Kategorie-Archiv: Begegnungen

„Wie kriege ich diese Energie zustande?“

Chris Kondek ist einer der besten Video-Designer des Theaters. Wir haben uns am Rand von Amsterdam getroffen, wo er Stockhausen illuminiert

Ein Gasbehälter im Stil der holländischen Neorenaissance, kreisrund, unten steinerne Bögen, oben Eisenrippen. Hinter Bäumen ist er verborgen und gar nicht so leicht zu finden, trotz seiner Größe. Längst ist aus der Industrieruine ein Kulturzentrum im Westen von Amsterdam geworden, das an diesem Maientag einem hermetischen Kolosseum ähnelt: Probe, Zutritt nur für Eingeweihte. Chris Kondek  führt mich im Halbdunkel rasch zu einem Sitz und macht mich leise auf Stockhausens berühmteste Interpretin aufmerksam: „Kathinka Pasveer ist die in der Mitte, die Anweisungen gibt. So, ich muss zurück ins control center.“ Er huscht an seinen Platz in der Reihe mit den vielen Laptops, Meister jener Bilder, die auf riesigen LED-Screens über der Bühne leuchten.

Das gewaltige Rondell aus dem 19. Jahrhundert ist wie geschaffen für das Wahnsinnsprojekt, für das Chris Kondek die Videos gestaltet, ehe er zur nächsten Produktion nach Zürich kommt. Alle sieben Tage aus Stockhausens Heptalogie Licht, komprimiert auf siebzehn Stunden. Eine unfassbare Menge Arbeit, auch für den wohl erfahrensten und namhaftesten Video-Designer im Theaterbereich. „Wir arbeiten wahnsinnig schnell, vieles passiert in den Pausen. Hier wird noch etwas für einen Anschluss, einen Lichtwechsel gebraucht, kannst du es grün oder schneller machen? Es ist wie Improvisieren auf einem Instrument, aber du musst schon viel Zeug haben, um das zu mixen.“

Wobei das nicht irgendein Zeug ist. Gerade beim Musiktheater, wo Zeitabläufe in der Partitur festgelegt sind und anders inszeniert und geprobt wird als im Sprechtheater, muss die Konzeption vorher gemacht werden. „Eine Idee dabei war in diesem Fall Max Ernst, den Stockhausen sehr liebte. Also habe ich die Collagetechnik von Ernst mit meiner verbunden, Bilder, die ein bisschen komplizierter sind, verschiedene Levels in sich haben, so wie mittelalterliche Bilder, die hinter dem Dargestellten voller Symbole sind.“ Wir unterhalten uns in der Probenpause im Vorzelt. Chris zersäbelt mit dem Holzmesser heißhungrig ein Schnitzel, ein mittelgroßer, schlanker Typ mit Brille und Keine-Zeit-zum-Rasieren-Bart, sehr jungenhaft für einen Endfünfziger, und mit der rasanten, lockeren Sprechart der New Yorker.

Er wurde an der US-Ostküste groß, in New York und Boston, von wo der Sohn eines Musicalregisseurs nach dem College ins kanadische Montreal zog: „Drei Jahre lang low budget horror movies, als zweiter Kameraassistent. Ich mochte das wirklich!“ Er lacht. Danach wollte er in New York Karriere beim Film machen, landete aber, weil ihm das zu langsam ging, in der Wooster Group, einem kleinen Experimentaltheater. „Ich war Techniker, kümmerte mich um das Licht und sollte rauskriegen, wie dieses Videozeug funktioniert. Was wir jetzt machen, war damals unmöglich. Crossfade, Überblenden von zwei Videos, dafür hätten wir Geräte für 12.000 Dollars gebraucht. Heute machen Kinder das auf ihren Phones! Dann kamen die ersten bezahlbaren Super 8 Kameras, die konnte man auf die Bühne stellen und direkt an einen Bildschirm anschließen.“

Er hat sich als Künstler gemeinsam mit der Technik entwickelt. Alles, was er, learning by doing, entdeckte, kam gleich auf die Bühne. Seine Projektionen hatten eine Helligkeit von 900 Lumen, „das ging nur bei totaler Dunkelheit, heute würde man keine Show unter 20.000 machen. Das ist ein Sprung wie von der Kerze zur Gasbeleuchtung. Und jedes Bild, das ich brauchte, war schwer zu finden. Jetzt tippe ich ein paar Suchwörter, und da ist es.“ Er sucht dabei bevorzugt nach alten Dokumentarfilmen. „Ich brauche mindestens dreißig Sekunden lange takes für meine Arbeit. Heute wird alle drei Sekunden geschnitten, da wird gar nichts mehr angeschaut.“

