht hinten im Hof, halb unter Arkaden, immer mal ein Auto auf, um dann durch ein Tor in Richtung Kathedrale zu verschwinden. Oder ein Motorrad. Oder ein Militärjeep. Mitunter auch Sammlerstücke.

Wer weiß, was noch alles in den Tiefen des Palastes parkt. Man würde sich nicht wundern, wenn auch mal ein mittelalterlicher Reitertrupp hochkäme, gefolgt von ein paar Sarazenen … Und das Publikum, das abends den Hof füllt, hat die Ausstrahlung einer höfischen Gesellschaft. Unwillkürlich hält man Ausschau nach dem Königspaar. Abendwinde wirbeln von den Mauern, als wir beginnen, aber wir sind vorbereitet. Die Wäscheklammern an den Noten wirken wenig festlich, manchmal schwankt ein Pult bedrohlich. „Estás, oh Dios, encendido de ira hacia mi?“ Nein, der Allmächtige ist uns wohl gesonnen, alles geht gut.

Nach diesem Abend scheinen mir am nächsten Morgen auf dem Rückflug selbst die deutschen Ballermänner ein wenig verwandelt. Nicht mehr so laut, fast ein wenig vergeistigt. Vielleicht machen sie ihrerseits auf dieser Insel spirituelle Erfahrungen, von denen wir nichts ahnen? Malle kann auch ganz bueno sein.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt

Mehr als nur ein Großonkel

Er muss ein heiterer Mensch gewesen sein, was zu seiner Zeit keine verbreitete Gemütsverfassung war. Der Krieg, zu dem schon bei seiner Taufe am 16. September 1615 aufgerüstet worden war, währte dreißig Jahre und traf mit Belagerungen, Gewaltexzessen, Seuchen jeden der Orte, an denen sich Heinrich Bach aufhielt. Ein Wunder schon, dass er als Knabe, da Thüringen Durchmarschgebiet geworden war, vom heimischen Wechmar aus meilenweit wanderte, um Orgeln zu hören. Er liebte dieses Instrument, und an einer Orgel spielte er nahezu ein halbes Jahrhundert lang, in der Oberkirche zu Arnstadt.

Schlecht bezahlte Organisten wie ihn gab es viele. An diesen einen ist zu seinem 400. Geburtstag auch nicht bloß deshalb zu erinnern, weil Heinrich Bach sensationell alt wurde – etwa einer von hundert Menschen erreichte wie er das 77. Lebensjahr. Sondern weil er, selbst noch Enkel eines zugewanderten Bäckermeisters, zwei seiner Söhne zu bedeutenden Komponisten werden ließ. Johann Christoph und Johann Michael Bach bekamen ihre handwerkliche Basis, als Organisten und als Tonsetzer, bei Heinrich, der selbst für nahezu jedes Genre komponierte, “viel Creutz contrapuncten und Chromatische Tone”.

So weiß es die Leichenrede, während die vier erhaltenen Stücke auf eine eher moderate Fortschreibung italienischer Modelle verweisen und auf die Kenntnis großer Zeitgenossen wie Heinrich Schütz. Mehr erfahren wir über Heinrich durch das, was er schätzte und kopierte – zwei Motetten seines Ältesten wären ohne ihn verloren. Die tiefe Expressivität des Eisenachers Johann Christoph, die leuchtende Balance des Gehreners Johann Michael tragen in sich auch existenzielle Erfahrungen der Generation davor, und ohne diese Musik wäre wiederum der ein anderer geworden, den Heinrich noch als Kind sah.

Johann Sebastian, Enkel des Christoph, des früh gestorbenen Bruders von Heinrich, hatte da nichts zu “vollenden”. Er konnte in eine neue Zeit gehen auf einer gewaltigen Basis, als deren ruhige Mitte wir uns Heinrich Bach denken dürfen. Dessen “sehr volckreiche Leichbestattung” am 12. Juli 1692 in Arnstadt war ein Ereignis. Man feierte sein hohes Alter, seine “Gemüthszufriedenheit” und “hertzdringende Organistenkunst”, man feierte den ganzen Clan, dessen Berufsmusiker überall in Thüringen den Ton angaben. Und unter Heinrichs 28 Enkeln war bereits Anna Barbara, spätere erste Frau des JSB.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt