Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Ich kann ohne Berge gar nicht singen”

Siena Licht Miller, vor 28 Jahren an der Pazifikküste von Oregon geboren, wird im Ensemble der Oper Zürich für jeden Stil besetzt. Jüngste Rolle: Händels Perserkönig Xerxes.

Sie kniet da und beschmiert sich mit Farbe. Mit schwarzer. Das weisse Gewand, den  Körper, die blonden Haare, komplett. Oder anders gesagt, er tut das, Serse, Xerxes,  Händels verzweifelter, schier wahnsinniger Perserkönig in seiner letzten Arie «Crude furie degli orridi abissi», 1738 für einen Kastraten geschrieben. Jetzt ohne Ton, im Smartphone. Es ist nicht gerade die Sorte Video, die man sich sonst neben dem Capuccinobecher bei Starbucks anschaut. «Das haben wir gestern gedreht», sagt Siena Licht Miller, nun ohne Farbe im Haar und nicht im Geringsten verzweifelt. «Es muss hinterher eine Menge Duschwasser gekostet haben», meine ich. «Yes, it did…» Sie lacht. Die 28-jährige Mezzosopranistin ist an Extreme gewöhnt und an Sprünge zwischen den Bühnenwelten. Noch vor einer halben Stunde stand sie im Probensaal am Kreuzplatz neben Sabine Devieilhe und sang mit ihr das weltberühmte Blumenduett aus Lakmé.

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Siena, neuerdings fest im Ensemble der Oper Zürich, wird hier praktisch für jeden Stil besetzt, von Monteverdi bis Verdi, von Rossini bis Wagner, von Offenbach bis Strauss. Eine hochgewachsene, heitere Frau, die nach zwei Minuten das «Sie» über Bord wirft und darum bittet, «Denglisch» sprechen zu dürfen. Deutsch ist zwar, im wahrsten Sinn, ihre Muttersprache, aber im Amerikanischen fühlt sie sich eher zu Hause. Sie kam in Portland zu Welt, im US-Bundesstaat Oregon an der Pazifikküste, wohin ihre deutsche Mutter mit 25 Jahren zog. «Die Eltern meiner Mutter haben ein Haus in der Toscana, in der Nähe von Siena, und mein Vater ist zur Hälfte Italiener, also waren wir früher jeden Sommer dort. Mein Name repräsentiert alles, was ich bin.» Sie lacht. Und der Vorname «Licht» passt schon auf den ersten Blick.

Er könnte auch für das stehen, was ihr Zürich bedeutet – ein Anruf von hier erwies sich vor drei Jahren als Rettung ihrer Sängerlaufbahn. Da befand sich Siena in Portland und sah zu, wie alles dichtmachte, eine amerikanische Opernbühne nach der anderen. Bühnen, von denen es ohnehin nicht sehr viele gibt und die, weitgehend auf private Förderer angewiesen, keine ihrer Musikerinnen und Sänger vor dem Abgrund schützen konnten, der sich durch «the pandemic» auftat. Für viele wurde Covid der Sargnagel einer ohnehin prekären Existenz. Aber diese junge Sängerin hatte etwas in der Tasche, was für ihre künstlerische Zukunft ähnlich wichtig war wie ein Visum für Emigranten – einen Vertrag mit dem Opernstudio in Zürich.

«Im Januar 2020 kurz vor Covid», sagt sie, «kam ein Anruf aus Zürich, sie suchten jemanden für das Opernstudio. Ich hatte Jahre zuvor an einem Vorsingen im Curtis Institute in Philadelphia teilgenommen für einen Platz in Zürich, jetzt sollte ich hinfliegen und noch einmal vorsingen. Aber ich kam nicht weg und schickte stattdessen ein Video.» Sie wählte eine Arie des Nicklausse aus Hoffmanns Erzäh­lungen. «Ich bekam den Job und musste alles absagen, was ich in Amerika hatte. Aber etwas in mir sagte, du musst gehen. And then the world shut down. And thank God I came to Zürich. Ich weiss nicht, ob ich sonst noch singen würde.» Es entbehre nicht der Ironie, sagt sie, dass gerade Offenbachs «Geigenarie» ihr den Weg nach Europa öffnete. Eine Arie, in der Nicklausse den Klang der Violine, die dazu spielt, mit dem Liebesschmerz vergleicht, über den dieser Klang auch hinwegtrösten kann.