Einer seiner Funde ist der Kölner Karneval um 1960, schwarzweiß, eine Kapelle mit Narrenkappen spielt, und der Kontrast, die Verbindung zur Musik des Rheinländers Stockhausen ist abgründig. Und was ist mit diesem roten Kreuz, das auf allen vier Screens von oben kommt, in der Mitte anhält und genau in der Sekunde, da zwei Klarinettisten einen tiefen Liegeklang erreichen, weiter sinkt? „Das passierte in der Probe. Glücklicher Zufall. Für den Moment fehlte noch etwas. Videos haben eine Art von Energie, die sich mit der Musik verbindet, sogar wenn sie scheinbar gegen die Musik gehen. Eins-zu-eins-Übersetzungen funktionieren sowieso nicht. Feuer zum Beispiel ist im Video nicht heiß und bedrohlich, sondern kalt. Du musst überlegen, wie kriege ich diese Art von Energie zustande.“ Er greift nach dem Glas vor sich. „Schon wenn es darum geht, wie Wasser in ein Glas gefüllt wird, ist es ein Unterschied, ob von hier oder von hier gefilmt wird. Das Bild muss das Gefühl davon transportieren, nicht es abbilden. Darum geht es andauernd: Wie kann man etwas nicht so aussehen lassen, wie es aussieht. The feeling of an object.“

1999 zog Chris nach Berlin, „for love, I met a girl… Ich wollte nur zwei Jahre bleiben. Aber die Theater waren sehr interessiert an Videoexperimenten, es gab Geld vom Senat, man sagte, der Typ kommt aus New York, der weiß, was läuft. Auf einmal machte das Leben mehr Spaß, ich hatte eine größere Wohnung und viel mehr Arbeit. In New York muss man sich abstrampeln, um einen Job zu kriegen! In Berlin war alles weniger stressig.“ Ersten Berliner Produktionen folgte Alibi von Meg Stuart am Schauspiel Zürich, „mein Durchbruch in Europa“, er entwarf eigene, schräge Performances für das Berliner HAU, über die er in Kontakt mit Sebastian Baumgarten kam. Für dessen Operninszenierungen hat er zahlreiche Videodesigns gemacht, etliche in Zürich, das umstrittenste in Bayreuth: Der Röntgenfilm atmender Lungen zum Tannhäuser-Vorspiel ließ die Premierengäste nach Luft schnappen.

Aber auch das verband sich mit der Musik. „Ich sehe mich nicht als Videokünstler, sondern als einen, der im Theater arbeitet. Wie die Anschlüsse gehen, wie Dinge erscheinen und verschwinden, der Rhythmus. Ich mache nie narrative movies, damit saugt man die ganze Energie aus dem Saal. Es darf nicht so sein, dass die Zuschauer keine Minute verpassen wollen. Das Video kann rapide wechseln von atmosphärischer Ergänzung zu Infos, es transportiert Erinnerungen… Also arbeite ich mit loops, Lichtwechseln, Geschwindigkeiten.“

Hat sich seine Ästhetik geändert mit den Jahren? „Ich versuche weniger junk zu machen und Bilder mit mehr Kraft. Mit Intensität. Ich erinnere mich an einen Moment bei Peter Brook, ein Schauspieler saß nur da, drei, vier Minuten. Dann…“ Chris hebt den Zeigefinger seiner rechten Hand und lässt ihn wieder sinken. „Alle fokussierten sich darauf. So viel Energie in dieser winzigen Geste!“

So etwas inspiriert ihn, und Malerei, nicht so sehr die Videokunst in Museen und Ausstellungen. „Meistens quasidokumentarische Videos der Künstler selbst, während sie irgendwas tun, schlecht gefilmt, schlecht beleuchtet, vielleicht weil das in einem bestimmten Kontext  als persönlicher Ausdruck akzeptiert wird“, sagt er mit verhaltenem Spott. „Bei einem guten Maler frage ich mich, wie bringt der es fertig, eine Person auf die Art auf den Stuhl zu setzen mit dem Licht? Nichts passiert, aber du fragst dich dauernd, was denkt die ? Du weißt nicht, warum, es ist magisch.“

