Kategorie-Archiv: Begegnungen

“I love suffering on stage!”

Sondra Radvanovsky über ihre Annäherung an “Turandot”, ihre Jugend in Indiana, ihren Kanal “Screaming Divas” und ihr Alter Ego Sandy

Was ein paar gesungene Töne anrichten können, das ist vielleicht nirgends so frappie­rend wie an einem der nüchternsten Orte des Theaters, der Probebühne. Kein Or­chester, keine Illusion. Ein bisschen Requisitenersatz aus Pappe und Holz, ein Flügel, Tische für das Produktionsteam, eineinhalb Dutzend Leute in Alltagsklamotten, Werkstatt, eine Atmosphäre, als warte man entspannt auf den Bus. Was dazu nicht passt, ist, dass eine junge Frau ihren Kopf durch einen Holzrahmen streckt, den zwei andere gelassen hochhalten. Akkorde vom Klavier. Der Regisseur geht auf die Spiel­fläche. Abbruch, ein paar Worte. Wieder Klavier. Eine Frau in Jeans, blondgelockt, lässt die im Holzrahmen frei. «Si lasciata! Parla! Rede!» «Piuttosto moro! Lieber sterbe ich!»

Gerade mal elf Silben, elf Töne haben die beiden gesungen, nicht laut, nicht dramatisch, parlando zwischen a und d, und doch ist da plötzlich ein ganz anderer Horizont, eine andere Körperspannung. In beider Stimmen hat man Charaktere ge­hört, die ganze Oper steckt schon darin, Puccinis Turandot, die auf diese Szene zuläuft. Von wegen Buspassagiere. Es ist Liù, die einen Namen nicht preisgeben will, und Prinzessin Turandot, die sie foltern lässt. Es sind zwei bestens befreundete So­pranistinnen, die einander hier gegenüberstehen. Aber in diesem Moment, in diesen Takten und Tönen sind Rosa Feola und Sondra Radvanovsky in einer anderen Welt, bis in die Fingerspitzen hinein.

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«Mich interessiert, wie sie sich bewegt, atmet, geht», hat Sondra vorher im Foyer über Turandot gesagt, die sie zum ersten Mal auf der Bühne verkörpert, «all das ge­hört zur Sprache des Charakters. Wir erforschen ihn noch. Wir müssen viel Background erschaffen, denn wir kennen ihn nicht. Normalerweise wird sie als wütende Frau gezeigt, als hochdramatische Rolle. Aber Puccini hat viel Weiches, Delikates für sie geschrieben. Ich finde sie sehr widersprüchlich.» Wie bewegt sie sich denn, diese Prinzessin, die so viele Männer töten liess? «Ganz anders als Medea. An der MET war ich als Medea eine Schlange, mit einer gleitenden Agilität in ihren Bewegungen. Turandot ist rigider, da gibt es keine kontinuierliche Bewegung. Hin und her, schnell, langsam, dann wieder eine schnelle Bewegung, wie ein Löwe im Sprung auf die Beute.»

Steckt etwas von ihr selbst in den Gestalten, die sie verkörpert? «100 Prozent! Das macht es persönlicher, realer, glaubwürdiger. Ich hätte auch Schwierigkeiten, eine Frau zu spielen, die nicht für das einsteht, was sie glaubt. Ich sehe mich selbst als starke Frau.» Es gibt allerdings eine Menge geopferter und hilfloser Frauen im Opernrepertoire, gerade im Sopranfach, wie kommt sie damit klar? «Ich spiele sie stärker, als sie sein sollten, diese welkenden Blumen. Die Stärke in ihnen zu finden, das macht auch die Opern interessanter. Aber besonders Puccini war der König im Erschaffen starker Frauen, er war seiner Zeit voraus. Das sind auch zerrissene Persön­lichkeiten, gezwungen, zwischen dem einen und dem anderen zu wählen. Schwarz oder Weiss, es gibt kein Grau bei Puccini, bei Verdi dafür eine Menge. Tosca, die Scarpia tötet!»

Da indessen auch viele starke Frauen auf der Bühne sterben müssen, freut sich Sondra auf ein Projekt mit ihrer Freundin Marina Abramović («Wir sind wie Schwes­tern»). Die Performancekünstlerin hält sie für die Idealbesetzung in 7 Deaths of Maria Callas, ein Projekt, das der Diva aller Diven in Todesszenen aus Opern von Norma bis Tosca folgt. «Marina meint, von allen in meiner Generation sei meine Stimme der Callas am nächsten. Meine Stimme ist nicht an sich schön, sie hat eine Kante, nicht jeder mag das, aber sie ist anders und unverwechselbar. Meine Generation ist vielleicht die letzte, die noch Zeit hatte, ihre Stimme sich organisch entwickeln zu lassen, sich zu finden.»