Denn Geigerin ist Siena selbst einmal gewesen. Sie hat das gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt, als wolle und müsse sie es hinter sich bringen. Die Tochter eines Osteopathen und einer Psychotherapeutin wollte schon mit fünf Jahren unbedingt Geige spielen, und es erwies sich, dass sie neben viel Talent auch ein aussergewöhnliches Gedächtnis hatte. «Ich konnte kaum Noten lesen, aber nach einmaligem Hören einen 20 Minuten langen Konzertsatz von Mozart nachspielen.» Was sie ausserdem liebte,war Skifahren in den Bergen Oregons. Mit 15 Jahren hatte sie einen Skiunfall, bei dem sie den grösseren Teil ihres Gedächtnisses verlor, dazu die Reflexe für die Feinmotorik. «Nur mein musikalisches Gedächtnis war komplett intakt. Ich konnte mir nicht merken, was man mir gerade gesagt hatte, aber ich konnte mir ein 40 Minuten langes Stück Musik aufrufen.»

Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist beschrieben, wie so etwas zustande kommt. Musikalische Strukturen werden jenseits des episodischen Gedächtnisses verarbeitet, eine grosse Rolle spielt dabei das geschützt liegende Kleinhirn, entwicklungsgeschichtlich uralt. Sacks erzählt, wie die gespeicherte Musik zum Seil werden kann, an dem Patienten aus dem Abgrund von Vergessen hochklettern können. Bei Siena ist das besonders gut gegangen. «Ich sang, zuerst mehr als Teil der Therapie, das war heilsam. Ich fühlte mich dadurch mit allem mehr verbunden und auch intelligent. Meine Intelligenz stellte ich nämlich sehr in Frage.»

Auch wenn sich nach und nach der Rest des Gedächtnisses wieder einfand, «Geige konnte ich nicht mehr so spielen, wie ich das wollte. Und ich erinnere mich, dass, als ich singen zu lernen begann, die Reaktion der Leute voller Freude war. A powerful feeling. Und dann blieb ich kühn genug, um immer mehr zu erkunden.» Mit 18 Jahren begann Siena Gesang zu studieren, am Oberlin Conservatory im Bundesstaat Ohio, Psychologie und deutsche Literatur kamen dazu. Mit 21 wechselte sie ans elitäre Curtis Institute of Music in Philadelphia an der Ostküste, wo nur 2 Prozent aller Bewerber Studienplätze bekommen. Um ihr Stimmfach machte sie sich nicht viele Gedanken. «Ja, ich bin Mezzo, aber ich sehe mich lieber als Siena, die guckt, was zu ihrer Stimme passt. Ich identifiziere mich mit dem speziellen Mezzo-Temperament. Wir haben diesen üppigen Unterton wie die Viola, mein Lieblingsinstrument. Und wir müssen alles sein können, ein troublemaker, ein Junge. Die Charaktere, die ich spiele, geben mir die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die ich sonst für mich behielte. Weil ich von der Geige kam, war da anfangs auch eine differierende Identität, ich sah mich nicht immer als Sängerin. Das hat Peter Sellars sehr gut verstanden, bei ihm fühlte ich zum ersten Mal, es ist Platz für mich in der Welt der Oper.»

Mit Regisseur Sellars gestaltete sie 2019 in Santa Fe als Einspringerin die Kitty Oppenheimer in John Adams’ Doctor Atomic. «Es ging bei den Proben auch um das Aufeinanderzugehen, die Energie in der Gruppe. Musiker sind so empfindlich, über so etwas sprechen wir nicht genug. Es gibt eine Intimität im Probenraum, und die besten Regisseurinnen und Dirigenten nehmen das sehr ernst.» Zu denen gehört für Siena auch Nina Russi, die Regisseurin von Serse. «Alles muss menschlich sein bei ihr, ehrlich und echt. Es ist wirklich kathartisch, wenn wir arbeiten, weil es so ehrlich ist, und das ist anstrengend! Aber wenn du aufrichtig bist, verstehen die Zuschauer alles, ohne irgendetwas über das Stück wissen zu müssen. Manchmal wünschte ich, ich wüsste selbst gar nichts über diese Kunstform, sässe nur im Publikum und beobachtete meine Reaktion im Innersten, ohne all das wie singen sie?»