Sein Denken in Bildern will er auch als Regisseur der Züricher Uraufführung von Last Call einsetzen – bei der das Video Design mal nicht von ihm kommt, sondern von Ruth Stofer. „Sie tut mir jetzt schon leid“, sagt er und parodiert gedämpft schreiend einen Bühnentyrannen: „No, no, not good enough!“ Dabei hasst er solche Typen. Und er freut sich auf die apokalyptische Groteske, in der die Elektronik so aus der Kontrolle gerät, dass die Menschen von der Erde fliehen. Nur ein Mann und eine Frau bleiben… „Nahe Zukunft, ein bisschen wie heute, aber eine Drehung weiter.“ Ein Stück zur Weltverbesserung? „Nein, unterhaltsam! Vielleicht können wir damit ein bisschen Spaß in unsere letzten Tage bringen…“ Er lacht leise, dann verschwindet er wieder im magischen Halbdunkel des Kolosseums.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien geringfügig kürzer im MAG, dem Magazin der Oper Zürich, im Juni 2019

 

“Ich will sehen, wie weit ich gehen kann”

Stéphanie d´Oustrac war als Kind extrem schüchtern. Jetzt singt sie vorzugsweise sehr gefährliche Frauen. Eine Begegnung am Rand der Züricher Produktion von Rameaus “Hyppolite et Aricie”

Welche mag sie sein? Ist sie überhaupt dabei? Wesen mit gewaltigen Rabenköpfen gehen umher, Frauen und Männer. Es wird noch nicht geprobt. Manche albern herum, zeigen einander die Schnäbel und spreizen die krallenbewehrten Finger. Eine Gestalt schreitet langsam auf und ab, unten weißer Reifrock, oben dringen unter dem schwarzen Kopfgefieder brünette Locken hervor. Eine Gangart, die den Blick anzieht, sehr konzentriert. Als die Gestalt die Arme ausbreitet, sieht es aus, als werde sie gleich singen. Ja, das ist Stéphanie d´Oustrac. Aber sie wird jetzt keinenTon singen. Im zweiten Akt von Hyppolite et Aricie ist nichts für Phèdre komponiert. Regisseurin Jetske Mijnssen verschafft ihr einen stummen Auftritt in Plutos Unterwelt.

Das ist eine andere Antike als die, in der die Mezzosopranistin zuletzt auf der Bühne stand, in den Troyens von Hector Berlioz an der Pariser Opéra Bastille. Da war sie Cassandre, mit gebündeltem, gleißendem Mezzosopran, heftig und exzessiv, die aufbegehrende Tochter des Trojanerkönigs, die spannendste Gestalt in dieser Produktion. Sie lacht hell auf, als ich damit unser Gespräch nach der Probe beginne. Nicht, weil das so komisch wäre – Stéphanie d´Oustrac lacht einfach gern, und sie wirkt so offen, wie sie in ihren Rollen geheimnisvoll und gefährlich ist. „Die Bastille ist so groß,“ meint sie, „da ist es schwierig, Nähe herzustellen. Man muss da ziemlich stark und muskulös singen. Ich hatte einen Monat, um das wieder herunterzufahren, und ich brauchte den auch. Bei Rameaus Phèdre in Zürich ist die Arbeit mit der Stimme ganz anders.“

Mit Rameaus Oper knüpft Stéphanie d´Oustrac an ihren Start ins Metier an. Denn ihre Bühnenkarriere begann mit barocker Musik in historischer Aufführungspraxis, zuerst bei William Christie. Der Gründer von Les Arts florissants suchte 1999 eine Médée für Lullys Oper Thésée, und Stéphanie, Gesangsstudentin in Lyon, fuhr zum Vorsingen nach Paris. „Da hörte ich so viele tolle Sänger, dass ich dachte: Du hast sowieso keine Chance! Dadurch verlor ich meine Angst. Das war wohl gut so.“ Wie gut das war, hat Emanuelle Haïm zu Protokoll gegeben, damals Assistentin von Christie und nun Dirigentin der Zürcher Produktion: „Das war die Médée, auf die wir gewartet hatten, ein Mädchen mit überragender szenischer Präsenz und perfekter Projektion der Stimme… und sie hatte die Qualitäten einer echten Schauspielerin!“

