“Ich will sehen, wie weit ich gehen kann”

Stéphanie d´Oustrac war als Kind extrem schüchtern. Jetzt singt sie vorzugsweise sehr gefährliche Frauen. Eine Begegnung am Rand der Züricher Produktion von Rameaus “Hyppolite et Aricie”

Welche mag sie sein? Ist sie überhaupt dabei? Wesen mit gewaltigen Rabenköpfen gehen umher, Frauen und Männer. Es wird noch nicht geprobt. Manche albern herum, zeigen einander die Schnäbel und spreizen die krallenbewehrten Finger. Eine Gestalt schreitet langsam auf und ab, unten weißer Reifrock, oben dringen unter dem schwarzen Kopfgefieder brünette Locken hervor. Eine Gangart, die den Blick anzieht, sehr konzentriert. Als die Gestalt die Arme ausbreitet, sieht es aus, als werde sie gleich singen. Ja, das ist Stéphanie d´Oustrac. Aber sie wird jetzt keinenTon singen. Im zweiten Akt von Hyppolite et Aricie ist nichts für Phèdre komponiert. Regisseurin Jetske Mijnssen verschafft ihr einen stummen Auftritt in Plutos Unterwelt.

Das ist eine andere Antike als die, in der die Mezzosopranistin zuletzt auf der Bühne stand, in den Troyens von Hector Berlioz an der Pariser Opéra Bastille. Da war sie Cassandre, mit gebündeltem, gleißendem Mezzosopran, heftig und exzessiv, die aufbegehrende Tochter des Trojanerkönigs, die spannendste Gestalt in dieser Produktion. Sie lacht hell auf, als ich damit unser Gespräch nach der Probe beginne. Nicht, weil das so komisch wäre – Stéphanie d´Oustrac lacht einfach gern, und sie wirkt so offen, wie sie in ihren Rollen geheimnisvoll und gefährlich ist. „Die Bastille ist so groß,“ meint sie, „da ist es schwierig, Nähe herzustellen. Man muss da ziemlich stark und muskulös singen. Ich hatte einen Monat, um das wieder herunterzufahren, und ich brauchte den auch. Bei Rameaus Phèdre in Zürich ist die Arbeit mit der Stimme ganz anders.“

Mit Rameaus Oper knüpft Stéphanie d´Oustrac an ihren Start ins Metier an. Denn ihre Bühnenkarriere begann mit barocker Musik in historischer Aufführungspraxis, zuerst bei William Christie. Der Gründer von Les Arts florissants suchte 1999 eine Médée für Lullys Oper Thésée, und Stéphanie, Gesangsstudentin in Lyon, fuhr zum Vorsingen nach Paris. „Da hörte ich so viele tolle Sänger, dass ich dachte: Du hast sowieso keine Chance! Dadurch verlor ich meine Angst. Das war wohl gut so.“ Wie gut das war, hat Emanuelle Haïm zu Protokoll gegeben, damals Assistentin von Christie und nun Dirigentin der Zürcher Produktion: „Das war die Médée, auf die wir gewartet hatten, ein Mädchen mit überragender szenischer Präsenz und perfekter Projektion der Stimme… und sie hatte die Qualitäten einer echten Schauspielerin!“

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„Das Schauspiel“, sagt Stéphanie, „war meine erste Leidenschaft und ist es immer noch. Ich war so extrem schüchtern, dass meine Mutter mich in eine Theatergruppe schubste, als ich neun war. Ich dachte, ja, das ist meine Heimat! Aber ich durfte immer nur den Pagen spielen.“ Sie lacht. „Dann war ich ein Jahr lang im Kinderchor in Rennes, mit elf. Danach bekam ich Asthma, aber ich wusste nun, dass ich singen wollte. Opern kannte ich überhaupt nicht. Was ich davon im Radio hören konnte, fand ich langweilig. Mit fünfzehn, sechzehn habe ich einen Liederabend mit Teresa Berganza gehört, ohne Bühne, aber sie hat trotzdem agiert, und da dachte ich, so möchte ich sein! Mein erster Auftritt auf der Bühne war eine Amateuraufführung von Purcells Dido and Aeneas, wir machten unsere Kostüme selbst, und ich war Belinda…pfff…erstaunlich!“

Als Stéphanie ein Star der französischen Barockszene wurde, war sie 25. „Seltsam, ich habe in der Zeit nie über anderes Repertoire nachgedacht. Hätte sich meine Stimme nicht verändert, hätte ich immer so weitersingen können. Aber ich wollte auch Herausforderungen. Wenn ich schon von meiner kleinen Tochter wegfuhr, musste es das wert sein.“ So ein Schritt war die Doppelrolle Muse und Niklausse in Les Contes d´Hoffmann, von Laurent Pelly inszeniert. „Ich kämpfte dauernd mit Schauspielen und Singen – meine Gesangstechnik kam nicht hinterher! Inzwischen weiß ich, dass man über den Rollencharakter vokale Probleme lösen kann. Das übe ich auch mit meinen Studenten. Du musst genau wissen, wer du bist in einer Rolle. Wenn das nicht klar definiert ist, singe ich mehr, als dass ich darstelle. Und wenn ich anfange, mir beim Singen zuzuhören, ob alles gut klingt, ist das das Ende.“

