Kategorie-Archiv: Begegnungen

“Ich kann nicht glauben, dass ich’s gemacht habe”

Seit sie vor drei Jahrzehnten nach Deutschland kam, hat Rebecca Saunders das Komponieren für sich neu erfunden, Instrumente und Stimmen neu entdeckt. In unverwechselbarer Handschrift betreibt sie eine permanente Expedition ins Ungewisse. Eine Begegnung in Köln

Gar nicht so einfach, hier ein ruhiges Eckchen zu finden, im Kölner Café Funkhaus, wo es an einem kühlen Mittag im Mai 2023 rappelvoll ist. Pop schallt aus den Boxen, Kaffeemaschinen zischen, Geschirr klappert. Von unserem letzten Treffen erinnere ich mich, dass die Komponistin aus dem lärmigen Londoner Stadtteil Brixton stammt und Geräusche und Baustellen liebt. Rebecca Saunders findet schnell ein Tischchen, das ich übersehen habe, ganz am Rand, und da reden wir, noch ehe Ingwertee und Cappuccino kommen, schon über ihre Musik. Eine Musik, die in der Stille ihrer Berliner Wohnung entstand und am Abend zuvor erstmals zu hören war. »Skull« heißt das Stück für vierzehn Musiker, »Schädel«, eine unglaublich lebendige Musik und alles andere als knochig. Saunders ist in der bestens besuchten Kölner Philharmonie mitsamt dem Ensemble Modern geradezu gefeiert worden, auch für »Scar« und »Skin«, für das ganze nun vollendete, in sieben Jahren entstandene Triptychon.

Sie ist darüber merklich froh. Keine, die so etwas für selbstverständlich hält, seit sie 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet wurde, als erste Komponistin überhaupt – wobei es sie nervte, dass manche eben das wichtiger zu finden schienen als ihr Werk. Sie ist nicht der Rampentyp mit Botschaft und Bugwelle. Selbstbewusst, das schon, aber vor allem nachdenklich, offen, neugierig. Da wir beide im Bann des taufrischen Werkes stehen, ergibt sich die Gelegenheit, ihre Arbeitsweise vom aktuellen Stand aus kennenzulernen, sogar am Beginn einer neuen Entwicklung. Da ist es allerdings hilfreich zu wissen, was bisher geschah.

Wie und warum Rebecca Saunders, 1967 in London geboren, sich vor knapp drei Jahrzehnten aus britischen Traditionen befreite und in Deutschland heimisch wurde, begleitet von der »absoluten Abneigung, auch nur ein melodisches Fragment zu schreiben«. Nicht, dass man sie vorher zur Melodie gezwungen hätte. Die junge Rebecca hörte gern den Sängern zu, die von ihren Eltern begleitet wurden, beide Pianisten, »und Brahms war meine große Liebe«, sagt sie lachend. »Ich war ja Geigerin und habe mit meinem Vater die Sonaten gespielt und aufgeführt.« Lieder schrieb sie schon als Kind, »es war so selbstverständlich und natürlich, eine Melodie zu schreiben«.

Das Melodienschreiben hätte auch in Edinburgh so weitergehen können, wo sie Komposition studierte, hätte ihr dort nicht ein Professor Kassetten mit jüngster Avantgarde in die Hand gedrückt. »Das war ein kompletter Schock«, hatte sie mir bei einem früheren Treffen in Berlin erzählt. »Ich war wie wachgerufen. Was, das gibt’s? Ein Klang, der nur für sich da steht, der sich auf nichts bezieht als auf seine eigene Körperlichkeit!« Es war eine der »Chiffren« des Komponisten Wolfgang Rihm, die sie umgehauen hatte. »Da muss ich hin«, habe sie gedacht, bei dem wollte sie lernen. Mit einem Stipendium kam die 23­-Jährige nach Karlsruhe. »Ich konnte kein Wort Deutsch, und Rihm konnte nur wenig Englisch. Er hat einfache Fragen gestellt, über die ich tagelang nachdenken musste: ›Welches Gesicht hat dein Stück?‹ ›Hat es Augen?‹ Ich dachte, wow, es könnte keine Augen haben. ›Hat es einen Mund?‹ Nein. ›Welche Farbe?‹ Rot. ›Wo ist es denn?‹ Das war für mich ein Geschenk. Nicht über die Musik zu sprechen, sondern sich schon in der Musik zu befinden.«

So fing das an. Seitdem hat Saunders das Komponieren für sich neu erfunden, nach und nach alles neu erschlossen, die Instrumente, dann auch die Stimme, wenn auch noch lange keine »Melodie«; nebenher hat sie sich ein exzellentes Deutsch angeeignet und zwei Kinder großgezogen.

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In »Skull« stieg sie ein, wie schon oft, indem sie zuhörte. »Ich habe mit dem Trompeter gearbeitet, Sava Stoianov, der aus Bulgarien kommt und einen komplett eigenen Klang hat. Ich habe ihn zuerst gefragt, wie machst du dein Instrument warm, wie spielst du dich ein? Da kamen so halb offene Töne mit ganz tiefem Luftklang«, sie deutet das singend an, »und Improvisationen, melodische Fragmente, das fand ich unglaublich sinnlich und lyrisch.« Daraus wurde in ihrem Kopf ein Glissando um einen Halbton nach unten, zur Trompete kam die Bratsche, dann das Saxofon, »und dann kommen alle zusammen, das war die Keimzelle«. Eine melodische Keimzelle, die ein ganzes Stück prägt – das ist neu bei Rebecca Saunders, wie so manches in »Skull«.

Ohnehin wiederholt sie sich nie, jede ihrer Stationen brachte Spannendes hervor. Das erste Werk, das die Komponistin von sich gelten lässt, ist »Behind the Velvet Curtain« (1991), ein Rausch leuchtender Farben für Trompete, Harfe, Klavier und Cello. Seitdem entstanden mehr als 85 Kompositionen von großer Vielfalt, in denen immer ihre persönliche Handschrift zu erkennen ist. Die Collage »Hauch – Musik für Tanz« von 2021 für Solist:innen und Tänzer:innen, die für die Elbphilharmonie neu choreographiert  wird, ist ein geradezu idealer Einstieg in Saunders’ Welt, denn sie bietet ein Prisma dieser Vielfal in szenischem Rahmen, zum Hören und zum Sehen.