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„Das Schauspiel“, sagt Stéphanie, „war meine erste Leidenschaft und ist es immer noch. Ich war so extrem schüchtern, dass meine Mutter mich in eine Theatergruppe schubste, als ich neun war. Ich dachte, ja, das ist meine Heimat! Aber ich durfte immer nur den Pagen spielen.“ Sie lacht. „Dann war ich ein Jahr lang im Kinderchor in Rennes, mit elf. Danach bekam ich Asthma, aber ich wusste nun, dass ich singen wollte. Opern kannte ich überhaupt nicht. Was ich davon im Radio hören konnte, fand ich langweilig. Mit fünfzehn, sechzehn habe ich einen Liederabend mit Teresa Berganza gehört, ohne Bühne, aber sie hat trotzdem agiert, und da dachte ich, so möchte ich sein! Mein erster Auftritt auf der Bühne war eine Amateuraufführung von Purcells Dido and Aeneas, wir machten unsere Kostüme selbst, und ich war Belinda…pfff…erstaunlich!“

Als Stéphanie ein Star der französischen Barockszene wurde, war sie 25. „Seltsam, ich habe in der Zeit nie über anderes Repertoire nachgedacht. Hätte sich meine Stimme nicht verändert, hätte ich immer so weitersingen können. Aber ich wollte auch Herausforderungen. Wenn ich schon von meiner kleinen Tochter wegfuhr, musste es das wert sein.“ So ein Schritt war die Doppelrolle Muse und Niklausse in Les Contes d´Hoffmann, von Laurent Pelly inszeniert. „Ich kämpfte dauernd mit Schauspielen und Singen – meine Gesangstechnik kam nicht hinterher! Inzwischen weiß ich, dass man über den Rollencharakter vokale Probleme lösen kann. Das übe ich auch mit meinen Studenten. Du musst genau wissen, wer du bist in einer Rolle. Wenn das nicht klar definiert ist, singe ich mehr, als dass ich darstelle. Und wenn ich anfange, mir beim Singen zuzuhören, ob alles gut klingt, ist das das Ende.“

Von Jacques Offenbach aus kam sie weiter. 2010 war sie reif für Carmen, die sie jetzt auch in Dallas und Berlin singt, „aber mit meiner Stimme, nicht so eine – uhhhh – big voice. Carmen wurde ja auch nicht für ein großes Haus komponiert, in der Partitur steht fast nur pianissimo, piano, mezzoforte. Der Umgang mit solchen Opern ändert sich auch dank Cecilia Bartoli, sie bricht mit den Gewohnheiten.“ Auch ihrem besonderen Liebling Berlioz, findet sie, tut eine subtilere, lichtere Gangart ganz gut. Einer der Jüngeren in ihrem Repertoire ist übrigens ein Verwandter: Francis Poulenc. „Ich glaube, er war der Cousin eines Großvaters, aber so genau weiß ich es nicht, it´s a shame…“ Macht nichts, die Genealogie der Familie Badouel d´Oustrac ist schnell im Netz zu finden. Ihr Aufstieg im Aveyron, im Südosten Frankreichs, beginnt ziemlich genau zur Zeit von Rameaus Durchbruch in Paris. Ein Nachfahre dieser Bürger bringt es um 1900 zum Départementschef und heiratet eine Nichte jenes Emile Poulenc, dessen Sohn der Komponist ist – übrigens ein Nachfahre der Brüder, die zu Berlioz´ Zeiten Chemikalien für Fotografen herstellten. Aus ihrem Geschäft wurde später Rhône-Poulenc, der große Chemie- und Pharmakonzern…

Solche Großbürger meint Stéphanie d´Oustrac also, wenn sie sagt: „Meine bourgeoisen Vorfahren hätten eine Sängerin in der Familie für einen Skandal gehalten. Im 19. Jahrhundert war eine Sängerin eine Hure. Auch Poulenc als homosexueller Musiker war ein Skandal, aber zum Glück war er berühmt, daher war es okay…“ Sie findet es ihrerseits völlig okay, sich singend in repressive Rollenmodelle der Opern früherer Zeiten zu stürzen. „Das ist Teil unserer Geschichte, wir können nicht alles umgehen. Wir kommen selbst aus all dem und wissen, wir mussten kämpfen und sind damit auch nicht fertig. Dass ich eine moderne Frau bin, hindert mich erst recht nicht, auf der Bühne etwas zu rekreieren, was in einer anderen Zeit entstand. Das greift mich nicht an.“

