Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Ich war keine Naturbegabung”

Treffen in der Zürcher Kantine: Die 35-jährige britische Sopranistin Louise Alder im Gespräch über Mozarts Susanna, ihren Umweg zur Oper und ein nicht mehr wirklich vereinigtes Königreich

Eine Eigenschaft gibt es, die auch jenseits der Bühne die meisten Sängerinnen und Sänger von Opern verbindet. Sie können unheimlich schnell umschalten, sich ohne Anlauf ganz auf eine Situation einlassen, offen reagierend auf alles, was da kommen mag. Auch wenn es die Fragen eines Journalisten sind, der jetzt eigentlich nicht so in den Plan passt, jetzt, da das Flugzeug aus London verspätet landete und die Bühnenprobe in 45 Minuten beginnt. Louise Alder nimmt in der Zürcher Opernkantine so entspannt Platz, als wäre es ihr freier Nachmittag. Kaum hat sie einen Becher Kaffee vor sich stehen, sprechen wir erstmal über eine Zofe aus dem 18. Jahrhundert, als hätten wir alle Zeit der Welt dafür.

Wie kommt es überhaupt, dass diese Susanna im Figaro uns interessieren kann, eine Subalterne in einer längst Geschichte gewordenen feudalen Gesellschaft? Louise Alder, die diese Rolle bislang in vier verschiedenen Produktionen sang, verweist keineswegs gleich auf Mozarts Musik. „Sein Librettist da Ponte“, meint sie, „war sehr clever, wie er die story anlegte. Das war ein Skandal zu der Zeit, Diener als zentraler Teil der Handlung. Ich wuchs natürlich nicht mit Dienern auf, ich komme andererseits auch nicht aus einer Familie von Dienern. Aber ich verstehe die Schwierigkeiten in ihrem Leben. Das ist näher an uns als Händels Götter und Könige, und niemand wird in einen Bären verwandelt.“ Sie lacht.

Es macht ihr Spaß „to inhabit the role, diese Rolle zu bewohnen“. Denn bei allem, was sich von einer Produktion zur andern ändere, „her spirit never changes. Sie ist stark und positiv, gerissen, clever. Sie hat die Fäden in der Hand. Und sie fühlt sehr viel.“ Was allerdings sie fühlt, das sei sehr abhängig vom Ensemble, nicht nur vom Stück und von der Regie. „Der Graf des einen Sängers ist anders als ein anderer, darauf reagiere ich.“ Spannend findet sie es auch, beim Leben mit einer Rolle über Jahre hin zu merken, wie sie selbst sich entwickelt, „mit der Sophie im Rosenkavalier ist das auch so. Charakterlich und vokal ändert sich etwas, manche Elemente werden stärker als andere. Und je besser du das Stück kennst, desto besser kannst du es spielen.“

louise alder

Lebenserfahrung brauche man auch, um in eine Rolle zu finden. Dass sie selbst Angst und Schmerz kenne – wovon ihr helles, offenes Gesicht jetzt keine Spur verrät – helfe ihr für die Pamina in der Zauberflöte, „sonst ist es schwer, das zu machen. Ich bin ja ganz froh, dass meine Mutter mich nie aufgefordert hat, jemanden zu töten, so wie die Königin der Nacht das tut.“

Ganz besonders nicht diese Mutter. Die Geigerin Susan Carpenter-Jacobs hat das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment in eben dem Jahr 1986 mitbegründet, in dessen November ihre Tochter zur Welt kam. Und als im Sommer 1989 die Proben zum Figaro in Glyndebourne begannen, mit dem 34-jährigen Simon Rattle am Pult, war die Zweijährige dabei. „Es war eins der ersten Stücke, die ich je hörte. Meine ganze Kindheit lang wurde ich da mit hingenommen, deswegen ist Mozart bei mir wirklich im Blut.“ Eine Garantie für eine Musikerlaufbahn sei das keineswegs. „Die Kinder der Kollegen meiner Eltern, meine Freunde, haben sich sehr unterschiedlich entschieden. Einige wollten unbedingt Musik machen, andere konnten sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.“ Sie selbst brauchte eine Weile, „um Oper nicht als etwas zu sehen, wo meine Eltern mich hinschleppten.“

Als Teenager begann sich Louise für die Stories, Inszenierungen, Sänger:innen des Musiktheaters zu interessieren, „und im Kopf hatte ich einen Traum vom Singen, ganz sicher. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Mein Vater singt im Extrachor von Covent Garden, er ist kein Solist.“ Von früh an spielte sie Geige und Oboe, „aber direkt auf ein music college wollten meine Eltern mich nach der Schule nicht gehen lassen. Sie wollten eine breitere Ausbildung, also studierte ich Musikwissenschaft in Edinburgh.“ Und da gab es eine sehr gute Gesanglehrerin, die sie auf die Bahn brachte. Und auch gleich auf die Unibühne, wo Louise ihre Liebe zum Musical und ihr Tanztalent auslebte.