In »Hauch« werden sechs Solowerke und ein Duo aus sechzehn Jahren collagiert. »Es wird nicht einfach ein Stück nach dem anderen gespielt«, sagt sie, »es gibt auch Überlappungen. Stücke, die aufgeteilt werden, die kommen und gehen, so, dass sie sich mit den Tänzern bewegen. Zusätzlich habe ich aus jedem Werk Klänge genommen, die als Schatten agieren, wenn einer sein Solo hat. Und es gibt Improvisationen für alle Instrumente, die nach bestimmten Impulsen eine begrenzte Palette von Klängen spielen.« Das früheste der Solowerke, die in »Hauch« sozusagen Teil einer Metakomposition werden, ist »Blaauw« für Trompete von 2004 (in neuer Version für die Collage), das späteste »To an Utterance – Study« für Klavier, 2020 geschrieben; dazu kommen Viola, Perkussion, Cello, Trompete und ein Duo für Violine und Oboe. War es schwierig, die verschiedenen Sprachen dieser Stücke zusammenzubringen? »Es war interessant und notwendig! Bei einer Collage ist es sehr wichtig, dass die einzelnen Stücke und Module Eigenschaften haben, die sie von den anderen unterscheiden und sofort erkennbar sind. So kann mit den Tänzern und Musikern – die bewegen sich auch – eine räumliche Polyfonie entstehen.« Gerade die Veränderung der Zeit durch den Tanz hat sie bei der Konzeption besonders fasziniert.

»Die Zeit fließt anders, als wenn eine Sängerin auf der Bühne steht. Man kann einen liegenden Ton haben, der sich leicht bewegt, fünf Minuten lang, wo der Tanz absolut in den Vordergrund kommt.« Wer wann was macht in diesen rund 80 Minuten, das hat Rebecca Saunders in der ihr eigenen Präzision auf Millimeterpapier festgehalten, und zum Instrumentarium gehört auch eine stumme Stoppuhr. »Aber die läuft nicht immer«, sagt sie lachend.

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Tatsächlich klingt Saunders’ Musik, so extrem durchdacht sie ist, nie nach Papier, sie hat immer einen Körper. Eine Farbigkeit und eine Plastizität, die sich aus großer Nähe zu den Künstler:innen und aus feinsten Strukturen speisen, in der Wirkung so unmittelbar wie die Energien, die das von Akzenten durchzuckte Filigran im Streichquartett »Fletch« (2012) fast zum Naturereignis machen.

Immer entstehen Räume und Welten, in die man beim Hören geradezu hineinsehen kann. Die Bewegungen darin können sich ausbreiten wie eine Meeresoberfläche (in »Scar« von 2019) oder Druck aufbauen wie in »Skin« (2016), dem ersten Stück, in dem Saunders eine Stimme zum Einsatz brachte, eine Sopranistin, die erst mal gar nicht singt, sondern flüstert, stammelt – als sei so viel zu sagen, dass es nicht zu sagen ist.

Die jüngste Arbeit »Skull« ist die mit dem eindeutigsten Material, das Saunders bis jetzt verwendet hat: kleine Sekunde abwärts, verarbeitet mit der ältesten polyfonen Technik, die es gibt – der Imitation, dem Wiederholen eines Motivs in einer anderen Stimme, in diesem Fall immer leicht verändert. »Ich kann nicht glauben, dass ich’s gemacht habe«, sagt sie und lacht, »es ist befreiend, ein Verbot aufzuheben.«

Hatte sie sich zuvor denn Imitationen im Ernst verboten? »Nein, aber man muss manchmal einfach Sachen ausschließen. Beim Komponieren kann man nicht alles in jedem Stück machen. Man muss Klänge, Ausdrucksmöglichkeiten, Techniken ausschließen, um wirklich an den Kernklang für jedes einzelne Stück heranzukommen. Melodien – so etwas wollte ich lange nicht machen, weil es so viele andere Sachen gab, die ich erforschen wollte. Als ich 2011 anfing, Triller zu komponieren, war das auch eine Befreiung. Triller können ja etwas Oberflächliches sein. Ich hatte mir gesagt, so etwas schreibe ich erst, wenn ich verstehe, wie ein Triller an sich Sinn hat, wie das in meiner Musik verankert werden kann.« Im Violinkonzert »Still« für Carolin Widmann, von Samuel Beckett inspiriert, fand sie dann den Platz.

So gesehen, ist Saunders’ Œuvre eine permanente Expedition ins Ungewisse – jenes Ungewisse, in das sich Traditionen, Instrumente, über Jahrhunderte entwickelte Formen und Techniken verwandeln, wenn man sie nicht einfach übernimmt, daran anknüpft und sie fortschreibt, sondern sie angeht wie einen unerforschten Kontinent, und das mit der Akribie einer Wissenschaft­lerin. Man möchte bei ihr immer wissen, was findet sie als nächstes für sich, was wird sie damit machen?

Besonders beim Umgang mit der Stimme zeichnet sich ein spannender Weg ab: Auf »Skin« folgte mit “Yes” 2017 ein weiteres Stück mit Sopran – »das erste Mal, dass ich eine Akteurin zur Welt gebracht habe«, wie Saunders damals sagte. Sie hatte Molly Bloom zum Singen gebracht, den Schlussmonolog der Protagonistin im »Ulysses« von James Joyce, den Klangreichtum der uferlosen Sätze erforscht, in denen Molly schamfrei vom Leben und Lieben spricht bis hin zum finalen »yes I said yes I will Yes«.

Natürlich wurde das keine Arie. Saunders verteilt die Worte, besser gesagt die Hälfte der Wörter, auf eine Sopranistin und 19 Instrumentalist:innen. Es werden Silben in die Bassflöte geflüstert und geschrien, der Akkordeonist spricht, während sein Instrument einatmet, die Sängerin sogar dann, wenn sie keinen Atem mehr hat. Singen darf sie natürlich auch!