Von Jacques Offenbach aus kam sie weiter. 2010 war sie reif für Carmen, die sie jetzt auch in Dallas und Berlin singt, „aber mit meiner Stimme, nicht so eine – uhhhh – big voice. Carmen wurde ja auch nicht für ein großes Haus komponiert, in der Partitur steht fast nur pianissimo, piano, mezzoforte. Der Umgang mit solchen Opern ändert sich auch dank Cecilia Bartoli, sie bricht mit den Gewohnheiten.“ Auch ihrem besonderen Liebling Berlioz, findet sie, tut eine subtilere, lichtere Gangart ganz gut. Einer der Jüngeren in ihrem Repertoire ist übrigens ein Verwandter: Francis Poulenc. „Ich glaube, er war der Cousin eines Großvaters, aber so genau weiß ich es nicht, it´s a shame…“ Macht nichts, die Genealogie der Familie Badouel d´Oustrac ist schnell im Netz zu finden. Ihr Aufstieg im Aveyron, im Südosten Frankreichs, beginnt ziemlich genau zur Zeit von Rameaus Durchbruch in Paris. Ein Nachfahre dieser Bürger bringt es um 1900 zum Départementschef und heiratet eine Nichte jenes Emile Poulenc, dessen Sohn der Komponist ist – übrigens ein Nachfahre der Brüder, die zu Berlioz´ Zeiten Chemikalien für Fotografen herstellten. Aus ihrem Geschäft wurde später Rhône-Poulenc, der große Chemie- und Pharmakonzern…

Solche Großbürger meint Stéphanie d´Oustrac also, wenn sie sagt: „Meine bourgeoisen Vorfahren hätten eine Sängerin in der Familie für einen Skandal gehalten. Im 19. Jahrhundert war eine Sängerin eine Hure. Auch Poulenc als homosexueller Musiker war ein Skandal, aber zum Glück war er berühmt, daher war es okay…“ Sie findet es ihrerseits völlig okay, sich singend in repressive Rollenmodelle der Opern früherer Zeiten zu stürzen. „Das ist Teil unserer Geschichte, wir können nicht alles umgehen. Wir kommen selbst aus all dem und wissen, wir mussten kämpfen und sind damit auch nicht fertig. Dass ich eine moderne Frau bin, hindert mich erst recht nicht, auf der Bühne etwas zu rekreieren, was in einer anderen Zeit entstand. Das greift mich nicht an.“

Doch das entscheidende Profil einer Rolle entsteht für sie erst mit den Proben. „Wenn Jetske eine ältere Phèdre haben möchte, spiele ich die, aber nein, sie will eine jüngere, wahrscheinlich jünger, als ich selbst bin. Sie ist die dritte Frau von Thesée, wahrscheinlich liebt sie Hippolyte, weil sie einander in der Generation ähnlicher sind. Ich feile daran. Sie ist sehr frontal. Unglaublich, wie sie von Liebe zu Wut springt, da gibt´s kein Dazwischen“, sie macht eine scharfe Geste und ein fauchendes Geräusch. „Ich bin meist beim Proben nicht weniger intensiv als in der Aufführung, denn ich will sehen, wie weit ich gehen kann. Wenn ich mit halber Stimme singe, passe ich zu sehr auf die Energie auf.“

Die Vorstellung aber, man müsse sich nur mit Haut und Haaren in eine Partie schmeißen, sei komplett falsch. „Wir müssen mit unseren Stimmmuskeln klarkommen und sie ruhig halten, auch wenn es um Wut geht. Es ist eine riesige Arbeit, diese Distanz zwischen Gefühl und Körper. Ich sage meinen Studenen, haltet die Pferde fest, sonst könnt ihr nicht singen! Wir müssen so vieles zur gleichen Zeit kontrollieren. Das Tempo vom Dirigenten aufnehmen, die Distanz im Körper bewahren, emotional involviert sein… Aber genau das mag ich an Opern. Je mehr Zwänge, je mehr Dinge, die wir tun müssen, desto freier fühle ich mich! Diese schweren Perücken hier, die Reifröcke, die uns zu anderen Bewegungen nötigen – ich mag es, wenn man mir diese Zwänge auferlegt!“

Und wo fängt da die Freíheit an? Sie lacht schallend. „Ja, was meinen wir mit Freiheit? Es gibt all diese Anweisungen und Wünsche, und ich finde MEINEN Weg, das auszudrücken. Es ist meine Freiheit, das zu erschaffen. Ich fühle meine Kraft.“ Nur der prächtige schwarze Rabenkopf hat sie vorhin in der Probe an eine natürliche Grenze gebracht: „Ich bin allergisch auf Federn!“

Dieser Text erschien im MAG 69 der Oper Zürich, Mai 2019, und ist urheberrechtlich geschützt. Foto: Website der Oper Zürich