Aber ihr Interesse an Oper überwog und führte sie ans Royal College of Music nach London. „Ich war gesangstechnisch überhaupt keine Naturbegabung“, meint sie, „und musste wirklich arbeiten, um meinen Weg zu finden.“ Sie schwärmt von den Lehrerinnen, die ihr dabei halfen. „Patricia MacMahon hat mir klar gemacht, dass ich ohne guten Werkzeugkasten nicht weit kommen würde. Mein Musikverständnis war weit über meiner Technik, und bei ihr begann ich Freude am Verlangsamen zu finden, Schritt für Schritt die Löcher auszufüllen. Und Dinah Harris konnte mir genau sagen, was physiologisch in mir vorgeht, ich wollte das so gut kennen, wie ich die Geige kenne. Sie half mir, den Kehlkopf zu entspannen. Es ging darum, die natürliche Brustresonanz, die ich beim Sprechen habe, in meine Singstimme zu inkorporieren, damit es wirklich wie ich klingt: Das ist Louise, das ist ihr Klang! Was wir Sänger tun, ist unnatürlich, no doubt, aber es sollte so natürlich klingen wie möglich.“

Für kurz unterbricht uns der Kantinenlautsprecher. „In wenigen Minuten beginnt das Vorsingen auf der Bühne. Good evening ladies and gentlemen…“ Das kennt Louise auch, acht Jahre ist es jetzt her. „Nach drei Jahren am Royal College of Music nahm ich an einem Wettbewerb teil, den ich nicht gewann. Aber Bernd Loebe hörte mich da, und ich durfte bei ihm in Frankfurt vorsingen.“ Es wurden fünf Jahre im Ensemble der Frankfurter Oper daraus, „mein Gehirn stand in Flammen! Immer mehrere Produktionen gleichzeitig, manche alt, manche neu. Diese Erfahrung hätte ich im United Kingdom nie machen können, es gibt da kein Ensemblesystem. Und ich fühlte mich als Teil einer großen Familie.“

Es wundert sie ein bisschen, dass nicht viel mehr britische Sänger:innen auf dem Kontinent auftreten. „Es gibt im UK nur sechs größere Opernhäuser, das reicht nicht für die Zahl der Sänger! Zudem werden die darstellenden Künste in meiner Heimat nicht als etwas Wichtiges gesehen, das wurde während der Pandemie sehr deutlich. Aber sie kämpfen. Und sie kämpfen gut!“ Alle kreativen Leute auf den britischen Inseln, sagt sie, fühlen sich europäisch. „Wir spielen europäische Musik! Der Gedanke, dass Menschen das als Teil ihrer Identität nicht mehr wollten, war uns vollkommen fremd. Der Brexit hat das UK entzweit. Wir haben das Gefühl, dass es kein Vereintes Königreich mehr ist.“

Was fand sie schlimmer, Brexit oder Lockdown? Louise lacht, aber bitter. „Die Pandemie hat die Folgen des Brexit maskiert. Wer den für eine gute Idee hielt, kann jetzt nicht klar erkennen, dass es keine gute Idee war, denn die Pandemie war schlimm für alle, besonders für alle Freelancer, mit Geldsorgen und Identitätskrisen.“ Sie selbst hat in der auftrittslosen Zeit social media als Mittel der Arbeit mit jungen Sängern entdeckt. „Das richtete mich auf! Es waren 140 junge Sänger aus 25 Nationen, denen ich feedbacks geben konnte. Ich wäre im Himmel gewesen, wenn es schon während meines Studiums die Möglichkeit gegeben hätte, Tipps von Leuten at the top of their game zu bekommen!“