In Saunders’ nächstem Stück für eine Sängerin, »Us Dead Talk Love« von 2021 für Altstimme und kleines Ensemble, gewinnt die Solistin schon mehr Raum für sich, sie wird unberechenbarer, persönlicher. »Beim Alt haben Sprech-­ und Singstimme dieselbe Farbe, Sprechen und Singen können ineinander verwoben werden, anders als beim Sopran … aber guck mal, da ist die Diva – hello!« Rebecca Saunders winkt einer Frau zu, die gerade ins Café gekommen ist – ihre Sopranistin vom Vorabend, Juliet Fraser, ein Wunder an Präzision und Intensität; sie wird in der Elbphilharmonie auch die Vokalpartie in »Yes« übernehmen. »Juliet ist keine Diva, das ist das Schöne. Ich nenne sie Diva, und sie nennt mich Boss.« Saunders lacht sehr fröhlich, so unpassend sind die beiden Etiketten.

Und so sehr freut sie sich auf das, was »Us Dead Talk Love« bei ihr ausgelöst hat. »In Bern kam ich von der Probe an diesem Stück nach Hause und wusste, dass ich jetzt eine Oper schreiben kann. Muss! Am nächsten Tag rief die Deutsche Oper Berlin an – wegen einer Oper! Und ich habe zugesagt. Zwei Tage davor hätte ich einen Opernauftrag abgelehnt.« Ed Atkins, ein britischer Künstler, schreibt nun das Libretto.

»Es geht um Fragen und Antworten. Liebe, Tod, alles, was Oper ausmacht, aber keine Geschichte. Wir arbeiten mit wiederholten Mechanismen, vielleicht ein bisschen wie in Becketts Fernsehspielen. Eine enorme Herausforderung. Ich möchte, dass die Körperlichkeit der Musik einen komplett ausfüllt. Na, mal gucken. Mit Orchester … ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas mache, muss ich sagen. Aber das Leben ist zu kurz, da sollte man nicht zu lange warten.«

Sie erlaubt sich also Melodisches, lässt sich auf Stimmen ein, sogar auf eine Oper – kann es sein, dass auch die ältere Musik wieder interessant für sie wird? »Ich komme gerade zurück zu Barock und Vorbarock und spiele Couperin auf dem Klavier. Den habe ich gerade neu entdeckt, großartig!« Das Klavier war neben der Geige schon früh ihr Instrument, einfach weil ihr Elternhaus voller Klaviere war. Mit »To an Utterance« – im Februar 2023 beim Elbphilharmonie-­Festival »Visions« zu hören – hat sie sich dem Instrument im Rahmen eines Klavierkonzerts neu angenähert. Komponiert hat sie es 2020, »im ersten Lockdown – vier Monate nur zu komponieren war so schön! Es war gewissermaßen ein Luxus, dass die Welt aufgehört hatte. Aber der zweite Lockdown war fürchterlich.«

Vieles von dem, was sie macht, speist sich aus Eindrü­cken vor ihrer Selbstfindung auf dem Kontinent. »Ich weiß noch, als ich ganz jung war, diesen Moment in einer Mahler-­Sinfonie, wo ganz hohe Klänge einfach hängen, während unten alles wegbricht. Das habe ich immer mit mir getragen, bestimmte Momente, eine bestimmte Art von Klang. Und die Polyfonie, die in ›Skull‹ ganz im Vordergrund steht – wo die Instrumentalsolisten wirklich miteinander singen –, sie geht zurück auf mein Studium in Edinburgh, wo Polyfonie mein Lieblingsfach war. Alle meine Stücke sind auf eine Art mehrstimmig, ich denke polyfon. Aber so deutlich wie jetzt, das ist schon ganz neu.«

Wie wird ihre Musik in ihrer Heimat rezipiert? »Ich werde weniger wahrgenommen als hier in Deutschland«, meint Saunders, »aber fast alle meine Werke werden in Huddersfield aufgeführt, das Huddersfield Contemporary Music Festival ist einfach großartig. Aber sie kämpfen gegen enorme finanzielle Schwierigkeiten und populistischen Gegenwind. Viele Veranstalter sind verängstigt, alles muss gerechtfertigt werden. Jedes Stück muss einen Bezug zu etwas haben, relevant sein, bestimmte Themen müssen angesprochen werden. Es gibt einen Mangel an Verständnis dafür, dass Kunst autonom sein muss.« Dass sich so etwas durch die ganze Musikgeschichte zieht, sei kein Grund zur Beruhigung, findet Saunders. »Sobald von oben herab gesagt wird, was erlaubt ist und was nicht, befindet man sich in einer extrem schwierigen gesellschaftlichen Situation, und in Großbritannien ist das sehr weit fortgeschritten. Es gibt diese Tendenz neuerdings auch in Deutschland. Es ist sehr gefährlich, wenn eine Kunst, die keine direkte gesellschaftliche Relevanz aufweist, als problematisch gesehen wird. Wir dürfen diesen Diskurs nicht leicht nehmen, man muss aufpassen.«

Ein gutes Zeichen ist es allerdings, dass eine Komponistin wie Rebecca Saunders an großen Häusern wie der Elbphilharmonie und bei einem Festival wie »Acht Brücken« in Köln in den Fokus gestellt wird – und dann auch noch die Säle füllt. »Ich wurde angesprochen von Leuten, die meinten, das ist sonst nicht mein Ding, aber ich will mehr hören. Da kommen ganz normale Menschen, hören neue Musik und haben keine Ahnung, was da abgeht, und sind interessiert!«

Ja, was geht da ab in neuer Musik? Auf gewisse Weise immer auch das, wovor wir oft Angst haben: Man weiß nicht, was als nächstes passiert. Nur braucht man in einem nie zuvor gehörten Stück Musik vor dem Unbekannten keine Angst zu haben. »Das ist das Großartige an der neuen Musik«, sagt Rebecca Saunders. »Wenn man ein Stück zum ersten Mal hört, ist das ein Angebot, sich zu öffnen und tatsächlich etwas zuzulassen. Man begegnet etwas Unbekanntem, das ist aufregend und wunderschön. Und das erlebt man nicht für sich allein mit dem Kopfhörer. Wir machen das gemeinsam.«

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das Elbphilharmonie Magazin 3/23, August 2023, mit der Überschrift “Was wird sie als nächstes finden?” und ist auch in der Mediathek der Elbphilharmonie nachzulesen. Fotos: Saunders in ihrem Berliner Studio (Astrid Ackermann), Beginn der handschriftlichen Timeline für die Collage “Hauch – Musik für Tanz”, deren Choreographierung beim Saunders-Schwerpunkt in der Elbphilharmonie zu erleben sein wird. 