Eine der wichtigsten Quellen für ihre Arbeit ist die Natur, «für mich besonders die Berge. Ich kann ohne Berge gar nicht singen», sagt sie. «Es ist schwer zu erklären, aber die Berge und die Musik haben eine Menge gemeinsam. Wir gehen da hinein auf der Suche, um uns selbst besser zu verstehen, und werden konfrontiert mit den grössten Freuden und den tiefsten Sorgen. Die Berge haben mich in meinem Schlimmsten und in meinem Besten gesehen, und dasselbe ist es mit der Musik. Wenn ich in den Bergen war und in der Stille gelebt und diese Luft geatmet habe, ist da eine Ruhe in mir, in der ich wieder bereit bin für Musik. Manchmal verfolgen mich auch Reste einer Bühnengestalt zu sehr, mit der ich mich verbunden habe. Die werde ich in den Bergen wieder los.»

Wird irgendwann auch der Perserkönig dazugehören? «To connect with Serse, das war nicht immer leicht. Aber er beginnt die Oper, indem er einen Baum besingt: Ombra mai fu. Ich glaube, die Natur findet mich immer!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschienen in MAG 101 der Oper Zürich, April 2023. Serse ist eine Produktion des Internationalen Opernstudios des Hauses und wurde im Mai 2023 im Theater Winterthur gespielt. Der screenshot aus dem Trailer zeigt SLM während der Arie “Ombra mai fu”.

“Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern”

Dirigent, Geiger und Sänger Dmitry Sinkovsky spricht über die Arbeit an Cavallis Eliogabalo in Zürich, sein Orchester in Russland und seinen Titelhelden aus der Ukraine

Wir sitzen neben einem Wald von schwarzen Notenständern auf der ansonsten leeren Probebühne. Arbeitslicht, Stille – puristischer geht es kaum. Auf ein Pult hat Dmitry Sinkovsky, ein kräftiger 42-Jähriger, der die Haare hinterm Kopf zum Knoten geschnürt trägt, seine dicke Partitur gestellt, ein anderes Pult habe ich mir in die Waagrechte gebogen, als Tischchen für den Kaffee. Der ist dringend nötig. Wie sich herausstellt, hat auch der Dirigent nur vier Stunden Schlaf gehabt, allerdings nicht wegen einer Zugverbindung. Er hat bis spät in die Nacht noch Wortbedeutungen im italienischen Libretto recherchiert. Was die Protagonisten in Francesco Cavallis früher Barockoper Eliogabalo singen, ist nämlich selten ohne Hintersinn…

Aber jetzt möchte ich erstmal wissen, ob er, der diese Oper musikalisch leitet, auch Geige spielen wird. Denn vor ein paar Minuten, als ein paar Schritte weiter auf der anderen Probebühne die heutige Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern und dem Regisseur Calixto Bieito endete, hat Sinkovsky noch fröhlich ein paar Akkorde angestrichen. Sein Barockinstrument hat er immer dabei. Besser gesagt, beide Instrumente, denn Countertenor ist er ja auch. «Auf jeden Fall spiele ich», meint er, «zusammen mit Luca Pianca an der Laute. Das müssen wir machen, denn diese Musik fordert viel Improvisation. Calixto möchte auch, dass ich an einigen Stellen singe, aber das lassen wir noch offen.» Er lacht. «Keiner weiss, was in einer Woche passiert. Die Proben sind ein permanenter Prozess.»

Sicher ist nur, dass, wenn Dmitry Sinkovsky spielt oder singt, er sich auf demselben hochprofessionellen Level bewegen wird wie die anderen Akteure auch. Das Label Glossa hat ihn als Interpreten von Beethovens Violinkonzert ebenso im Programm wie mit einer CD, auf der er Lieder von Sergej Akhunov singt, geschrieben für seine Stimme und die historischen Instrumente seines Ensembles «La Voce Strumentale». Bei Naïve erschien eine CD, auf der er Vivaldis Vier Jahreszeiten spielt und dazu noch eine Arie des Venezianers singt, fast unnötig zu sagen, dass er das Ganze auch dirigiert. Inzwischen dirigiert er auch Opern von Rossini, Verdi, Tschaikowski. Auch dazu kommen wir noch…
sinkovsky