Auf der Höhe des Spiels ist sie nun selbst, die wenig später, noch mit dicken Sportschuhen und schon mit Zofenschürze, dem Grafen gegenübersteht, dritter Akt, erste Szene. Susanna lässt ihn auf ein Date hoffen, das ist Teil ihres Plans, sie lügt also. Oder? Es fasziniert sofort, wie Louise Alder und Daniel Okulitch die Ambivalenzen offenlegen, die da vom Klavier kommen und aus den Gesangslinien. Eine kleine Handbewegung, ein kurzer Blick, ein Ton, den sie von ihm übernimmt… Ja, der Conte ist ein egomaner Macho, aber seine Sehnsucht ist tief. Ja, Susanna spielt mit ihm, aber ungefährlich ist das Spiel nicht. Daran wird nun gefeilt. Heikle Intimität, feine Komik, ein Labor der Emotionen, Hochspannung, die sich zwischendurch in Probenspäßen entlädt.

Mit Mozart würde sie gern einen trinken gehen, hat Louise gesagt, die so alt ist wie der Komponist, als er starb. „Er kannte das Leben, und wie. Das Leben muss zu seiner Zeit auf eine Weise hart gewesen sein, die wir nicht ergründen können. Und er hatte einen Sinn für dreckige Witze. Das mag ich sehr.“

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 93, Magazin der Oper Zürich, Juni 2022, in geringfügig kürzerer Fassung. Das Foto von Admill Kuyler zeigt Louise Alder auf einer Probe zu Le nozze di Figaro. Premiere ist am Sonntag, 19. Juni 2022, 19 Uhr. Stefano Montanari dirigiert, Andreas Homoki führt Regie, neben Louise Alder singen u.a. Daniel Okulitch (Conte), Anita Hartig (Contessa), Morgan Pearse (Figaro).

 

“Früher war ich viel vorsichtiger”

Morgens in Milano: Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller über Extremsituationen, arrangierte Ehen und italienische Opernbesucher

scala, 29 3 22

An einem Vormittag mitten in der Spielzeit kann man sich auf der Piazza della Scala in Mailand kaum vorstellen, was für ein Trubel hier am großen Abend des Jahres herrscht, zum berühmten Saisonstart im Dezember, ein Ritual mit Demonstranten und Zaungästen, Polizei zu Pferd und zu Fuss, mit Prominenz und Paparazzi. Selbst der Abend von gestern scheint schon wieder weit weg zu sein, eine Vorstellung von Don Giovanni, in der Regie von Robert Carsen. Die Scala steht fast bescheiden im Licht eines bewölkten Frühlingsvormittags, und im Café Il Foyer gleich nebenan findet man leicht einen freien Tisch. Der jungen Frau, die sich da niederlässt, sieht man nicht an, dass sie gestern Abend eine der anspruchsvollsten, abgründigsten Partien für lyrischen Sopran gesungen hat, verkörpert in einer faszinierenden Mischung aus Verwirrung und Entschlossenheit, die Stimme glühend und silbern zugleich.

Hanna-Elisabeth Müller wirkt so frisch, als hätte sie eine Reihe erholsamer Tage in Mailand hinter sich – dabei steht sie als Donna Anna jeden zweiten Abend auf der Bühne des vielleicht berühmtesten Opernhauses der Welt. Sie lebt hier nur für diese Figur, die sie zum allerersten Mal vor fünf Jahren sang, ebenfalls an der Scala. Hat sich seitdem ihre Anna verändert? «Ich habe gerade in den letzten Tagen daran gedacht», meint sie. «Meine Anna ist jetzt viel stärker vom ersten Moment an. Früher war ich viel vorsichtiger, wahrscheinlich auch wegen des Rollendebüts, die Rolle muss ja auf der Bühne erst ersungen werden. Ich dachte früher, sie sei vom Gemüt her viel zarter, das glaube ich gar nicht mehr. ‹Or sai chi l’onore… jetzt weisst du, wer mich entehren wollte›, das ist fast bedrohlich. Sie ist nicht hysterisch, sie ist ausser sich. Sie kann auch nicht erkennen, dass Don Ottavio ihr eigentlich Halt geben könnte. Menschen in Extremsituationen können auch ausbrechen.» So etwas umzusetzen ist an der Scala eine besondere Herausforderung. «Das Publikum hier weiss, was ein guter Don Giovanni ist. Ein grosser Prozentsatz kann den Abend mitsingen. Die kennen noch fünf andere Donna Annas und vergleichen auch alle, und zwar radikal, das finde ich nicht verkehrt. Wenn die einen gut finden, darf man sich freuen.»

