Ein Orfeo mit Wohnsitz in Warschau und auf Sardinien: Tenor Krystian Adam erzählt, wie er zu Monteverdi kam und warum er dauernd Chopin hören könnte
Wenn es etwas gibt, das Sängerinnen und Sänger in Interviews selten tun, dann ist es Singen. Sie sprechen viel und gern über ihre Kunst, manche bis auf historische Details genau oder bestimmte Intervalle, manche lieber über die Gefühle in ihrer Rolle. Aber Töne lassen sie kaum hören. Und die meisten sprechen so, dass ein Außenstehender nicht auf die Idee käme, sie als Sänger zu identifizieren, also normal, ungestützt, eher leise, wenn auch vielleicht etwas klarer prononcierend als andere Leute. So unauffällig spricht auch Krystian Adam, der Tenor. Aber er singt oft bei unserem Gespräch in der Cafeteria der Oper Zürich, gleichsam ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, mezzopiano, akustische Vignetten mit leichter Stimme, um etwas zu verdeutlichen. Das geht von Monteverdi bis, ja doch, Chopin, bis zur Polonaise As-Dur opus 53…
Am ausführlichsten singt Krystian, als er von einem gefährlichen Moment seiner Karriere erzählt, von einer jener barocken Arien, in denen man auch Töne singen muss, die nicht da stehen, selbsterdachte Verzierungen, Koloraturen, Kadenzen. «Das war beim Festival in Santiago di Compostela. Ich hatte noch nicht viel Erfahrung und improvisierte eine Kadenz, begann und wusste nicht mehr, wo ich war.» Er singt, ganz entspannt dasitzend, leise eine Skala aufwärts, setzt neu an, noch eine, es geht treppauf und treppab, bis zu einem Triller … «Wenn diese Note jetzt nicht auf die Tonika passt, habe ich trouble! Ich war so gespannt. Und das Orchester spielte den Akkord, uff, ein 100-Kilo-Gewicht fiel mir von den Schultern! So etwas habe ich dann lange nicht mehr riskiert.»
Es gehe ja auch nicht nur darum, nach Koloraturen richtig zu landen, sondern auch, die Verzierung dem Affekt der Arie anzupassen, Wut brauche andere Töne als Übermut. Inzwischen könne er ganz gut improvisieren, «aber an jedem Abend eine andere Kadenz singen, das mache ich nicht.» Für eine der berühmtesten Arien im Orfeo, mit dem Krystian in Zürich debütiert, habe Claudio Monteverdi ohnehin selbst eine Kadenz geschrieben, für «Possente spirito», den Gesang, mit dem es Orpheus gelingt, in die Unterwelt vorzudringen, um seine geliebte Eurydike zurück ins Leben zu holen. «Es ist meine Lieblingsrolle», meint der Tenor, «superschwierig, nicht nur musikalisch. Was der fühlt, ist unglaublich.» Identifiziert er sich mit diesem Helden? «Das Wichtigste im Leben», sagt Krystian in seinem gepflegten, dezent polnisch gefärbten Englisch, «ist lieben und geliebt werden. Wenn man die Liebe des Lebens findet, tut man alles für sie oder ihn. Jeder von uns ist dieser Orfeo. Nur hat vielleicht nicht jeder diesen Mut.» Einmal seien ihm die Tränen gekommen, als er «Tu se’ morta» sang, «Du bist tot, mein Leben, und ich atme noch?» «Das war mir so nah, und es muss auch real sein. Man kann das nicht schauspielern. Ich glaube, dass in vielen Rollen die wahre Empfindung für das Publikum wichtiger ist, als dass alles perfekt gesungen wird. Ich sah mal Tosca mit einem verheirateten Paar, ein Liebesduett mit Tosca und Cavaradossi, das war nur fake. Sie waren im wahren Leben verheiratet, aber auf der Bühne war gar nichts.»
Das ginge ihm mit seiner Frau, der Sopranistin Natalia Rubiś, wohl anders. Die beiden treten mitunter auch gemeinsam auf, aber weder in Orfeo noch in Tosca, denn ihre Domäne ist die Oper des 19. Jahrhunderts und seine die der beiden Jahrhunderte davor. Was keineswegs Krystians ersten Plänen entsprach – gerade Puccinis Tosca hatte ihn schon als kleinen Jungen beeindruckt, «alles war so schön, obwohl ich nichts verstand!» Sein Weg zum Gesang begann im schlesischen Städtchen Jawor, «in einem Haus voller Musik, meine Eltern sind keine Musiker, aber sie hörten alles Mögliche. Eine Tante hatte ein Klavier, auf dem probierte ich ein bisschen und sagte, das möchte ich auch haben, mit sechs. Mein Vater meinte, na gut, wir besorgen ein Klavier und gucken, was passiert.» Krystian lernte schnell, mit elf durfte er auch in der Kirche Orgel spielen, «singen musste ich da auch», ein Gesangslehrer hörte das und schickte ihn zu einem Kollegen ins 70 Kilometer entfernte Wrocław.