Damit hat Sondra allerdings sehr früh angefangen – als 11­-Jährige. Tosca war ihr Erweckungserlebnis 1980, im Städtchen Richmond, inmitten der endlosen Rinderwei­den von Indiana. Sie sah und hörte im TV eine Übertragung aus Verona, Plácido Domingo beeindruckte sie masslos, «das Singen, aber auch die Story, und ich war begeistert, dass man auf der Bühne jemand anderes werden kann. Oh, ich könnte das als Job machen! I want to do that!» Ganz von ungefähr kam der frühe Entschluss zur Opernlaufbahn aber nicht. «Ich sang auch im Chor der Methodistenkirche und habe das geliebt. Meine Mutter kaufte früh einen Plattenspieler. Seit ich fünf Jahre alt war, habe ich nonstop gehört. Sie wusste, dass ich eine Gabe hatte, und sie hat das unterstützt.»

Die Elfjährige bekam also Gesangsunterricht, mit dreizehn stand Sondra erstmals auf der Bühne, als Zigarettenarbeiterin in Carmen. «Es war ein Provinztheater mit einem shoestring budget, einem Mini-­Etat, aber in dem Moment, als ich auf die Bühne ging, wusste ich, dass ich das tun musste, nicht wollte. Wie ein Läufer, der laufen muss, musste ich singen. Meine Mutter sah das, und so brachte sie mich nach Chicago oder Cincinnati oder Indianapolis, damit ich grösseres Theater erleben konnte. Sie hat so viele Opfer gebracht, um mir meine Karriere zu ermögli­chen…» Gab es einen Plan B? «Nein, ich sprang mit beiden Füssen rein. And failing was no option.» Einmal, gesteht sie, hat sie als Hypothekenmaklerin ihr Geld verdient, «weil ich mitten am Tag das Büro verlassen und zum Gesangsunterricht gehen konnte».

Mit dem Erfolg, dass sie ins Young Artists Program der Metropolitan Opera kam. Sie hatte die Stimme für das riesige Haus, 1996 stand sie erstmals dort auf der Bühne als Gräfin Ceprano in Rigoletto. «Es war sehr schwer. Ich versuchte auf der Bühne ich zu sein, es war anstrengend, die Balance zu finden. Und so erschuf ich ein Alter Ego oder es kam eines Tages zu mir, Sandy Singer. Sie ist furchtlos und stark, auch verletzlich, wenn es sein muss. Sie hat keine Schwächen und ist unbesiegbar. Wirklich eindrucksvoll!» Sie lacht. Ist Sandy Singer immer noch mit ihr unterwegs? «Ja. Auf eine Art ist sie mein Schutz und Schild, das, was ich der Welt von mir zeige, denn mein persönliches Leben ist mein persönliches. Die wahre Sondra ist empfind­licher.»

Diese wahre Sondra bleibt aber keineswegs zuhause, wenn Sandy Singer auf die Bühne geht. Ihr ist sogar einer der grössten Erfolge der Sopranistin zu verdanken, die erwähnte Medea in Luigi Cherubinis gleichnamiger Oper in der New Yorker Met im vorigen Jahr. «Eine Scheidung durchzumachen und Medea zu sein», sagt Sondra, «das war extrem kathartisch. Alle Aggressionen, die ich hatte, die Wut, alle Verletzungen, Schmerzen, all das Üble benutzte ich auf der Bühne für diese Gestalt. Und es war die beste Therapie, die ich mir denken kann, denn auf der Bühne liebte ich all das. I love suffering on stage!»

Sie lacht wieder und fährt nachdenklich fort: «In der Gesellschaft heute sind wir von vielen dieser Emotionen abgeschnitten. In den sozialen Medien wird alles zu­rechtgemacht, um hübsch und glänzend zu wirken. Wenn da jemand sagt, ich habe wirklich einen miesen Tag, guckt sich das keiner an, die Algorithmen klammern das aus. Die Leute gehen verloren im Algorithmus. Was Social Media zeigen, ist nicht die wirkliche Gegenwart. Oper ist jetzt. Bühne, Musik, das ist Gegenwart!» Als aber diese Gegenwart verbannt war, im Lockdown, da riefen Sondra Radvanovsky und ihre Sopranfreundin Keri Alema eine Youtube­-Serie ins Leben, die bis heute 97 Folgen hat. Die Screaming Divas tranken jeden Freitag Gin Tonic vor der Kamera und trafen Kollegen aus aller Welt zum Zoom, und selbst Anthony Tommasini, langjähriger Chefkritiker der New York Times, wagte sich in die virtuelle, von Gelächter erfüllte Höhle der Diven.