104_K61A4222Hanna-Elisabeth-Muller-e-Bernard-Richter_credit_BresciaAmisano_TeatroallaScala-001

Ist es ein weiter Weg von Donna Anna zu Arabella, der Titelheldin in Strauss’ später Oper, die sie im Mai in Zürich zum ersten Mal singen wird? Zu einem wohlerzogenen, fast harmlosen Mädchen? «Harmlos, das glaube ich nicht. Eher gezeichnet von dem Leben, in dem sie sich da befindet.» Hanna kennt die Oper bestens aus der Perspektive von Zdenka, Arabellas Schwester – in dieser Rolle wurde sie vor acht Jahren in Salzburg mit einem Schlag bekannt. «Der erste Blick, den man auf Arabella hat, zeigt tatsächlich ein verwöhntes Mädchen, dem man auferlegt hat, mit einer guten Heirat die Familie zu retten. Wenn man das nur liest, wirkt es so unbekümmert, unbelastet. Aber wenn man ein bisschen am Lack kratzt, zeigt sich, der Druck auf sie ist immens. Das Geld der Eltern reicht schon seit fünfzehn Jahren nicht, im Hintergrund gibt es Kriegsgeschehen, eher eine düstere Zeit. Und dass sie in einem Hotel leben – ich kann mir vorstellen, dass es die letzte Etage oben ist, wo mal die Dienstmädchenzimmer waren.» Und sie ist sich gar nicht so sicher, ob uns eine Situation historisch wirklich schon entrückt ist, in der Eltern die Ehe planen wie im Wien der 1860er von Arabella. «Arrangierte Ehen gibt es heute viel mehr, als man es mitbekommt, nur nicht so offen, gerade in betuchten Familien. Töchter werden auf bestimmte Schulen der Elite geschickt und sollen da bitte auch ihren Ehemann kennenlernen, oder sie gehen schon als Kinder Golf spielen, damit sie sich in einem gewissen Kreis befinden und nicht im Sportverein mit der Dorfjugend, die abends ein Bier trinken geht. Die sind dann halt im Golfclub und essen Clubsandwich.» Sie lacht und greift zum Schokocroissant neben ihrem Capuccino.

Doch wie nah oder fern uns gesellschaftliche Verhältnisse in den Opern der letzten vier Jahrhunderte sein mögen, «die Gefühle und Emotionen bleiben immer gleich, sie werden nur anders gelebt und erlebt. Alles, was vertont wurde, ist noch mal viel ehrlicher, weil es durch die Musik verstärkt wird. Man kann nur Kniefälle machen vor diesen begnadeten Komponisten. Wie es möglich ist, dass man eine Emotion erkennt, ohne den Text zu lesen!» In ihrer neuen Partie bewegt sie Arabellas Monolog «Mein Elemer…» besonders, nicht nur wegen der widersprüchlichen, ungewissen Gefühle darin. «Den Text hat Hofmannsthal kurz vor seinem Tod noch hinzugefügt, und das hatte Strauss sicherlich im Kopf, als er ihn vertonte. Da ist eine Schwere drin und etwas Bedrückendes. Ich höre da auch viele Parallelen zu den Vier Letzten Liedern

Parallelen interessieren Hanna-Elisabeth Müller sowieso, Querverbindungen, «Gruppierungen», wie sie sagt. Darum hat sie vor fünf Jahren für ihre erste CD als Liedsängerin Werke von Richard Strauss, Arnold Schönberg und Alban Berg zusammengestellt unter dem Titel, den Bergs aussergewöhnliche, frühe Rilke-Vertonung von 1907 trägt: Traumgekrönt. «In welchem Feld diese Komponisten sich zur gleichen Zeit bewegen konnten, das ging stilistisch so weit auseinander und doch mit so vielen Überschneidungen – da wollte ich Parallelen ziehen. Ich finde es auch schön, wenn man im Konzert als Hörer von so einem Konzept wachgehalten wird.» Es ist eines der spannendsten Liederalben der letzten Jahre – und absolut kein Mainstream. «Es war einfach klar, dass es dieses Programm sein muss! Ich dachte, wenn ich eine CD aufnehme, dann so oder gar nicht.»