Doch das entscheidende Profil einer Rolle entsteht für sie erst mit den Proben. „Wenn Jetske eine ältere Phèdre haben möchte, spiele ich die, aber nein, sie will eine jüngere, wahrscheinlich jünger, als ich selbst bin. Sie ist die dritte Frau von Thesée, wahrscheinlich liebt sie Hippolyte, weil sie einander in der Generation ähnlicher sind. Ich feile daran. Sie ist sehr frontal. Unglaublich, wie sie von Liebe zu Wut springt, da gibt´s kein Dazwischen“, sie macht eine scharfe Geste und ein fauchendes Geräusch. „Ich bin meist beim Proben nicht weniger intensiv als in der Aufführung, denn ich will sehen, wie weit ich gehen kann. Wenn ich mit halber Stimme singe, passe ich zu sehr auf die Energie auf.“

Die Vorstellung aber, man müsse sich nur mit Haut und Haaren in eine Partie schmeißen, sei komplett falsch. „Wir müssen mit unseren Stimmmuskeln klarkommen und sie ruhig halten, auch wenn es um Wut geht. Es ist eine riesige Arbeit, diese Distanz zwischen Gefühl und Körper. Ich sage meinen Studenen, haltet die Pferde fest, sonst könnt ihr nicht singen! Wir müssen so vieles zur gleichen Zeit kontrollieren. Das Tempo vom Dirigenten aufnehmen, die Distanz im Körper bewahren, emotional involviert sein… Aber genau das mag ich an Opern. Je mehr Zwänge, je mehr Dinge, die wir tun müssen, desto freier fühle ich mich! Diese schweren Perücken hier, die Reifröcke, die uns zu anderen Bewegungen nötigen – ich mag es, wenn man mir diese Zwänge auferlegt!“

Und wo fängt da die Freíheit an? Sie lacht schallend. „Ja, was meinen wir mit Freiheit? Es gibt all diese Anweisungen und Wünsche, und ich finde MEINEN Weg, das auszudrücken. Es ist meine Freiheit, das zu erschaffen. Ich fühle meine Kraft.“ Nur der prächtige schwarze Rabenkopf hat sie vorhin in der Probe an eine natürliche Grenze gebracht: „Ich bin allergisch auf Federn!“

Dieser Text erschien im MAG 69 der Oper Zürich, Mai 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Website der Oper Zürich 

“Ich wollte einen Platz im Leben finden”

Stephen Gould ist einer der besten Heldentenöre der Welt. Und er liebt Waldfruchtbuttermilchtorte. Eine Begegnung in Dresden

Er trägt schwere Schuhe mit Spikes, um im Schneematsch vor der Semperoper nicht auszurutschen. Ein Mann von dieser Größe und mit diesem Job darf auf keinen Fall ausrutschen. Stephen Gould ist sehr groß, wie seine Stimme. Die Fachbezeichnung lautet Heldentenor, dramatisches, schweres, deutsches Fach. Er zählt zu den wenigen, die damit international unterwegs sind, auf großen Bühnen von Dresden bis New York: Tannhäuser, Tristan, Siegfried. Und noch weniger sind es, die mit den Texten dieser Wagnerhelden derartig sensibel umgehen wie er. Gould steuert das Café Schinkelwache an. „Ein Stück Kuchen?“, fragt die Kellnerin. „Absolut! Man muss das haben!“ Er lacht tief, körnig und tragend. „Gibt es noch die Waldfruchtbuttermilchtorte?…Okay.“

Das Tortenstück bleibt dann noch lange intakt, weil Gould gern weit ausholt, mit seiner Stimme mühelos sich behauptend im Geklimper aus den Boxen, dem Geschirrklappern, den Gesprächsfetzen von den Nebentischen. Die Dresdner Inszenierung des Tannhäuser, die Peter Konwitschny vor nun schon 22 Jahren ersann, gefällt ihm immer noch, er sieht sie als Vorläufer des legendären Hamburger Lohengrin, mit dem ihn dieser Regisseur restlos überzeugt hat. „Besonders der dritte Akt ist hier stark. Die Gesellschaft ist krank, ehe Tannhäuser sie verlässt, und Konwitschny macht sich auch über die kindische Seite der Menschheit lustig.“ Auf die Inszenierung von Harry Kupfer in Zürich ist er gespannt, er, der schon fast hundert Mal den Tannhäuser gesungen hat.

