“Ich war keine Naturbegabung”

Treffen in der Zürcher Kantine: Die 35-jährige britische Sopranistin Louise Alder im Gespräch über Mozarts Susanna, ihren Umweg zur Oper und ein nicht mehr wirklich vereinigtes Königreich

Eine Eigenschaft gibt es, die auch jenseits der Bühne die meisten Sängerinnen und Sänger von Opern verbindet. Sie können unheimlich schnell umschalten, sich ohne Anlauf ganz auf eine Situation einlassen, offen reagierend auf alles, was da kommen mag. Auch wenn es die Fragen eines Journalisten sind, der jetzt eigentlich nicht so in den Plan passt, jetzt, da das Flugzeug aus London verspätet landete und die Bühnenprobe in 45 Minuten beginnt. Louise Alder nimmt in der Zürcher Opernkantine so entspannt Platz, als wäre es ihr freier Nachmittag. Kaum hat sie einen Becher Kaffee vor sich stehen, sprechen wir erstmal über eine Zofe aus dem 18. Jahrhundert, als hätten wir alle Zeit der Welt dafür.

Wie kommt es überhaupt, dass diese Susanna im Figaro uns interessieren kann, eine Subalterne in einer längst Geschichte gewordenen feudalen Gesellschaft? Louise Alder, die diese Rolle bislang in vier verschiedenen Produktionen sang, verweist keineswegs gleich auf Mozarts Musik. „Sein Librettist da Ponte“, meint sie, „war sehr clever, wie er die story anlegte. Das war ein Skandal zu der Zeit, Diener als zentraler Teil der Handlung. Ich wuchs natürlich nicht mit Dienern auf, ich komme andererseits auch nicht aus einer Familie von Dienern. Aber ich verstehe die Schwierigkeiten in ihrem Leben. Das ist näher an uns als Händels Götter und Könige, und niemand wird in einen Bären verwandelt.“ Sie lacht.

Es macht ihr Spaß „to inhabit the role, diese Rolle zu bewohnen“. Denn bei allem, was sich von einer Produktion zur andern ändere, „her spirit never changes. Sie ist stark und positiv, gerissen, clever. Sie hat die Fäden in der Hand. Und sie fühlt sehr viel.“ Was allerdings sie fühlt, das sei sehr abhängig vom Ensemble, nicht nur vom Stück und von der Regie. „Der Graf des einen Sängers ist anders als ein anderer, darauf reagiere ich.“ Spannend findet sie es auch, beim Leben mit einer Rolle über Jahre hin zu merken, wie sie selbst sich entwickelt, „mit der Sophie im Rosenkavalier ist das auch so. Charakterlich und vokal ändert sich etwas, manche Elemente werden stärker als andere. Und je besser du das Stück kennst, desto besser kannst du es spielen.“

louise alder

Lebenserfahrung brauche man auch, um in eine Rolle zu finden. Dass sie selbst Angst und Schmerz kenne – wovon ihr helles, offenes Gesicht jetzt keine Spur verrät – helfe ihr für die Pamina in der Zauberflöte, „sonst ist es schwer, das zu machen. Ich bin ja ganz froh, dass meine Mutter mich nie aufgefordert hat, jemanden zu töten, so wie die Königin der Nacht das tut.“

Ganz besonders nicht diese Mutter. Die Geigerin Susan Carpenter-Jacobs hat das auf historischen Instrumenten spielende Orchestra of the Age of Enlightenment in eben dem Jahr 1986 mitbegründet, in dessen November ihre Tochter zur Welt kam. Und als im Sommer 1989 die Proben zum Figaro in Glyndebourne begannen, mit dem 34-jährigen Simon Rattle am Pult, war die Zweijährige dabei. „Es war eins der ersten Stücke, die ich je hörte. Meine ganze Kindheit lang wurde ich da mit hingenommen, deswegen ist Mozart bei mir wirklich im Blut.“ Eine Garantie für eine Musikerlaufbahn sei das keineswegs. „Die Kinder der Kollegen meiner Eltern, meine Freunde, haben sich sehr unterschiedlich entschieden. Einige wollten unbedingt Musik machen, andere konnten sich gar nichts Schlimmeres vorstellen.“ Sie selbst brauchte eine Weile, „um Oper nicht als etwas zu sehen, wo meine Eltern mich hinschleppten.“

Als Teenager begann sich Louise für die Stories, Inszenierungen, Sänger:innen des Musiktheaters zu interessieren, „und im Kopf hatte ich einen Traum vom Singen, ganz sicher. Aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte. Mein Vater singt im Extrachor von Covent Garden, er ist kein Solist.“ Von früh an spielte sie Geige und Oboe, „aber direkt auf ein music college wollten meine Eltern mich nach der Schule nicht gehen lassen. Sie wollten eine breitere Ausbildung, also studierte ich Musikwissenschaft in Edinburgh.“ Und da gab es eine sehr gute Gesanglehrerin, die sie auf die Bahn brachte. Und auch gleich auf die Unibühne, wo Louise ihre Liebe zum Musical und ihr Tanztalent auslebte.