 

“Der Sarg war schon bestellt”

Seine 14. Oper “Phaedra” hat Hans Werner Henze fast das Leben gekostet. Endlich wird sie nun in Berlin uraufgeführt. Ein Hausbesuch bei dem 81-jährigen Komponisten [DIE ZEIT, 6.9.2007]

Er sitzt im Schatten der Terrasse, auf Olivenbäume blickend. Er wirkt kleiner als erwartet, wie das oft ist, wenn man zuerst die Werke kennt. Kleiner auch als der Mann, den man nach Uraufführungen sah, wo er jederzeit der Bestgekleidete war, mit bronzenem Teint auffallend vital wirkend zwischen bleichen Musikern und geschminkten Sängern. Hans Werner Henze ist jetzt 81 Jahre alt. Mit einiger Mühe steht er auf, doch er funkelt amüsiert, als er die Herkunft des Besuchers erfährt, Niedersachsen. “Darf ich was sagen? Sie sehen aus wie ein Hannoveraner. Meine Großmutter war auch aus Hannover…” Henze sieht jedenfalls nicht aus wie ein gebürtiger Westfale in seinen leichten weißen Sommersachen, mit dem Aristokratenprofil und den hellen mittelmeerischen Augen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert ist er nach Italien gezogen.

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Und hier, auf seinem Gut südlich von Rom, hat er vor fünf Monaten seine jüngste Oper fertiggestellt, Phaedra. Die hat ihn fast das Leben gekostet. Henze erlitt während der Arbeit einen Kollaps, sein Lebensgefährte pflegte ihn gesund. Doch Fausto Moroni selbst starb mit erst 63 Jahren, kaum dass Phaedra fertig war. Henzes “engster, liebster Freund”, Gestalter des Wundergartens, der das gelbe Haus umgibt, “byzantinisches Fürstenkind, Kleinbauer und Seefahrer von beispielloser Begabung für die Kunst des Lebens”. Fausto, der ihm vier Jahrzehnte zuvor in Rom erklärt hatte, er könne mit seiner Musik so gut wie gar nichts anfangen, dann die Ruine auf dem Landsitz sah, den Henze gerade erworben hatte, und beschloss, doch nicht nach Amerika auszuwandern, sondern sich um die Baustelle zu kümmern. Jetzt spürt man hier die Trauer.

Seine 14. Oper ist Henze in mehrfacher Hinsicht nahegegangen. Der zweite Akt von Phaedra spielt hier in der Nähe, am Saum der Berge. Die Gegend ist von vorchristlicher Geschichte durchtränkt wie keine andere, das reicht tiefer zurück als in der Ewigen Stadt, die man vom Garten aus im Tibertal liegen sieht. “Rom ist für die Leute hier Kinderkram”, sagt Henzes Assistent Michael Kerstan. “Es gibt hier eine Autowerkstatt, in der man an der Wand ein Fresko des Mitras-Kults sehen kann. Das war noch vor Diana.” Also noch bevor die hellenische Artemis zur lateinischen Diana wurde und hier in der Nähe ihr Heiligtum bekam, als Folge des Dramas um Phaedra…

Am 6. September wird Phaedra in der Staatsoper Berlin uraufgeführt, die 14. Oper von Henze, der nach seiner 13. gesagt hatte: “Es langt, denke ich.” Peter Mussbach inszeniert, Olafur Eliasson gestaltet den Raum, Michael Boder leitet das Ensemble Modern. Als der junge sächsische Lyriker Christian Lehnert erfuhr, Henze wünsche ihn als Librettisten, wusste er wohl kaum, wie ihm geschah. Es ist “in gewisser Weise so, als würde man für Brahms arbeiten. Oder für Beethoven… er hatte das Gefühl, daß sein Blut abrupt die Blutgefäße hinunterstürzte, so daß er für einen Moment schwankte und sich eine Sitzgelegenheit suchte.” So schreibt es nicht Lehnert, sondern ein früherer Librettist. Hans-Ulrich Treichel machte aus seinen Erfahrungen mit Henze den Roman Tristanakkord, in dem es allerdings um eine Hymne und nicht um eine Oper geht, schließlich hat auch Brahms nie eine geschrieben. Es empfiehlt sich nicht, Henze auf den Roman anzusprechen. “Er hat es nie gelesen”, sagt sein Assistent, “er hat sich davon erzählen lassen und war empört.” Schade, es ist ein witziges, schönes Buch.

Diesmal entstand ein Buch schon vor der Oper, es vereint Tagebucheinträge von Henze und Notizen von Lehnert, der im Mai 2004 das Berliner Hotel Adlon betrat, mit zerschlissenem Rucksack. Mit der Musikwelt hatte er kaum zu tun. Lehnert, von Beruf Pfarrer in Müglitztal bei Dresden, hatte bis dahin nur Lyrik geschrieben. Die aber entdeckte Henze in einer Zeitung, danach entschied er sich für den jungen Sachsen. Man wollte den im Hotel zuerst gar nicht vorlassen zum Komponisten. Dann saßen sie im luxuriösen Appartement, aßen “Sandwiches von der Größe eines Kronkorkens” und besprachen die neue Oper. Lehnert zweifelte, ob er der Richtige sei. “Hans insistierte in einer für ihn typischen Mischung aus Komplimenten, Ironie und Starrsinn.” Der neue Text sollte neben Euripides, Racine und Schillers Übersetzung bestehen.

