“Adrenalin ist die einzige Droge, die ich brauche”

Knapp vier Wochen vor der Premiere der Zürcher “Götterdämmerung” packt Siegfried aus: Klaus Florian Vogt vor seinem Rollen-Debüt

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In Norddeutschland, wo er herkommt, würde man sagen, er hat die Ruhe weg. Das ist vielleicht sogar eine Grundvoraussetzung für diese Art von Berufsleben. Da kommt in Zürich kurz vor der Bühnenprobe für die Götterdämmerung, erster Aufzug, dritte Szene, die Anfrage aus Paris, ob er da als Lohengrin einspringen kann am nächsten Tag. Kurzer Austausch mit dem Intendanten in der Cafeteria, ob das gehen könnte. Klaus Florian Vogt ist völlig gelassen. Während man in der Pariser Oper wahrscheinlich nervös auf den Nägeln kaut, wirkt das Thema bei ihm, als müsse nur geklärt werden, ob ein Stuhl links oder rechts steht. Sie lassen das erstmal offen und kümmern sich in der Probe um Komplizierteres, nämlich wie Siegfried als Unsichtbarer seiner Brünnhilde – von der er vergessen hat, dass sie seine Braut ist – glaubwürdig den Ring entreissen kann. Immer mit Klavier und Gesang, denn die Bewegungen müssen ja der Musik folgen, und mit endlos viel Geduld.

Ehe es um die Emotionen gehen kann, in dieser Szene so vielschichtig wie selten, muss die Choreografie gebastelt werden, und in diesem Modus klingt es noch wie eine freundliche Ansage, wenn Vogt, sanfter Hüne in Jeans und mit dem Tarnnetz auf dem blonden Haar, an Gunthers Stelle singt: «In deinem Gemach musst du dich mir vermählen!» Da hört man aber schon die Klarheit in dieser Stimme, aus der er so unendlich viele Farben holen kann. Dass die Emotionen auch in einer Probe so hochkochen können wie sonst nur in den besten Momenten einer Aufführung, dazu kommen wir später, im Foyer, wo Klaus Florian Vogt mir erstmal von seinem Weg zum Siegfried erzählt, der sich bei unserem letzten Treffen vor neun Jahren durchaus schon abzeichnete. Da sang er gerade den Lohengrin in Bayreuth und sagte auf die Frage, was denn an den Partien des Siegfried und des Tristan so grossen Respekt auslöse: «Das weiß ich auch nicht. Darauf bin ich sehr gespannt.» Er lacht schallend, als ich ihn daran erinnere. «Jetzt ist es soweit mit dem Herausfinden», meint er und ergänzt: «Man sollte vor jeder Rolle Respekt haben.» Vielleicht ist er ein bisschen ernster geworden, ansonsten eher reifer als älter, so durchtrainiert, wie er da sitzt. Aber wenn er lacht, bricht es jählings hell und übermütig aus ihm heraus.

Seinen ersten Tristan singt er nächstes Jahr an der Semperoper, in Bayreuth auch beide Siegfrieds, den im Siegfried und den in der Götterdämmerung, für die er dann schon seine Erfahrungen aus Zürich mitbringt. Das schwere Heldenfach? «Das wird so genannt, ja. Ich seh’ das nicht so, ich singe ja den Siegfried technisch nicht anders als den Lohengrin, lauter oder so. Ich gehe von der Figur aus, von der Orchesterfarbe, von der jeweiligen Situation, und von da kommt der Stimmausdruck.» Aber es seien nun mal große und lange Partien, «und wenn man noch nicht so erfahren ist und die Stimme technisch noch nicht so gereift, lässt man sich von so einem dicken Orchesterklang hinreissen, dagegen anzugehen, und das ist eine große Gefahr. Dass man überzieht, forciert. Dadurch wird man müde, und das ist nicht so erstrebenswert.» Er lacht wieder. «Mit mehr Erfahrung spürt man besser, wie weit man gehen kann. Beim Siegfried war es so, dass es irgendwann keine Passage mehr gab, wo ich mir hätte Sorgen machen müssen, oh, das ist ja so hoch oder so lang oder so laut… Darauf habe ich gewartet.» Dazu komme so etwas wie beim Krafttraining. «Wenn man mehr Muskeln will, muss man neue Reize setzen, zum Beispiel die Gewichte erhöhen oder die Frequenz. Das ist auch mit der Muskulatur so, die die Stimme hält.»