Aber ihr Interesse an Oper überwog und führte sie ans Royal College of Music nach London. „Ich war gesangstechnisch überhaupt keine Naturbegabung“, meint sie, „und musste wirklich arbeiten, um meinen Weg zu finden.“ Sie schwärmt von den Lehrerinnen, die ihr dabei halfen. „Patricia MacMahon hat mir klar gemacht, dass ich ohne guten Werkzeugkasten nicht weit kommen würde. Mein Musikverständnis war weit über meiner Technik, und bei ihr begann ich Freude am Verlangsamen zu finden, Schritt für Schritt die Löcher auszufüllen. Und Dinah Harris konnte mir genau sagen, was physiologisch in mir vorgeht, ich wollte das so gut kennen, wie ich die Geige kenne. Sie half mir, den Kehlkopf zu entspannen. Es ging darum, die natürliche Brustresonanz, die ich beim Sprechen habe, in meine Singstimme zu inkorporieren, damit es wirklich wie ich klingt: Das ist Louise, das ist ihr Klang! Was wir Sänger tun, ist unnatürlich, no doubt, aber es sollte so natürlich klingen wie möglich.“

Für kurz unterbricht uns der Kantinenlautsprecher. „In wenigen Minuten beginnt das Vorsingen auf der Bühne. Good evening ladies and gentlemen…“ Das kennt Louise auch, acht Jahre ist es jetzt her. „Nach drei Jahren am Royal College of Music nahm ich an einem Wettbewerb teil, den ich nicht gewann. Aber Bernd Loebe hörte mich da, und ich durfte bei ihm in Frankfurt vorsingen.“ Es wurden fünf Jahre im Ensemble der Frankfurter Oper daraus, „mein Gehirn stand in Flammen! Immer mehrere Produktionen gleichzeitig, manche alt, manche neu. Diese Erfahrung hätte ich im United Kingdom nie machen können, es gibt da kein Ensemblesystem. Und ich fühlte mich als Teil einer großen Familie.“

Es wundert sie ein bisschen, dass nicht viel mehr britische Sänger:innen auf dem Kontinent auftreten. „Es gibt im UK nur sechs größere Opernhäuser, das reicht nicht für die Zahl der Sänger! Zudem werden die darstellenden Künste in meiner Heimat nicht als etwas Wichtiges gesehen, das wurde während der Pandemie sehr deutlich. Aber sie kämpfen. Und sie kämpfen gut!“ Alle kreativen Leute auf den britischen Inseln, sagt sie, fühlen sich europäisch. „Wir spielen europäische Musik! Der Gedanke, dass Menschen das als Teil ihrer Identität nicht mehr wollten, war uns vollkommen fremd. Der Brexit hat das UK entzweit. Wir haben das Gefühl, dass es kein Vereintes Königreich mehr ist.“

Was fand sie schlimmer, Brexit oder Lockdown? Louise lacht, aber bitter. „Die Pandemie hat die Folgen des Brexit maskiert. Wer den für eine gute Idee hielt, kann jetzt nicht klar erkennen, dass es keine gute Idee war, denn die Pandemie war schlimm für alle, besonders für alle Freelancer, mit Geldsorgen und Identitätskrisen.“ Sie selbst hat in der auftrittslosen Zeit social media als Mittel der Arbeit mit jungen Sängern entdeckt. „Das richtete mich auf! Es waren 140 junge Sänger aus 25 Nationen, denen ich feedbacks geben konnte. Ich wäre im Himmel gewesen, wenn es schon während meines Studiums die Möglichkeit gegeben hätte, Tipps von Leuten at the top of their game zu bekommen!“

Auf der Höhe des Spiels ist sie nun selbst, die wenig später, noch mit dicken Sportschuhen und schon mit Zofenschürze, dem Grafen gegenübersteht, dritter Akt, erste Szene. Susanna lässt ihn auf ein Date hoffen, das ist Teil ihres Plans, sie lügt also. Oder? Es fasziniert sofort, wie Louise Alder und Daniel Okulitch die Ambivalenzen offenlegen, die da vom Klavier kommen und aus den Gesangslinien. Eine kleine Handbewegung, ein kurzer Blick, ein Ton, den sie von ihm übernimmt… Ja, der Conte ist ein egomaner Macho, aber seine Sehnsucht ist tief. Ja, Susanna spielt mit ihm, aber ungefährlich ist das Spiel nicht. Daran wird nun gefeilt. Heikle Intimität, feine Komik, ein Labor der Emotionen, Hochspannung, die sich zwischendurch in Probenspäßen entlädt.

Mit Mozart würde sie gern einen trinken gehen, hat Louise gesagt, die so alt ist wie der Komponist, als er starb. „Er kannte das Leben, und wie. Das Leben muss zu seiner Zeit auf eine Weise hart gewesen sein, die wir nicht ergründen können. Und er hatte einen Sinn für dreckige Witze. Das mag ich sehr.“

 

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 93, Magazin der Oper Zürich, Juni 2022, in geringfügig kürzerer Fassung. Das Foto von Admill Kuyler zeigt Louise Alder auf einer Probe zu Le nozze di Figaro. Premiere ist am Sonntag, 19. Juni 2022, 19 Uhr. Stefano Montanari dirigiert, Andreas Homoki führt Regie, neben Louise Alder singen u.a. Daniel Okulitch (Conte), Anita Hartig (Contessa), Morgan Pearse (Figaro).