“Schiller ist grauenvoll, finden Sie nicht auch? Vielleicht sollten wir einige seiner Verse aufnehmen.” So ging das los. Phaedra ist die Geschichte einer unerwiderten Liebe. Phaedra, Frau des Theseus auf Kreta, hat sich in ihren Stiefsohn Hippolyt verliebt. Den lässt das kalt. Gedemütigt verleumdet sie ihn bei ihrem Mann, dem Bezwinger des Minotauros: Hippolyt habe sie zur Liebe gezwungen. Dann erhängt sie sich. Theseus glaubt ihr. Er ruft den Meeresgott an, der einen gewaltigen Stier aus den Fluten steigen lässt, als Hippolyt seinen Wagen am Ufer entlangsteuert. Die Pferde gehen durch, die Räder brechen, der Jüngling wird zu Tode geschleift. Doch die Göttin Artemis bringt ihn in einer Wolke nach Italien und erweckt ihn zu neuem Leben – am See Nemi, zwölf Kilometer von hier. Da gibt es noch die Tempelreste, müllübersät.

Hier wurde nämlich bei den Römern Hippolyt zu Dianas Priester und hieß Virbius, “aber das klingt ja wie eine Schlaftablette, Virbiol oder so”, meint der Komponist. Seine Gestalten bleiben griechisch. Es singen Aphrodite, Artemis, Minotaurus, Hippolyt und Phaedra. Die verfolgt als Untote und Vogelwesen den Geliebten bis nach Italien. Henze fand sie “zuerst ganz nett, aber dann stellt sich raus, dass es ein ziemlich mieses Weibsstück ist, unedel, habsüchtig, bösartig, intrigant, achtlos, ohne Achtung… I’m sorry!” Sie ist als Mezzosopran besetzt – eine Mezzosopranistin regte Henze zuerst zu diesem Stoff an. Mitunter tauchen mit Phaedra zwei Wagnertuben auf, die hier keineswegs nach Drachenhöhle klingen, sondern zum Beispiel sanft das Erwachen der Liebe begleiten: “Dein Blick traf mich einst im Tempel beim Erheben des Opfers ins Feuer…”

Endlos sitzt Henze auf der Terrasse, allein mit seinem Olivenhain

Die Besetzung des kleinen Orchesters ist gewagt, ausgerichtet am Ensemble Modern, das die Uraufführung realisiert. Von 23 Instrumentalsolisten sind gerade mal vier Streicher: Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass. Zwei Perkussionisten bearbeiten dagegen 28 verschiedene Felle, Hölzer und Metalle, es kommen Klavier und Celesta dazu, und zu den 15 Bläsern gehören die beiden Wagnertuben. Wenn sie überhaupt nach Wagner klingen, dann wie einer, der auch dem späten Nietzsche gefallen hätte: mozartisch, südlich, melodisch. So wirkt es zumindest bei der ersten Durchspielprobe ohne Sänger in Frankfurt. “Wie ist es mit der Balance?”, fragt Henze, der nicht dabei sein konnte. Das Ganze ist so durchsichtig, ja lichtdurchlässig, dass es keine Probleme gibt. “Ich kann eben einfach gut instrumentieren!” Er lacht, als hätte er das bezweifelt.

Bei der Uraufführung in Berlin, schreibt er im Tagebuch, “werde ich mehr über mich erfahren können, über mich als Fachmann für Angst und Leiden”. Nicht nur, weil in Phaedra die Liebe mehrfach zum Tod führt, sondern weil der Tod auch Henze selbst bedrohte. Nach dem ersten Akt, im Herbst 2005, verließen Henze die Kräfte. “Ich hörte auf zu reden und schlief immerzu”, sagt er. Im Oktober brach er zusammen und wurde nach Rom ins Krankenhaus gebracht. Dann pflegten ihn sein Lebensgefährte Fausto Moroni und Assistent Michael Kerstan zu Hause sechs Wochen lang. Es stand schlecht um ihn. “Der Sarg war schon bestellt, die Traueranzeige gedruckt”, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen. Und doch ging es gut. Anfang 2006 begann er mit der Arbeit am zweiten Akt, passenderweise der Reanimation des zerschmetterten Hippolyt am Nemisee.

Die Arbeit ging langsam vonstatten. “Er kann endlos auf seiner Terrasse sitzen, allein mit seinem Olivenhain”, schreibt der Librettist. “Er scheint den Lebensrhythmus der Bäume anzunehmen. Schon die Hühner, die zwischen den Stämmen picken, empfindet er als unakzeptable Störung. Noch schlimmer sind die Flugzeuge, die von Ciampino starten, oder die Hubschrauber, die über seinen Garten zur Sommerresidenz des Papstes fliegen.” Indessen genügt Henze, wenn er so da sitzt, mitunter schon der Blick auf fünf Telegrafendrähte hinter der alten Mauer, um in diesen luftigen Notenlinien eine Zwölftonreihe zu imaginieren. “Immer mehr habe ich ein Es gesehen, ein F, ein Cis…” Und manche komplexe mehrstimmige Passage, sagt er, “brauche ich nicht nachzuprüfen am Klavier, es stimmt einfach, das kommt in den letzten Jahren öfter vor”.

“Mit dem Tod ist alles aus. Das zu wissen, macht das Leben intensiver”

Aber die Arbeit und die Schicksalsschläge haben ihn müde gemacht, er hört oft nicht mehr gut, seine linke Hand, mit der er früher schrieb, zittert. Als abends eine Besucherin aus Japan mit Blumen kommt, gibt er den Strauß schnell weiter – der Arm tut rasch weh von dem Gewicht, lieber noch eine “acqua macchiata”, Wasser mit Schuss, ehe man sich zum Essen setzt. Es wird zubereitet von dem albanischen Ehepaar, das er und Fausto aufnahmen – Bootsflüchtlinge mit einem dreijährigen Sohn. Eine Tochter kam vor neun Jahren hier zur Welt, auf La Leprara. Nun stehen diese Geschwister vor ihm, Aurora und Aurelian, sanft und schön wie aus einem Märchen, schüchtern lächelnd. “Ich bin nicht der Vater, leider”, sagt er. “Es ist meine größte Freude, diese Kinder wachsen zu sehen. Fausto hat alles für sie getan. Jetzt haben sie sogar italienische Pässe.”