Bei diesem Breslauer Lehrer, Bogdan Makal, hat er dann auch Gesang studiert, mit den großen italienischen Opern im Sinn. «Ich dachte, wer Sänger sein will, muss Tosca und Traviata singen.» Mit dem Ziel setzte er das Studium auch in Mailand fort, am Konservatorium, sang mit im Chor der Scala und war nicht gerade begeistert, als ein Dirigent ihn für ein Programm mit Händel fragte. «Naja, als Student brauchte ich Geld… Danach sagte der, ich glaube, diese Musik ist perfekt für dich. Lass uns noch etwas probieren. Und ich begann die barocke Musik Schritt für Schritt zu lieben. Man öffnet die Tür und sieht mehr und mehr Licht und dann einen schönen Garten…»
Es ging noch ein anderes Licht auf in Mailand. Sein polnischer Lehrer rief an und bat ihn, einer seiner Studentinnen, die dort studieren wollte, die Stadt zu zeigen. «Sie war mit ihrem Freund da und ich mit meiner Freundin, also, das war nicht so einfach… es ist sechzehn Jahre her, und seit elf Jahren sind wir verheiratet.» Wie er hat sich auch Natalia in die Insel Sardinien verliebt, wo die beiden inzwischen ihren zweiten Wohnsitz haben, neben Warschau. «Viele Reisen, ja. Aber nur an einem Ort halte ich es sowieso nicht aus. Ich träumte schon als Junge von grossen Reisen.»
Mir fällt ein, wieviele polnische Künstler Kosmopoliten sind und zugleich sehr ihrem Land verbunden. Gibt es so etwas wie eine polnische musikalische Identität? «Danke für die Frage! Ich könnte die ganze Zeit Chopin hören. Besonders, wenn ich lange weg bin. Schon zwei Akkorde sagen etwas über Polen.» Er singt den Anfang des Themas der As-Dur-Polonaise, so berühmt, dass man darin fast schon das ganze Stück hört. Aber einer wie Krystian – der als Pianist das Stück ja auch selbst spielen kann – hört noch mehr: «It’s so Polish inside! Da fühle ich mich wirklich zu Hause.» Und er singt gleich weiter …
Ein anderes musikalisches Zuhause ist für ihn die Szene italienischer Barockinterpreten, zu der auch Ottavio Dantone zählt, der Dirigent des Zürcher Orfeo. Zeitweise war Dantone auch Cembalist des Mailänder Ensembles Il giardino armonico, für das sich der Sänger schon als Student begeisterte. «Das waren für mich die Götter der Barockmusik! Das ist nicht die höfliche englische Art, tantakadamm…», er deutet singend einen Rhythmus an, «das ist die italienische Art», derselbe Rhythmus mit mehr Kante und Drive. «Sie bringen all diese Musik als Musik von heute. Das ist alles zusammen, Barock, Rock, Pop…» Als er später für einen Auftritt mit diesen Musikern angefragt wurde, konnte er sein Glück kaum fassen und hielt mitten auf der abgelegenen Strasse an, wo ihn im Auto der Anruf seiner Agentur erreicht hatte. «Ich fühle mich noch heute ein bisschen wie ein Schuljunge, wenn ich mit ihnen arbeite.» Indessen war es doch ein Engländer, nämlich John Eliot Gardiner, der Krystian darauf brachte, wieviel Pop auch im Orfeo steckt, etwa in «Vi ricorda, o bosch’ ombrosi». Auch eines der Stücke, die er nur ansingen muss, um alles wachzurufen. «Er sagte, du kommst damit wie Elvis Presley auf die Bühne! Ja, Orfeo ist auch ein Popstar.» Genau deswegen reizte es Krystian auch, beim Projekt Orfeo 2.0 mitzumachen, bei dem das Leverkusener Ensemble L’arte di mondo neben Streichern und Laute auch E-Gitarren und Schlagzeug einsetzt. «Meine Agentur riet ab: Du hast Orfeo mit Gardiner in der Carnegie Hall gemacht – und jetzt so etwas? Aber ich experimentiere gern. Wenn man im Theater weinen kann, ist alles gut, egal mit welchen Instrumenten.»
Wie wahr das ist, merke ich auf der Bühnenprobe nach unserem Gespräch. Es ist die erste Probe auf der grossen Bühne, noch mit einem Klavier im Graben. Schon die ersten Harmonien reißen einem das Herz auf. Dann kniet Orfeo neben dem offenen weißen Sarg, hebt die Hand der Toten hoch, an der der Ehering funkelt, und Krystian Adam erhebt seine geschmeidige Stimme zu jenem «Rosa del ciel», mit dem Orfeo sonst sein Glück besingt. Es ist nur eine Probe. Aber wenn der ganze Abend so wird, werden die Leute mehr als ein Taschentuch brauchen.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 112 der Oper Zürich, Mai 2024, und ist auch auf der Website des Hauses zu lesen. Der neue Zürcher Orfeo hat am 22. Mai 2024 Premiere.