Was er derzeit an der Oper Zürich macht, ist Neuland für Sinkovsky – eine Oper aus dem Jahr 1667. «Das Früheste, was ich je spielte, sang, dirigierte», sagt er, auf  Englisch, denn sein Deutsch findet er nicht so gut wie sein Italienisch, Serbokroatisch, Französisch und, natürlich, Russisch. «Aber Dirigieren ist bei dieser Musik nicht das Dominierende, auch wenn ich natürlich Einsätze gebe. Ich bin eher der, der es zusammensetzt, Instrumente aussucht, kürzt. Wenn man nicht kürzt, dauert Eliogabalo dreieinhalb Stunden, es sollen aber nur etwas mehr als zwei werden. Die Rezitative sind sehr, sehr lang, manchmal endlos, es wird oft dasselbe auf immer neue Weise erzählt. Das ist leichter zu kürzen als Monteverdi, den man eigentlich gar nicht kürzen kann. Aber man muss aufpassen, kein wichtiges Material dabei zu verlieren. Es gibt unglaubliche Momente in dieser Oper, die sind… wow, echte Meisterstücke.»

Was es nicht gibt, ist eine Instrumentierung. Es gibt Instrumentalstimmen, «die kann man besetzen, wie man will. Ich will so viele Farben wie möglich. Zinken, Flöten, Dulzian, Posaune, Harfe, drei Theorben, Laute, Lirone, Cembalo, Orgel… Jede Person bekommt ihre musikalische Identität, ihr Instrument.» Das ist schon deswegen hilfreich, weil Cavalli ein dichtes Netz machtpolitischer wie sexueller Intrigen zwischen zehn Männern und Frauen komponiert hat, an der Spitze der grössenwahnsinnige Kaiser, der eigentlich alle Frauen beansprucht und vor Gewalt nicht zurückschreckt, aber natürlich trotzdem wunderschön singen darf, wie es mir Sinkovsky nun demonstriert. «Oh che vaghi candori…»

Seine schlanke, fokussierte Stimme schwebt im mezzopiano durch den stillen Saal, nach «che morbide rose» bricht er ab. «That’s it, ein Arioso von acht Takten. Eliogabalo singt sie für Gemmira, die Alessandro liebt, und die weichen Rosen… das ist etwas Physisches.» «Etwas Erotisches.» «Oh yes. Ich habe bis halb vier daran gesessen, hinter diese Metaphern zu kommen. Wir sprechen heute nicht mehr in Metaphern. Wie ausdrucksvoll diese Sprache war!» Und mit der Emotion müsse man beginnen, die Technik sei nur Unterstützung. «Das habe ich von Harnoncourt gelernt. Es ist eben nicht so, dass man in die Noten guckt und sagt, ja, kenne ich, den Rhythmus», er singt ein paar punktierte Noten, «der muss so und so verziert werden», er umgibt die Töne mit 32tel-Girlanden. «Natürlich muss man wissen, wie man Verzierungen schreibt. Aber Cavalli, das ist hauptsächlich gesprochene Musik. Wie man ein Wort ausspricht, das kann alles ändern, mehr als eine Verzierung oder ein Vibrato oder kein Vibrato.»

Es macht Spass, Cavallis Geheimnisse zu erkunden, aber ich möchte auch wissen, wie eigentlich ein Musiker zu Cavalli kommt, der zuerst am Konservatorium seiner Geburtsstadt Moskau in die alte russische Schule des Geigens einstieg, virtuos, hochromantisch, Bruch, Brahms, Tschaikowski… «Am Konservatorium war damals Alte Musik schon in Mode, Pinnock, Gardiner, Leonhardt, die Pioniere. Ich hörte das und bekam eine Gänsehaut, es war wie ein geheimer Raum. Mit zwanzig hatte ich das Glück, als Geiger zu einer erfahrenen Gruppe von Barockmusikern zu kommen, Musica Petropolitana aus St. Petersburg. Die brachten mich mit berühmten Musikern in Kontakt, mit dem Counter Michael Chance, mit Emma Kirkby. Und ich dachte, wenn ich in Zukunft Dirigent sein will, und das wollte ich, sollte ich auch singen lernen. Was will man Sängern sagen, wenn man nicht versteht, was sie tun?»