Die Japanerin ist in Nagoya geboren, das bringt uns wieder zu Phaedra. Denn in Nagoya erlebte Henze erstmals das Stück von Racine, vor gut 40 Jahren. Auf Japanisch. Er schlief im Theater ein und schreckte erst hoch, als Phaedra laut “Kokolo!” rief. So hieß damals auch Henzes Hund. Auf Japanisch heißt es aber “Herz”. Er fragt sie, wie man es in Japan mit der Religion halte. Die spiele keine große Rolle, erzählt sie. Er schweigt wieder und lauscht dem Gespräch, das über den Papst und dessen Steinway zu dessen Haushälterin gewandert ist. Plötzlich sagt er: “Ich finde es gut, wenn die Leute an nichts glauben. Keine Religion. Mit dem Tod ist finita la commedia. Es macht unser Leben intensiver und klüger, wenn wir das wissen.” Vollmond über der Terrasse, ein Flugzeug von Osten blinkt im Sinkflug. Das ist die Route, sagt er, auf der einst die Götter kamen.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst in der ZEIT, 6. September 2007. Hans Werner Henze starb 86-jährig am 27.Oktober 2012 in Dresden; mein Nachruf auf ihn erschien auf ZEIT online. Das Foto von Henze auf seiner Terrasse entstand 2009, mit Quellenhinweis “PD” ist es auf NZZ online vom 2. Juli 2019 zu finden.

 

Auge der Musik

Vor 100 Jahren [DIE ZEIT,  4. Dezember 2008] kam Elliott Carter, Altmeister der amerikanischen Avantgarde, in New York zur Welt. Dort lebt und komponiert er noch immer. Ein Besuch

Drei Tage bevor Elliott Carter zur Welt kam, hatte Gustav Mahler ein paar U-Bahn-Stationen weiter seine Auferstehungssymphonie in New York dirigiert, amerikanische Erstaufführung, mäßiger Erfolg. Drüben in Europa hatte Schönberg gerade die luft von anderem planeten vertont und den Skandal noch vor sich. Hundert Jahre später sitzt Elliott Carter, geboren am 11. Dezember 1908, in seiner Wohnung, nach wie vor in Manhattan, und wiegt die Partitur in Händen, die ich mitgebracht habe. Seine Symphonia von 1996. “Oh my God. So schwer! Ich hab die noch nie vollständig gesehen.” Er legt die Noten auf den Boden und zeigt entschuldigend neben sich, auf dem Sofa liegen CDs und Bücher. “Ich bin nicht sehr ordentlich… Möchten Sie Tee?”

Eliott Carter ist zierlicher, kleiner geworden in den letzten zwanzig Jahren, er benutzt einen Stock zum Gehen und ein Hörgerät. Aber auch wenn man nicht wüsste, dass er zu den wichtigsten Komponisten des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts zählt, würden einen seine Augen aufmerksam machen. Helle, genaue Blicke. Freundlich. Und abwartend. Auch ein selbstbewusster Künstler muss, wenn ihm sein hundertster Geburtstag bevorsteht, befürchten, dass ihn die Journalisten nicht nur besuchen, weil sie seine Kunst bewundern. Sie hätten ja auch früher kommen können. Andererseits, wie sollte man nicht fasziniert sein von einem, der mit hellem Bewusstsein über mehrere Epochen blickt und zudem jenseits der 80 als Komponist aufgeblüht ist wie keiner vor ihm?

Die Zeit, das sonderbar’ Ding: Kein anderer Musiker hat es so gründlich auseinandergenommen, durchleuchtet, befreit wie dieser freundliche Herr. Seine Symphonia, die neben dem Sofa liegt, beginnt mit höchster Ereignisdichte, fast lichtschnell. Sie springt einen an. Ein Schlag der tiefen Bläser und Streicher, mit Klavier und Trommel entfaltet sich mit unfassbarer Geschwindigkeit durch 33 Notensysteme nach oben. Da fliegen einem Teile um die Ohren und sind zugleich so klar zu sehen, als stünden sie in der Luft. Eine komponierte Explosion? Ein Hyperraumsprung von Alpha Centauri in die 12th Street West, New York? Swoosh! Jäh bremst die Musik, sanft legen sich lange Flötentöne übereinander wie die Schatten der Bäume vor Carters Haus.

Wenn Carter “jetzt” sagt, schwingt ein ganzes Jahrhundert mit

Er lächelt und sagt: “Es ist so ähnlich wie bei Mozart.” Mozart? Ohne Metrum, ohne Tonalität, ohne Melodie! “Bei mir entwickelt sich immer etwas von einem zum andern. Zum Beispiel der Abschnitt mit den tiefen Flöten, der etabliert etwas im nächsten Abschnitt, woraus wieder etwas hervorgeht…” Dieses Verfahren sei Mozart näher als Bach, der sich pro Stück mit einer Sache befasse und sie von allen Seiten beleuchte. “Wie Boulez.” Carter bewundert den jüngeren Kollegen, der vieles von Carter dirigierte. “Einmal in London, da kamen nicht viele, und er sagte, der Applaus klingt wie Schneefall…” Er lacht sehr lange, ehe er wieder ernst wird. “In den USA können wir uns Schneefall nicht leisten. Hier müssen Sie Sachen spielen, die das Publikum mag, sonst werden Sie nicht aufgeführt. Ich wollte aber Musik schreiben, die schwierig ist. Warum, kann ich nicht erklären. Ich wollte das nun mal…” An den Eltern lag es nicht. Carters Vater, ein erfolgreicher Textilimporteur, war strikt gegen den Wunsch seines Sohnes, Komponist zu werden. Dieser Wunsch erwachte, als Carter 1923 in der Carnegie Hall Strawinskys Sacre du Printemps hörte, zehn Jahre nach der legendär skandalösen Pariser Uraufführung. “Ich dachte: Das ist das Größte, was ich je gehört habe. Ich möchte Komponist sein, um auch so etwas zu schreiben. Wunderbar, aufregend! Ein Teil des Publikums lief raus, sie hassten es.”