Vielleicht weiß niemand so viel über diese Gestalt wie Stephen Gould, und das nicht, weil er besonders früh angefangen hätte, Wagner zu singen. Er war schon 38 Jahre alt, als er Heldentenor wurde. Er hat lange suchen und kämpfen müssen. 1962 als Sohn eines Methodistenpastors in Virginia geboren, mit einer Pianistin als Mutter, wollte er zur Oper, seit er zum ersten Mal eine gesehen hatte, mit siebzehn, La bohème. Stephen Gould studierte in Boston Gesang und kam dann ins Nachwuchsprogramm der Lyric Opera von Chicago. „Sie sagten mir, ich sei ein dramatischer Rossinitenor, und ich war in der Lage, das mit Kopfstimme und beinahe Falsett hinzukriegen. Aber das war das falsche Fach. Ich musste lyrischer Bariton werden. Und niemand brauchte einen.“

Um Geld zu verdienen, heuerte er beim Phantom der Oper an, acht Jahre auf Tour quer durch die USA. Das hat schon das Format einer heroischen Irrfahrt. Nebenrollen, tausende von Vorstellungen, alle nicht mit der Stimme, die in ihm schlummerte. Dann traf er John Fiorentino, einen Gesangslehrer, der lange an der MET gesungen hatte. „Er sagte, wir können dich zu einem dramatischeren Bariton machen, aber dann bist du a dime a dozen, man kriegt zwölf von denen für zehn Cent. Oder wir lassen deine Stimme entscheiden, wo es hingeht.“ Gould kündigte beim Phantom und wurde Angestellter der New Yorker Telecom, während er sich drei Tage pro Woche bei John Fiorentino alles abgewöhnte, was er bis dahin mit seiner Stimme gemacht hatte. „Ich hatte nie daran gedacht, Wagnersänger zu werden. Wagner fand mich. So war er schon immer. Er fand die Sänger, die seine Musik machen konnten.“

Drei Jahre dauerte die Arbeit am Fachwechsel zum Heldentenor. Dann sagte der Alte: „Such dir in Europa einen Job. Geh an ein deutschsprachiges Haus. In der Praxis lernst du das, was man nicht üben kann.“ Gould flog über den Atlantik, Sommer 1998, er sang vor, wo immer er konnte und durfte, „ich wurde nirgendwo akzeptiert. Ich war bereit, aufzuhören und den wirklich guten Job bei der Telecom in New York zu machen. Ich wollte einen Platz im Leben finden. In der letzten Woche, schon im Juni, bekam ich ein Angebot aus Linz. Und das war´s.“ Es gab einen wagemutigen Intendanten in Linz, Michael Klügl, der ließ einen unbekannten Norweger den Tannhäuser inszenieren und gab die Titelrolle einem unbekannten Amerikaner. In der Regie von Stefan Herheim war Stephen Gould der Kracher. Das fiel nicht nur in Linz auf.

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„Klügl“, sagt Gould heute, „ist einer der wenigen Intendanten, die Sänger verstehen. Ich konnte meine Vorstellungen in seinem Haus geben und ebenso an anderen Theatern singen.“ Die meldeten sich immer häufiger. Es ging steil aufwärts. 2004 debütierte Gould als Erik in Dresden und als Tannhäuser in Bayreuth. „Ich liebte die Produktion von Philippe Arlaud, er interessierte sich wirklich für jeden einzelnen Choristen. Es war ein fantastisches Ensemble, mit großem Zusammenhalt. So etwas nimmt man mit für immer.“ Auch Inszenierungen von Claus Guth und Robert Carsen haben ihn beeindruckt. Bei allen entwickelte sich sein eigener, innerer Tannhäuser weiter. „Reist er wirklich nach Rom? Wie kann der Papst oder Gott dir vergeben, wenn du dir selbst nicht vergeben kannst? Und ist nicht auch etwas Venus in Elisabeth?“