Unter den allerersten Gästen war auch Rosa Feola, die nun mit Sondra auf der Probebühne steht. Wer weiss, wie oft sie an diesem Vormittag schon zur Folter geführt wurde…. Ihr «Lieber sterbe ich» verliert nicht an Entschlossenheit. «Was hat dir soviel Kraft ins Herz gebracht?», fragt Turandot. «Principessa, l’amore!» «L’amore…», sagt und singt Sondra Radvanovsky versonnen, verwundert, und lässt eine Haarsträhne der Gefangenen durch ihre Finger gleiten, fast zärtlich.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er entstand für das MAG 103 der Oper Zürich, Juni 2013, und für die Website des Hauses. Turandot hat Premiere am 18. Juni. Die musikalische Leitung hat Marc Albrecht, Sebastian Baumgarten inszeniert. Neben Sondra Radvanovsky (Foto: Andrew Eccles / myscena.org) singen u.a. Rosa Feola (Liu) und Piotr Beczała (Calaf).

“I’m a solo female black traveller”

Jeanine de Bique, Sopranistin aus Trinidad und Tobago, ist seit ihrem Erfolg in Salzburg unterwegs zur großen Opernkarriere. An diesem Tag in der Zürcher Straßenbahn, wo ich sie per Zoom treffe.

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„Können Sie mich verstehen?“ Jeanine de Bique sitzt in der Tram, auf dem Weg zur Probebühne. Es wird diesmal ein road movie, per Zoom und per Whatsapp, improvisiert und in geweiteter Perspektive, vom spätmittelalterlichen England des Edward II. bis in die Karibik, zur Insel Trinidad, auf der Jeanine groß wurde und sich wohl allerlei träumen ließ, aber nicht, dass sie mal in einer Zürcher Tram in ein Smartphone blicken und über Isabel reden würde, die Gattin des schwulen Königs Edward, in deren Rolle sie sich für Lessons in Love and Violence gerade hineinarbeitet. „Ich weiß nicht, wie es ist, eine Königin zu sein,“ meint sie, während Hausfassaden hinter der Scheibe vorbeiziehen, „ich weiß auch nicht, wie es ist, reich zu sein. Aber ich weiß, wie es ist, an etwas festzuhalten, woran ich sehr hart gearbeitet habe. Isabel hat viel zu verlieren, das ist für mich ein guter Ausgangspunkt, um in die Rolle einzutauchen.“

Und damit ist Jeanine eigentlich schon bei sich selbst, denn sie hat sehr viel erkämpft und gewonnen, seit sie und andere ihre Stimme entdeckten, auf jener Insel im karibischen Meer vor Venezuela, die nicht gerade zu den gängigen Startorten für Opernkarrieren zählt. Längst wird die Sopranistin hoch gehandelt, sie sang bei den Londoner Proms und in der New Yorker Carnegie Hall, wurde bei den Salzburger Festspielen als Annio in Mozarts Titus gefeiert und als Händels Alcina in der Pariser Oper, an die sie kürzlich als Susanna in Mozarts Le nozze di Figaro zurückkehrte. Das werden die Fahrgäste in der Tram kaum vermuten – sie sehen eine lässig gekleidete junge Frau, die so unbekümmert plaudert, als säße sie mit mir in der Opernkantine, und mit gewissen Vorurteilen gegenüber der Karibik aufräumt, ehe sie überhaupt zum Vorschein kommen können. Zum Beispiel sei es nicht so, dass man dort nur dem Calypso fröne, dem synkopischen, tanzbaren Gesang, den sie natürlich auch beherrscht.

Sie ist, wie nicht wenige im Zweiinselstaat Trinidad und Tobago, als Christin mit dem anglikanischen Gesangbuch aufgewachsen, das die Briten, Kolonialherrscher bis 1958, mitbrachten, und in dem wiederum finden sich etliche Choräle von J.S.Bach. „Anfang dieses Monats sang ich meine erste Matthäuspassion, in Rotterdam, und fand da so viele Melodien, die ich schon als Baby kannte“, sagt sie lachend, „nur mit anderem Text. In meinem Land gibt es so viel Musik, alles dreht sich darum, auch Chorvereine sind eine große Sache.“ Dazu kam, dass ihre alleinerziehende Mutter, eine Botanikerin, Gitarre und Klavier spielte. „Wenn man so von Musik umgeben ist, müssten eigentlich alle Musiker werden, aber die eine meiner Schwestern wurde Ärztin, die andere Physiotherapeutin“. Inzwischen ist sie der Tram entstiegen, macht sich singend mit ein paar improvisierten Calypsotakten Luft, lacht und gesteht, dass sie als Jugendliche keineswegs Opernarien hörte (ohnehin hielt sich der karibische Sender, der auch Klassik spielte, nicht lange), sondern am liebsten die Kassette mit Barbara Streisands Broadway Album von 1985, „ich wusste gar nicht, was Broadway ist, kannte aber alle Lieder und Texte.“ Und sie lernte Klavierspielen, das war auch eine ihrer Berufsoptionen neben Psychologin und Rechtsanwältin.