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Der Gymnasiast befreundete sich mit Charles Ives, dem großen Einzelgänger von New England, der ihm am Klavier seine Concord Sonata vorspielte. “Zu der Zeit habe ich mich nur für moderne Musik interessiert. Ich dachte, Bach und Beethoven sind langweilig. Die Moderne hat etwas in sich, das wir in älterer Musik nicht finden. Es ist now, kein Spiegel in der Vergangenheit.” Wenn Carter “jetzt” sagt, ist das so eine Sache. Zur Gegenwart gehören für ihn Béla Bartók wie Pierre Boulez, die er beide berühmt werden sah, einen vor und einen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die aktuelle Finanzkrise erinnert ihn nicht nur an die Große Depression der Dreißiger, sondern auch an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. “Mein Vater nahm mich auf einer Geschäftsreise mit nach Berlin. Die Leute verkauften Uhren an der Straße, um was zu essen zu kriegen, und wir wohnten im Adlon, da stahlen einem die Kellner das Essen vom Tisch. So schlimm wird’s wohl nicht werden jetzt. Das war ja wegen des Vertrags von Versailles…”

Carter wuchs sorglos auf. Er studierte in Harvard Musik, englische Literatur, Griechisch und Philosophie, lernte Klavier und Oboe. Das Komponierhandwerk veredelte er Anfang der 1930er in Paris bei der legendären Nadia Boulanger – noch immer gegen den Willen von Carter senior. Doch die Mutter unterstützte ihren Sohn heimlich mit tausend Dollar im Jahr. “Bei Boulanger lernte ich den Glauben an die Noten. Man schrieb keine Noten, die nichts bedeuteten.” Und man trainierte das Kontrapunktieren mehrerer selbstständiger Stimmen. Diese Technik trieb Carter später in neue Dimensionen voran. Doch bis zum Durchbruch dauerte es. 1935 kehrte er nach New York zurück, per Schiff. “Gegen die Seekrankheit hat mir Brahms geholfen. Ich ging im Kopf eine Symphonie durch, dann wurde mir besser!” Der romantische Kontrapunktiker ist ihm überhaupt nah. “Ich neige immer mehr zu Schönbergs Ansicht, dass er radikal war. Noch 1926, als ich in Boston studierte, liefen die Leute bei Brahms raus. Da hätte auf dem Notausgang stehen können: Exit in case of Brahms!”

Er zählt ihn auch zu den Pionieren seines eigenen Wegs, den er erst spät und einsam mit 42 Jahren fand. Carter verbrachte ein Jahr in der Wüste von Arizona. “Ich kannte die ganze Welt der Klassik und der Gegenwart und musste diese Musik wegräumen auf der Suche nach dem, was ich wirklich sagen wollte. Viele Skizzen dienten nur dieser Suche.”

Im ersten Streichquartett fand er seinen Weg. Die vier Instrumente haben keinen gemeinsamen beat, auch ihr je eigenes Tempo wandelt sich dauernd. Das Cello beginnt einen Monolog mit Metronomzahl 120 pro Viertel, sein zweites Thema basiert auf fünf Achteln à 48, dann zupft die zweite Geige im Tempo von fünf Sechzehnteln à 96 dazu, was das Cello keineswegs beeindruckt, danach singt ganz oben die erste Geige etwas völlig anderes, und wenn die Bratsche einsetzt – nein, dann ist eben nicht das Chaos komplett. Die vier eigensinnigen Stimmen verbinden sich, um Weite zu erzeugen, Klarheit. Die Polyphonie der Metren, bei Carters Vorbildern Ives und Conlon Nancarrow noch etwas mechanisch, wird zur Modulation, sie entfaltet sich wie ein Gesang. Die Wüste lebt, die Zeit wird vielschichtig, formbar.

Darin, meint der Komponist, spiegele sich auch die gewandelte Zivilisation. “Auf einem Pferderücken zu reiten ist etwas völlig anderes als die Reise im Flugzeug. Der regelmäßige Puls ist komplett aus unserem Leben verschwunden.” Da erklärt er sich, entgegenkommend, wie er ist, vielleicht zu einfach. Denn zum einen ist der Herzschlag als Basso continuo des Lebens nie verschwunden. Zum andern vermeidet Carter nicht nur im Tempo das Regelmaß, er mag auch sonst keine Muster. Erst im Spätwerk kommt es vor, dass ein Motiv, eine Geste mal eindeutig wiederholt wird und dass sich beim Hören unmittelbar Anhaltspunkte bilden. Zitate und Historismen meidet er. Dass Carter lange als ein Komponist für Komponisten galt, hat auch damit zu tun.

Seit 1945 lebt der Komponist in seiner Wohnung in Greenwich

Bei Kollegen trug ihm seine Arbeit höchstes Lob ein: Igor Strawinsky nannte Carters Doppelkonzert für Cembalo und Klavier von 1961 ein “Meisterwerk”. Das freut ihn noch immer so sehr, dass er abwiegelt: “Vielleicht war er ja nur höflich…” Carter hat den Kometen seiner Jugend völlig unverhofft kennengelernt. “1945, als Anton Webern von dem amerikanischen Offizier erschossen worden war, organisierten meine Frau und ich in New York ein Konzert mit seiner Musik, Juillard Quartet, sehr gute Leute. Es kamen sechs Zuhörer. Zwei davon waren Strawinsky und sein Assistent!” In jenem Jahr 1945 zogen Elliott Carter und seine Frau Helen in die Wohnung, in der wir jetzt sitzen, später haben sie sie für 15000 Dollar gekauft. “Damals war Greenwich Village komplett von Künstlern bevölkert, die Wohnungen waren sehr billig, notdürftig. Edgar Varèse wohnte fünf, sechs Blocks weiter! Jetzt ist das ein Ort für Leute von der Wall Street. Ich bin wohl einer der letzten Künstler, die hier leben.” Seit Carter sie erwarb, ist die Immobilie um das 200-fache im Wert gestiegen. Hier komponiert er jeden Tag von 9 Uhr morgens bis halb zwölf, Besucher empfängt er nachmittags. Er hat eine Haushälterin und einen Assistenten, und einen Fahrstuhl gibt es natürlich auch.