Na schön, aber das muss ja nicht gleich zu einer Zweitkarriere als Counter führen. Wie hat er seine Stimme entdeckt? «Das fragen mich Sänger auch.» Er lacht, dann schmettert er ein sehr hohes «Haaa» in die Luft. «Okay.» Der frischgebackene Barockgeiger bekam Unterricht bei Marie Leonhardt, der Sänger bei Michael Chance. Der kommende Dirigent studierte in Zagreb Chorleitung und in Toulouse Orchesterleitung. Seit Februar 2022 ist Dmitry Sinkovsky Chefdirigent der Oper in Nizhny Novgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau. Seit ebenso langer Zeit herrscht Krieg in der Ukraine. Wie aber kommt damit der Sänger der Titelpartie klar, der Ukrainer Yuriy Mynenko? «Wir haben uns ohne jede Diskussion vom ersten Tag an verstanden. Wir machen dasselbe Ding. So sollte es sein in unserer kleinen musikalischen Gemeinschaft, die zusammenbleiben muss in jeder Art von Zeit. Ich bin der Zürcher Oper dankbar, den Vertrag eingehalten zu haben.»

Er erzählt vom Orchester in Nizhny, ein sehr junges Ensemble von 25- bis 27-Jährigen, «diese neugierigen jungen Augen sind mir mehr wert als Geld, so motiviert, die wollen arbeiten, die sind wie eine Familie. Und egal mit welcher Situation man sich befasst, immer kümmert man sich um seine Familie. Leute mit einer festen Stelle im Orchester, mit Familie und Verwandten, haben keine Wahl, woanders hinzugehen wie reisende Musiker. Die können nur die Musik verlassen und auf die Strasse gehen. Besonders als Solist und Dirigent sollte man daran denken, dass es weitaus Abhängigere gibt.» Und die lässt er nicht sitzen.

«Keiner weiss, was in einer Woche passiert», Dmitry Sinkovskys Satz zum Probenprozess passt auch zur Weltlage. Nur dass man im Theater eher mit dem Schönsten rechnet als mit dem Schlimmsten. Für den Ensembleleiter, Sänger und Geiger hat sich der Regisseur schon wieder eine neue Herausforderung einfallen lassen, ein viertes Metier. «Calixto sagte heute, hier will ich einen ballo, einen Tanz, mach was! Also werde ich heutenacht ein paar Ritornelle komponieren. Im Stil von Cavalli, oder seine Themen benutzend, mit Zink oder Geige im Stil einer Triosonate…» Es wird wohl mal wieder spät werden.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 97 der Oper Zürich, November 2022, sowie online.

“Für eine Ideologie ist Lachen das gefährlichste”

Jérémie Rhorer dirigiert Offenbachs Barkouf in Zürich – und hat nicht nur Berlioz einiges vorzuwerfen. Ein Gespräch über Komik und Ideologie in der Musik – und das Entkommen aus der Vorstadt

Es regnet heftig. Kein Tag, an dem man beschwingt zur Arbeit geht. Genau der richtige Tag für Jacques Offenbach, um seine funkelnde Energie zu entfalten, 142 Jahre nach seinem Ableben in Paris. Man spielt sich erstmal ein im großen Orchesterprobensaal am Kreuzplatz, Dienstbeginn gegen 10 Uhr vormittags, hinten plaudern die Solisten, es ist ihre erste Probe für Barkouf zusammen mit dem Orchester. Dann nimmt auf seinem Schemel vor den Musikern Jérémie Rhorer Platz, 49 Jahre alt, nicht gross, beiges Jackett, sparsame Gesten. Er gibt den Einsatz zur ersten Nummer, und plötzlich wandelt sich die Atmosphäre. Diese Rhythmen, diese Schnitte und Farben, diese kleinen Verrücktheiten! Eine unverregnete Heiterkeit breitet sich aus.