Was den Mainstream betrifft, die Orientierung an dem, was den breitesten Erfolg hat – sie versteht Leute, die «auf Nummer sicher» gehen, «das ist auch eine Art zu leben und nicht verwerflich! Je mehr man gegen Erwartungen angeht oder sie einfach nicht annimmt, desto verletzlicher ist man. Es ist anstrengender in jeder Hinsicht. Ich kann auch bei Künstlern nachvollziehen, dass man nicht rausfallen will. Aber es muss auch möglich sein, eine Interpretation oder ein Programm zu machen, womit man völlig danebenliegen könnte. Sonst wäre die Kunst ja langweilig!» Und Sänger sollten unverwechselbar sein: «Im besten Fall weiss man beim Blindhören nach zehn Sekunden, wer es ist!» Hat es früher mehr Unverwechselbare gegeben in der Welt der Sängerinnen und Sänger? «Vielleicht. Aber vor fünfzig Jahren war Oper sehr glamourös und die Sänger waren als Stars unterwegs, fast arrogant. Ich würde immer Menschen einladen wollen, mitnehmen, da abholen, wo sie gerade ihren Kopf haben.» Nirgendwo freilich sei solche Nähe möglich wie beim Liederabend. «Da kann ich fast flüstern! Ich versuche es auch auf einer Bühne wie hier, aber das ist ein anderes Flüstern, eine andere Stimmansprache, mit so einem Riesenorchester.»

Dass sie überhaupt mal auf der Opernbühne stehen würde, hat sie übrigens noch mit 24 Jahren nicht gedacht, und nach dem Abitur sah sie sich noch als künftige Zahnmedizinerin. «Es ist ein schöner Beruf. Alle, die hingehen, finden es schrecklich, und danach sind sie erleichtert, glücklich, und haben keine Schmerzen mehr. Und es ist auch ein ästhetischer Beruf!» Aber da war ihre Chorleiterin und Gesangslehrerin, die ihr vorschlug, sie könne doch mal ein paar Aufnahmeprüfungen für ein Gesangsstudium machen, «nur damit wir wissen, wie der Stand der Dinge ist. Und dann haben mir die Vorbereitungen und die Prüfungen soviel Spaß gemacht, dass ich mich dafür entschied.» Aber noch lange nicht für die Oper, «ich wollte Konzertsängerin werden!» Als sie dann aber von der Mannheimer Hochschule ins Opernstudio der Bayerischen Staatsoper kam, ging alles ganz schnell… und am schnellsten der Weg über die Maximilianstrasse, in unverhoffte Nähe zu einer der Größten ihres Fachs. «Ich brauchte unbedingt einen Friseurtermin, und in der Maske sagten sie mir, geh doch rüber zu Pauli! Da hat mich ein älterer Herr frisiert, der fing an zu erzählen, bis ich sagte, ich hab’ gleich Probe. Ach, eine Sängerin, sagte er, und dass er so gern an die Lucia denkt. Lucia Popp, die hat er immer frisiert!»  Hanna ist dann jahrelang seine Kundin geblieben.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 92 der Oper Zürich, April 2022, sowie online. Das Foto von Brescia Amisano zeigt Hanna-Elisabeth Müller als Donna Anna auf der Bühne der Scala, mit Bernhard Richter als Don Ottavio. Piazza della Scala: Foto des Autors

“Dieses Risiko liebe ich unendlich”

März 2022: Ein Treffen mit Peter Rundel, der vom Geiger im Ensemble Modern zu einem der besten Dirigenten neuer Musik wurde und in Zürich die Uraufführung der Oper Girl with a Pearl Earring vorbereitet

Immer wieder ein Crescendo und Decrescendo, Rasseln und Rappeln von Rädern auf schmalspurigen Schienen und Weichen, Signaltöne dazu, voller Varianten. An dieser Ecke des Sechseläutenplatzes kreuzen und bündeln sich gleich fünf Tramlinien, so dass wir gleichsam im Klang des Transits sitzen, draußen vor der Brasserie. Das passt bei einem Musiker, der so viel unterwegs ist wie Peter Rundel, der in seinem Leben mehr als einmal das Gleis wechselte und dem nur ein Gleis sowieso zu wenig wäre. Der vor zwei Tagen noch in Porto war, um dort, wo er auch lebt, sein Ensemble für neue Musik zu leiten, und heute mit der Philharmonia Zürich zum ersten Mal die Partitur von Stefan Wirths Oper Girl with a Pearl Earring erkundet hat.