Zugleich fndet er Tannhäuser und Tristan sehr shakespearisch. „Alle berühmten Schauspieler, die den Lear gespielt haben, sagen, nach zwanzig Jahren verstehen sie die Rolle immer weniger. Das geht mir mit diesen Partien auch so. Aber genau deswegen ist da immer etwas Neues, wenn du wagst, es auszuprobieren. Es muss ja nicht immer funktionieren. Aber es muss immer der Blick auf etwas sein, das in der Musik schon existiert.“ Als „Desaster“ hat er den Bayreuther Ring in Erinnerung, den 2006 Tankred Dorst inszenierte: „Ein wunderbarer Künstler, aber kein Opernregisseur. Und mir war nicht klar, dass man total die Technik wechseln muss, wenn man beide Siegfrieds singt, im Siegfried und in der Götterdämmerung. Das hätte beinahe meine Karriere gestoppt…“

Jetzt sorgt er sich vor allem um den Rest der Branche. „Man möchte jüngere, schönere Sänger, und selbst für hochdramatische Stücke werden Leute gecastet, die stimmlich nicht soweit sind.“ Als Student stand er neben Carol Vaness auf der Bühne, „sie sang Mozart mit dem schönsten Legato und Kern und Klang. Jetzt haben wir Spezialisten, die singen mit weniger Vibrato, great, aber du kannst sie nicht hören! Nun wird ja schon an vielen Häusern indirekt verstärkt. Der Tag wird kommen, an dem ein Radamès auftritt, fantastisch aussehend, nur einen Lendenschurz tragend, 25 Jahre, Muskeln und alles, mit einem kleinen Mikro am Kopf, und mit der Stimme eines Experten für Alte Musik ,Celeste Aida‘ singt.“ Auch sonst sieht Stephen Gould mit wenig Optimismus in die Zukunft der Oper: zuwenige Häuser, an denen Sänger in Ruhe wachsen können, Dirigenten, die mit Sängern nichts anfangen können, Komponisten, „die unsingbare Linien schreiben und in 150 Jahren keine Rolle mehr spielen.“

Umso mehr freut er sich auf die Elisabeth im Zürcher Tannhäuser. „Lise Davidsen ist dabei, eine der Großen zu werden. Sehr stark, sehr klug, wirklich hochdramatisch.“ Sie wird auf einen Kollegen treffen, dem es nicht nur um schöne Töne geht. „Tannhäuser ist in der Romerzählung bitter, müde, erschöpft, zornig, boshaft, ja zynisch, all das auf der Kippe zum Wahnsinn. Das musst du in der Stimme hören, in den Farben. Ich bin kritisiert worden, weil mein Legato durch die Emphase auf bestimmten Worten gestört wird. I don´t care. Wenn man expressiv ist, auf den Text konzentriert, verzeiht einem Wagner gern kleine Brüche im Legato. Ich sag´denen, wisst doch erstmal, worüber ihr redet!“ Er lacht abgründig. „Das hätte ich vor fünfzehn Jahren nicht gesagt. Aber jetzt bin ich 57. In der Heldenwelt habe ich noch fünf Jahre.“

In dieser Welt wird viel gereist. Seine Wohnung in Wien braucht er nur acht Wochen im Jahr, sein Haus in Connecticut vier Wochen. Familie hat er nicht, „da wäre diese Karriere nicht möglich gewesen.“ Zum Abschied stehen wir vor dem Café, und Gould, einen Kopf größer als ich, blickt mit seinen hellen, klaren, türkisfarbenen Augen über den Platz vor der Oper, als stünde er ganz woanders vor weitem Horizont. Als sei die ganze Heldenwelt in ihm, die Essenz all dieser großen Typen. Man stelle sich vor, dieser Mann säße an einem Bildschirm der New Yorker Telecom! Unmöglich. Vielleicht sind ja all diese Rollen, Siegfried, Tristan, Tannhäuser, auch geschrieben worden, damit für solche wie ihn die Welt nicht zu eng wird. Dann stapft er durch den Schnee zur Probe.

Dieser Text entstand für das Magazin der Oper Zürich, MAG 66, März 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. Stephen Gould ist ab dem 23. März 2019 als Tannhäuser in Zürich zu erleben. Das Foto zeigt den Sänger 2009 in “Die Tote Stadt” am Royal Opera House, London