Abgesehen davon sei Wagner ja keineswegs nur laut. «Klar gibt’s laute Stellen! Ein richtig fettes Orchester-Fortissimo, das liebe ich!» Da jubelt noch der Hornist im Sänger mit, der im Graben der Hamburgischen Staatsoper früher selbst solche Fortissimi blies. «Aber es ist viel schöner, wenn es ganz grosse Gegensätze gibt. Wagner schreibt sehr oft piano, und gerade bei Parlando-Stellen macht er das Orchester wirklich leise, wie bei dem verträumten Waldweben im Siegfried, nur so eine Fläche unter der Stimme, das darf auch was Zartes haben. Ich sehe uns in solchen Momenten ein bisschen wie als Märchenerzähler. Ja, wir erzählen eigentlich ein Märchen, und wenn ich was erzähle, möchte ich, dass mein Gegenüber das versteht. Bei Wagner sind Text und Musik wirklich ineinander verwoben und gleichberechtigt zu singen. Wenn man seine Melodieführung und die Pausen genau befolgt, merkt man, dass der ganze Text sehr organisch ist. Es gibt wenige Stellen, wo man Gefahr läuft, sich die Zunge zu brechen. Für mich ist das alles wunderbar singbar.»

Aber einfaches Märchendeutsch ist es ja nicht gerade. «Es ist im Ring schon deswegen schwer zu verstehen, weil die Geschichte so kompliziert ist! Es ist wichtig, diesen Text für sich selbst, aber auch für das Publikum zu entflechten, sonst versteht man ja gar nichts mehr. Das ist ein Großteil der szenischen Arbeit, dass wir uns untereinander klar machen: Was sagt der eigentlich? Das ist mit Andreas Homoki als Regisseur so, dass man es am Ende versteht. Ich bin unheimlich froh, diese beiden Siegfrieds mit ihm zu machen, weil er sehr nah am Stück bleibt, weil man die Grundlinien dieses Charakters versteht und sein Verhältnis zu den anderen. Wenn man gleich beim Rollendebüt etwas Verdrehtes machen muss, kriegt man diesen Zugriff nie. So habe ich für die beiden Partien ein tolles Gerüst, in dem ich die mit der Zeit auch erweitern kann.»

Wie unterscheiden sich denn die beiden Siegfrieds? Immerhin hat Richard Wagner den Siegfried nach dem zweiten Aufzug 1857 erstmal liegen lassen, Tristan eingeschoben und ab 1869 dann den Ring fertig komponiert. Manche finden, der Held sei in der Götterdämmerung ganz anders geworden, es seien sogar zwei so verschiedene Partien, dass der Sänger sich umstellen müsse. Das findet Vogt nicht, anders als sein Kollege Stephen Gould, der jetzt so früh gestorben ist. «Das hat mir Stephen auch erzählt. Natürlich ist von der Anlage der frühere Siegfried anders, viel mehr spielerische Elemente, und beim späteren geht es in der Harmonik viel weiter. Aber ich glaube nicht, dass man den anders singen muss. Es wird immer gesagt, das ist der erwachsene Siegfried. Quatsch, der hat genau dieselbe Frische und Direktheit. Man könnte sich sogar vorstellen, dass zwischen dem Ende des Siegfried und dem Beginn der Götterdämmerung nur eine Nacht mit Brünnhilde liegt. Wovon soll der denn reifer und erfahrener geworden sein? Dagegen spricht auch, dass er auf die ganzen Betrügereien reinfällt. Der glaubt gar nicht, dass es böse Menschen gibt.»

So prägt auch das Konzept einer Rolle den Umgang mit der Stimme, die Farben, die er findet. Wie ist das bei der Partie, die ihm vor 20 Jahren den internationalen Durchbruch bescherte, dem Lohengrin? Gibt es verschiedene Lohengrins in ihm? «Ganz viele! Und die werden oft vermischt», sagt er. «Ich habe da inzwischen eine Schatzkiste von Ausdrucksmöglichkeiten. Da kommen auch immer noch neue dazu.» Und wenn mit Tristan die Heldenwelt komplett ist, wird ihm nicht die Aussicht auf noch zu erobernde Gipfel fehlen? «Das ist nicht, was mich antreibt, sondern da eine Tiefe zu entdecken. Jeder Abend, den man mit den Wagnerpartien durchlebt, ist ja schon selbst das Erklimmen eines Gipfels.» Es gibt aber noch etwas, das Klaus Florian Vogt antreibt. «Adrenalin ist die vielleicht einzige Droge, die ich brauche. Das brauchen Sportler ja auch, um eine Höchstleistung zu bringen.» Und das gebe es nicht nur mit Publikum, sondern auch in den Proben. «Man muss in Proben ja erforschen, wo kann ich hingehen, emotional. Da passiert es schon, dass es mit einem durchgeht…» Ein bisschen zusätzliches Adrenalin hat er sich für den nächsten Tag auch schon gesichert. Nach der Vormittagsprobe, auf der besteht Regisseur Andreas Homoki, wird er nach Paris fliegen und abends den Lohengrin singen. Wer dirigiert denn? «Weiss ich nicht!» Er lacht. «Wird schon jemand da sein!».

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 106 der Oper Zürich, Oktober 2023, außerdem online auf der Website des Hauses. Der Screenshot aus dem Trailer zur Götterdämmerung – Premiere war am 5. November 2023 – zeigt Klaus Florian Vogt neben Lauren Fagan (Gutrune).