Und der noch Geiger war, als wir uns, im vorigen Jahrhundert, knapp verpassten. Peter Rundel verliess die Musikhochschule Hannover gerade, als ich dort zu studieren anfing. Da hatte er allerdings schon einen weiten Weg vom Bodensee bis nach New York hinter sich. Hannover war die letzte Station, «ehe ich ins Ensemble Modern reingerutscht bin, und das hat meinen weiteren Lebensweg bestimmt.» Er blinzelt in die Spätnachmittagssonne, energisch, gespannt, nicht ungeduldig, obwohl in den dicken Partituren auf dem Schemel neben ihm noch viel Probenarbeit wartet, auch gleich nach unserem Treffen.

rundel_peter_22sw.330x0

Rundel gilt als einer der besten Dirigenten für neue Musik. Aber die war es gar nicht, die ihn als 25-Jährigen zum jungen Ensemble Modern brachte, sondern dessen Arbeitsweise. «Ich wollte alles, nur nicht ins Orchester», sagt er. «Das Orchester als sozialer Körper hat mich damals geängstigt mit den hierarchischen Strukturen. Kammermusik als Arbeitsweise war mein Ideal, und das habe ich beim Ensemble Modern in einer Form verwirklicht gefunden, die ich mir nicht erträumt hätte, in höchstem Masse freundschaftlich, professionell, engagiert. Viele dort waren wie ich Greenhorns, mit dem Anspruch, dieses Gebiet der neuen Musik nach und nach zu erobern. Dann gleich mit tollen Dirigenten, interessanten Komponisten zusammenzuarbeiten, das war so kreativ!»

Es weitete den Horizont so, dass er sich um die Dreißig herum fragte: «War’s das jetzt?» Er lacht. «Ich war quasi etabliert als Geiger und fühlte mich richtig wohl, auch mit der Musik, aber ich begann parallel, ein Dirigierstudium anzufangen. Ich bin ein Späteinsteiger, was das betrifft, und es wäre an meinen mangelnden Klavierkenntnissen fast gescheitert. Aber ich habe mich immer schon wahnsinnig gern mit Partituren beschäftigt.» Das geht auf eine keineswegs luxuriöse Kindheit zurück, auf seinen Vater, einen Bauernsohn am Bodensee, der sich selbst und seinen vier Kindern das Blockflötenspiel beibrachte «und mit einem autodidaktischen System, das etwas krude war, aber unheimlich effektiv, das Lesen von Musik. Das war ganz schnell da.»

Da setzte auch Rundels erster und wichtigster Dirigierlehrer an, Michael Gielen. «Das Dirigierhandwerk hat ihn überhaupt nicht interessiert. Was wir da gemacht haben, war Analyse. Wir sassen stundenlang über Partituren von Mozart, Schumann, Brahms. Seine Überzeugung war: ‹Wenn ihr nicht wisst, wie das gemacht ist, braucht ihr gar nicht erst den Taktstock zu heben.›» Zugleich hat ihn Gielen als Vollblutmusiker beeindruckt. «Der hat sich ans Klavier gesetzt, La bohème gespielt, alle Partien gesungen und, während er spielte, auch noch die Handlung erklärt!» Die Schlagtechnik, «der Umgang mit dem Körper, das Dirigieren von Charakteren», das nahm Rundel dann von Peter Eötvös mit, dem nächsten Lehrer. Inzwischen gibt er es selbst lehrend weiter. «Auf dem Streichinstrument gibt es ja unendlich viele Artikulationen von legato bis staccatissimo. Genauso wandelbar sollte ein Schlag sein.»

Wie wandelbar, das werde ich später bei der Orchesterprobe an der Kreuzstrasse erleben, auch wenn das noch ein frühes Stadium der Stückerkundung ist. Wie Rundel, sitzend, den ganzen schmalen Körper unter Spannung hat und diese Spannung in kleine, genaue, federnde Gesten umsetzt, bei denen es eben nicht egal ist, ob eine Hand nach innen gebogen wird oder einen knappen Kreis nach aussen beschreibt. Klingt die Partitur von Stefan Wirth denn so, wie er sie sich vorgestellt hat beim Lesen? «Ich habe so viel Erfahrung angehäuft! Es gibt ein ständiges Lernen durch die Praxis. Man stellt sich etwas vor, korrigiert das an der Realität, und das entwickelt sich immer weiter, sodass ich jetzt nicht wahnsinnig überrascht war. Aber natürlich gibt es Überraschungen, etwa dass Dinge schöner und interessanter klingen, als man sie sich vorgestellt hat.»