Ab und zu eine Unterbrechung, eine Korrektur: Betonungen werden verschoben, die Silben im Tenor brauchen mehr staccato. Um die ersten Geigen leiser zu haben, genügt eine kurze Armbewegung links. Klarheit entsteht und noch mehr von dieser Heiterkeit, die nicht banal ist, sondern voller Leben. Inzwischen sitzen da keine Diensthabenden, es ist ein Ensemble von Musikern. Die Sänger werden übermütiger, immer mehr von den Gesten, den Charakteren, die sie mit Klavier und Regie erprobt haben, brechen aus. Man könnte meinen, Offenbach irgendwo amüsiert lächeln zu sehen, vielleicht auch noch nachdenken: Ist das gut, Fagott zum Pizzicato? Ja, sogar sehr gut. Der Zuhörer am Saalrand verspürt erste Suchtsymptome. Bitte noch eine Nummer, noch ein Duo, Trio, Quintett…

Aber damals bei der Uraufführung in Paris war nach sieben Vorstellungen Schluss, Anfang Januar 1861. «Schwer zu verstehen, warum», sagt Jérémie Rhorer, als wir nach der Probe durch etwas weniger Regen zu Starbucks hinübergehen, «auch wenn Barkouf durch die Kritik von Hector Berlioz wirklich zerstört wurde.» Er schwärmt von den Farben, der grossen Palette, mit der Offenbach zwei verschiedene Welten deutlich mache, den machiavellistischen Zynismus der Politiker, «von der Groteske switcht er zum Tieferen, zum sanften Charakter etwa von Maïma. Er hat dieses Talent, wie Bizet und später Bernstein und viele Jazzmusiker, direkt zum Ohr zu kommen.» Und das besondere Talent zur Komik solle man nicht unterschätzen. «Es ist eines der kostbarsten Talente, die Freude auszudrücken. Das Leben, das Lachen. Für eine Ideologie ist Lachen das gefährlichste.»

Er erwähnt Umberto Ecos Der Name der Rose. Das verbotene Buch in diesem Roman, das vom finsteren Bibliothekar vergiftet wird und durch dessen Lektüre dann die Mönche sterben, ist das Buch von Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird, er tritt für Freude und Lachen ein. «Auch Mozart und Haydn konnten das Komische sehr gut», meint Rhorer, «aber man muss sich bei Offenbach hüten, es überzuinterpretieren. Humor braucht subtile Balance. Zuviel ist nicht mehr komisch. Der Dirigent muss auch die Eleganz des Komponierten garantieren, auf Artikulation und Präzision bestehen.» Das alles sagt er nachdenklich, bedachtsam seine Worte auf Englisch wählend. Er ist selbst ein Komponist, den um so mehr das Handwerkliche interessiert, die Mittel, die eingesetzt werden. «Je tiefer ich in das Stück einstieg, desto mehr war ich vom Handwerk beeindruckt. Offenbach weiss, was er tut. Es klingt fruchtig, spirituoso, es ist schmackhaft. Es gibt keine schwachen Stellen.»

Berlioz, meint er, habe sich vielleicht gerade an Offenbachs Souveränität im Umgang mit der Harmonik gestört, den er als laienhaft abtat. «Berlioz selbst hatte, ehrlich gesagt, für Harmonik kein offensichtliches Talent. Ich glaube, er wusste selbst, dass es eine seiner Schwächen war. Aber er hat mit seiner Kritik Offenbach fast ein bisschen aus der Gesellschaft gestossen, und leider wusste er, was er tat. Dieses Machtausüben zwischen Musikern ist in Frankreich eine Konstante, von Lully, der Kollegen bekämpfte, bis zu Pierre Boulez.» Den Einfluss des grossen Serialisten hat Rhorer noch im Conservatoire der 1990er bemerkt, als er Komposition studierte. «Ich wollte über Tschaikowski, Puccini, Prokofjew sprechen, die wurden nicht in Erwägung gezogen. Und die Tendenzen in der zeitgenössischen Musik fand ich deprimierend, ideologisch.»

Mir fällt dazu Steve Reich ein, der sich im New York der 1960er vor die Alternative gestellt sah, entweder so zu komponieren wie Boulez oder wie Cage, wenn er nicht ausgelacht werden wollte, und seinen eigenen Weg fand. «Erstaunlich, dass Sie das sagen! Tatsächlich hat mich Reich gerettet, seine Musik öffnete eine Welt. Aus irgendeinem Grund war er trotz seiner Neotonalität am Konservatorium akzeptiert, ich durfte mich in der Analyse mit ihm beschäftigen.» Boulez aber bleibt für Jérémie Rhorer «eine dunkle Figur», geradezu der Gegenpol zum zutiefst bewunderten Leonard Bernstein. Ein Filmmitschnitt von Mahlers Dritter wurde ihm zur Offenbarung. «Er lässt sie neu entstehen. Bei ihm ist jeder willkommen zur Feier der Menschlichkeit!»