Hier, in der achten Etage eines alten Backsteinhauses, entstand auch die Symphonia, ein zentrales Werk seiner späten Phase. “Dabei tat ich Sachen, die ich nie zuvor getan hatte. Ich plante nicht Polyrhythmen von vorn bis hinten. Es waren kleine Teile, die zusammengefügt wurden, wie ein Spiel. Darum heißt der erste Satz Partita – so nennt man in Italien ein Fußballmatch. Die Fragmente wurden ausdrucksvoll, weil es Fragmente waren.”

So einer tut sich mit der Oper schwer. Carter musste 90 werden, um etwas für Musiktheater zu schreiben. “Alle andern wählten immer eine berühmte Story, einen Roman, etwas aus der Geschichte. Ich wollte das nicht. Dann fiel mir ein, dass jeder etwas mit Autos zu tun hat. Abgesehen von Sex, sind Autos das, was die meisten Menschen bewegt. Also komponierte ich einen Autounfall.” Kein tragisches Stück, sondern ein “humoristisches”. Niemand wird verletzt bei diesem Crash, den man gleich zu Beginn wie in Zeitlupe hört. Perkussionsinstrumente zeichnen in lichter Textur herumfliegende Autoteile. Verwirrt stehen dann die Passagiere da, wissen nicht mehr, woher sie kommen, wohin sie wollen: What Next? heißt das 45-Minuten-Stück.

“What next?” könnte auf dem Schild an Carters Werkstatt stehen. Keine Wiederholungen! In jedem seiner jetzt 90 Werke hat er Neues versucht. “Ich mag keine Musik schreiben, die mir nicht wie ein Abenteuer vorkommt”, sagt er. Trotzdem hat er einige Abenteuer der Avantgarde nie ausprobiert: Elektronik, Kratzgeräusche, Zufall. Wie mit ihm John Cage, dem anderen großen Alten der amerikanischen Musik, steht Elliott Carter wie der Kontrollfreak neben dem Anarchen. Dabei ist er undogmatisch: Er bewundert zumindest den frühen Elektroniker Karlheinz Stockhausen, er mag den Klangentgrenzer Helmut Lachenmann und den eruptiven Wolfgang Rihm, “aber der ist von furchtbar schwankender Qualität”. Von Esoterikern wie Arvo Pärt hält er gar nichts. “Das klingt wie mittelalterlicher Gesang, aber die Gregorianik war viel interessanter.”

Geradezu beängstigend findet er den Minimalismus von Phil Glass, “den Gedanken der Wiederholung. Auch im Fernsehen wird alle drei oder fünf Minuten dasselbe wiederholt. Over and over. Es hält einen vom Denken ab.” Dagegen hat er jahrzehntelang ankomponiert, hat mitunter fast hermetisch einen Raum zum Denken gesichert. “Ich war früher viel reflektierter als heute”, sagt er, “und jetzt bin ich ungeduldiger. Ich möchte die Stücke jetzt schneller fertig haben. Wenn ich mir angucke, was das für Mühe macht, wundere ich mich, dass überhaupt jemand komponiert. Das ist ja nicht wie Schreiben, wie Literatur. Es ist, als ob man in einer Sprache etwas gut sagen will, die man nicht sehr gut kennt.”

Häufig erlebt man in seinen späten Stücken die Gleichzeitigkeit von Emotion und Abstraktion. Im Hornkonzert von 2006 bläst der Solist über zerklüfteten Strukturen sehnsüchtige Kantilenen, die von Britten sein könnten. Im letzten Viertel der Partita hört man immer wieder regelrechte Schreie der Blechbläser, von denen das dicht verzahnte Orchester unterbrochen und der Hörer erschrocken wird – aber es sind eben nicht nur Schreie, sondern zugleich Klangereignisse fern von Ausdruck, die ihren Platz in einer Konstruktion haben. Es geht einem da wie mit jenem erloschenen Vulkan im Indischen Ozean, der, aus der Luft betrachtet, einem Elefantenauge gleicht. In Carters steinigsten Passagen kann man plötzlich angeblickt werden.

Am Ende des Couchtischs steht auf einem Hocker eine Skulptur, ein schlichter, schöner, schmaler Frauenkopf aus Stein. “Das ist sie”, sagt Carter. Ein Selbstporträt von Helen Jones Carter, geboren 1907, ein Jahr vor ihrem Mann. Sie starb 2003. Er sagt “vor etwa zehn Jahren”. Er, dessen Gedächtnis ein Jahrhundert umfasst, will sich an dieses Jahr nicht erinnern. “Ich sag’s nicht gern, aber sie gab die Bildhauerei auf, zwei, drei Jahre nach unserer Heirat. Ich wurde ihre Statue… Sie kümmerte sich um mich, wirklich eine wunderbare Frau. Sie sagte, sie habe nicht genug Originalität, um etwas Wichtiges zu schaffen, etwas Interessantes. Ich meine… ich könnte Ihnen ein paar Bilder zeigen, später, von ihren Sachen. Wir haben schöne Reisen gemacht. Istanbul…”, sagt er leise.

Weil in Carters Musik das Subjekt so gut in der Konstruktion geborgen ist, kann es sich unendlich verletzlich zeigen, wie in Shadows (2002), einem Stück für Mezzosopran und Orchester nach Worten von William Carlos Williams. Es ist, als schreibe Carter, indem er behutsam den Worten folgt, einen zweiten, anderen Text. Wo Williams dichtet, “zugleich eins mit allen Menschen und zugleich nicht”, führt uns Carter zu tiefster Intimität, zu einer Dünnhäutigkeit von Wesen, die sich fast zu vertraut sind, um es zu ertragen – aber ein Fenster ist offen, es regnet sanft. Wie können Töne so etwas wachrufen?

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien zuerst in der ZEIT, 4. Dezember 2008, und ist auch auf ZEIT online zu lesen. Ein Text zur Ersteinspielung von Carters Symphonia erschien am 14. Oktober 1999 in der ZEIT. In Carters letztem, 103. Lebensjahr entstand Instances für Kammerorchester, wozu hier etwas zu lesen ist. Das Foto (Wikimedia Commons) zeigt Elliott Carter 1917.