Wirth habe sich inspirieren lassen von der Idee der Farben, des Malens, der Schichtungen. «Er arbeitet viel mit Klangflächen, die sich in den grossen Tuttistellen überlagern, aber er denkt auch ganz stark polyrhythmisch. Ob das jetzt Glocken sind oder pizzicati – es gibt rhythmische Schichten, die in verschiedenen Tempi gleichzeitig ablaufen, vielleicht ein Bild für die vergehende Zeit. Und alles, was die Sänger singen, ist ganz nah am Sprachduktus komponiert… ja, man kann an Janáček denken.»

Wie die Philharmonia Zürich und andere Orchester heute an neue Partituren herangehen, das sei nicht zu vergleichen mit den Jahren seiner Anfänge als Dirigent. «Was mir da zum Teil für ein Wind entgegenwehte, auch in sehr guten Orchestern! Mittlerweile hat man Orchestermusiker, die versierter und offener sind. Nicht alle lieben die neue Musik, das erwarte ich auch gar nicht, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner, und die Philharmonia hier in Zürich hat schon viel Erfahrung mit den avanciertesten Spieltechniken.»

Und Peter Rundel seinerseits hat mit Opern, auch denen des Repertoires, weit mehr Erfahrung, als unter das Etikett «Neue-Musik-Dirigent» passt. Er liebt das Genre zutiefst, «wegen der Spontanität, die das Operngewerbe hat. Da kann immer alles passieren, dieses Risiko liebe ich unendlich, die Fragilität, die das hat. Die Gefährdetheit eines Sängers, der sich auf die Bühne stellt und ohne Noten und mit einer Stimme einen Charakter verkörpert, mit all dem, was es impliziert, auch das Scheitern. Dem Moment ausgeliefert, nichts, was festgehalten werden kann. Der Moment und die Vergänglichkeit, daher kommen diese Energie und diese Magie. Manchmal ist es ein Wunder.»

Vielleicht werden solche Wunder in diesen Tagen besonders gebraucht, in einer bedrohlichen Zeit. Schon einmal hat Peter Rundel erlebt, wie die Arbeit an einer Oper mit dem Weltgeschehen zusammenfiel, im September 2001, als er an der Deutschen Oper Berlin mit dem Regisseur Peter Konwitschny zusammen Luigi Nonos Intolleranza probte. «Nine eleven passierte währenddessen. Das hat die Arbeit tatsächlich verändert, wie jetzt ja auch. Wir haben gerade in Porto, in der Casa da Música, die Oper Kassandra von Michael Jarrell im Konzert gespielt – als wir das programmierten, haben wir uns nicht ausmalen können, dass das so eine unglaubliche Präsenz und Aktualität entwickelt, aufgrund dieses Krieges.»

Die Sonne ist hinter den Höhen östlich des Sees verschwunden, und in den paar Minuten bis zum Aufbruch erzählt Peter Rundel noch von der geheimnisvollen Geige, die sein Vater besass, ihrer traurigen Geschichte und ihrer Anziehungskraft. Vier Jahre musste er warten, bis seine Hände gross genug für sie waren (für eine Kindergeige fehlte das Geld), dann ging alles so schnell, dass er mit fünfzehn Jahren Schule und Elternhaus verliess, um in Köln Geige zu studieren, «die richtig harte Schule.» Mit achtzehn stellte er alles in Frage, brach alles ab, wollte Schauspieler werden, schlug sich in New York durch. «Dann wurde mir aber doch immer klarer, dass die Musik zu stark ist.» Er lacht. «Ich war ziemlich freigeistig unterwegs.» Das ist er eigentlich immer noch. Nur, dass er nichts mehr abbricht. Ausser beim Proben wie in Takt 440, wo die Kontrabässe im Violinschlüssel spielen…

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 91 der Oper Zürich, April 2022, sowie online.