Für das Anti-Elitäre hat der zurückhaltende Rhorer vielleicht um so mehr Sinn, als er keineswegs auf den lichten Höhen des Bildungsbürgertums zur Welt kam. Der Grundschüler im Pariser Vorort Ivry-sur-Seine wollte Tennisspieler werden, «aber alle Kursplätze an dem Mittwochnachmittag, der es sein musste, waren belegt.» Also schickte ihn seine Mutter in die Musikschule, wo er sich die Flöte aussuchte. Aber der Unterricht war von zweifelhafter Qualität, er wollte da weg. Eine Anzeige wies den Weg: Bei der Maîtrise de Radio France, dem Kinderchor des Rundfunks, konnte man sich bewerben. Jérémie sang vor und wurde angenommen. Dann kam der Tag, als Colin Davis den Chor dirigierte.

«Ich sah ihm zu, und das war’s. Wie er mit seinen Gesten die Musik erhob, den Klang modellierte… Die Schönheit des Ausdrucks war so offensichtlich. Da war ich zehn.» Von dem Tag an wollte Jérémie ein Dirigent werden. «Aber haben Sie nicht als Cembalist begonnen?» «Das war ein Weg, um da hinzukommen. In Paris gab es einen Dirigenten, Emil Tchakarov, der sagte mir, dirigieren kannst du nicht lernen. Er hatte es in Bulgarien gelernt, indem er grosses Repertoire für fünfzehn Musiker transkribierte, die er dann dirigierte. Er sagte, bau dir dein eigenes Orchester. Ich sammelte zuerst sechs Musiker, um Mozarts Adagio und Fuge zu dirigieren, da war ich sechzehn.» Mit 21 Jahren, mittlerweile studierter Cembalist und Komponist, gründete er mit dem Geiger Julien Chauvin das Orchester Le Cercle d’Harmonie, auf historischen Instrumenten spielend, dann ging es steil aufwärts. Die dritte CD nahmen sie schon mit Diana Damrau auf, mit Rhorer am Pult. 2011 debütierte das Ensemble im Londoner Barbican Centre, 2016 bei den Proms. Am Pariser Théâtre des Champs-Élysées produzierten sie die grossen Opern von Mozart. Dessen Don Giovanni dirigierte Rhorer 2017 auch beim Festival in Aix-en-Provence – elektrisierender, klarer hat man die Ouvertüre noch nicht gehört.

Dass er als Gastdirigent von Salzburg bis Edinburgh, von der Wiener Staatsoper bis zur Brüsseler La Monnaie unterwegs ist, bei Gewandhausorchester und Tschechischer Philharmonie, wird man von Rhorer selbst nicht erfahren, ohne nachzufragen. Eher schon, warum Verdi auf dem Stimmton A=432 Hertz bestand. Warum Poulenc depressiv wurde, als er sich mit Zwölftonmusik befasste. Wie unglaublich Tschaikowskis Meisterschaft in der Harmonik ist. Und wie eng es im Orchestergraben der Opéra-Comique zuging, als dort Barkouf uraufgeführt wurde. Keine gewerkschaftlich festgelegten Mindestabstände, «es war gestopft voll! Ein Aspekt, den man im Kopf haben sollte.»

Und war es nicht so, vorhin bei der Probe, dass die Musiker auf dem riesigen Podium an der Kreuzstrasse einander näher zu kommen schienen, obwohl sich kein Stuhl bewegte? Ein bisschen Magie ist wohl auch dabei. Wir stehen auf, es regnet draußen nicht mehr, und der Dirigent lächelt. Nicht wegen Jacques Offenbach, sondern weil sein einjähriger Sohn und dessen Mutter ein paar Strassen weiter auf ihn warten. «Wir müssen noch zu Migros, einkaufen…»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 96 der Oper Zürich, Oktober 2022, sowie online.