„Ich wusste nicht, was ich wollte – nur, dass ich die Pflicht hatte, sehr gut zu sein, wenigstens so gut wie möglich.“ Derweil fiel beim Chorsingen ihre Stimme auf, sie sang auch solistisch, „vieles fiel mir leicht. Als ich sechzehn war, fragte mich die Gesangslehrerin an der Secondary School, ob ich nicht Privatstunden nehmen wollte, um an einem regionalen Wettbewerb teilzunehmen.“ Sie hatte Erfolg. Was Oper ist, wusste sie da immer noch nicht richtig, aber Gesang sollte es sein, und für ein professionelles Studium musste sie die Insel verlassen – gen Norden, zur Manhattan School of Music. Für den Flug, für die Unterkunft musste erstmal Geld gesammelt werden, und sie brauchte ein Visum, es war eine völlig neue Welt, in die sie da geriet.

„Und es war anfangs keineswegs glanzvoll. Ich war mit 20 Jahren zwei Jahre älter als meine Kommilitonen, und ich hatte einen Akzent – natürlich bin ich mit Englisch aufgewachsen, aber wir benutzen andere Worte, und in New York klingt es wie ein Dialekt.“ Hilda Harris wurde ihre Gesangslehrerin, eine afrikanisch-amerikanische Mezzosopranistin, und es war der Klavierbegleiter und Korrepetitor Warren Jones, der ihr zu ihrem ersten schulinternen Bühnenauftritt verhalf – eine Nebenrolle in Bernsteins Einakter Trouble in Tahiti – und ihre Liebe zu den Liedern Hugo Wolfs entflammte. Und René Fleming war es, der sie ihr allererstes Live-Opernerlebnis verdankte, mit 21 Jahren: Fleming gab 2007 ihr Rollendebüt als Violetta in La Traviata an der MET.

Nun hat Jeanine die Probebühne in Zürich erreicht, meine Zoomverbindung bricht zusammen, macht nichts, wir wechseln zu WhatsApp, jetzt wird ihr Akku knapp, macht auch nichts. „This is hooorrible“, singt sie fröhlich, dann höre ich sie zu einem Kollegen sagen: „Hast du ein Ladegerät?“ Das passt alles ganz gut zu ihrem Leben im Transit, voller Übergänge und Ungewissheiten, aber auch voller Fäden, die nicht verloren werden, sondern neu verknüpft. René Fleming zum Beispiel hat später ihre junge Kollegin beraten, als die sich auf ihre Pariser Alcina vorbereitete. Aber an solche Engagements dachte Jeanine de Bicque noch gar nicht, als sie 2008 einen ersten Preis bei den  Young Concert Artists International Auditions errang und sich auf eine Karriere als Konzertsängerin einstellte. Bis das Theater Basel, auf Talentsuche in New York, sie nach einem Vorsingen einlud, für ein Jahr an der Nachwuchsförderung in Basel teilzunehmen. Mit Auftritten natürlich – zum Beispiel in Christoph Marthalers morbider Inszenierung der Großherzogin von Gerolstein im Jahr 2010.

Es folgte ein Jahr Wien, und es folgte immer mehr. Kopenhagen, Montpellier… So schön das ist, kann es einen nicht auch aus der Kurve tragen? Überwältigen? Sie denkt nach. „Seit Basel hatte ich einen Agenten, mit dem ich planen konnte, der mein Guide wurde… War es überwältigend? Es war auch aufregend, und es konnte auch extrem einsam sein. Aber wirklich einsam ist man nie, es gibt so viel zu entdecken. In New York habe ich gelernt, mit allem Unvertrauten klarzukommen. Ich weiß aber noch, wie ich mich in Basel gefreut habe, ein Starbucks zu finden, das war vertraut. Und dann konnte ich mir die hot chocolate dort nicht leisten! Das war zum Weinen. Aber seitdem ist mein Leben epically different geworden“, sie lacht wieder. „Als ich in Wien war, im young artist program, hatte ich ein vision board, so eine Liste mit Zielen. Darauf stand: ,Ich werde in der Oper Zürich auftreten‘. Da bin ich nun. Das ist ein Wunder. Aber ob ich angekommen bin? I´m a solo female black traveller…“

Die Probe geht los, in der Pause meldet sie sich wieder. Ich möchte wissen, ob es sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich anfühlt, ein solo female black traveller zu sein. „Ich würde sagen, man muss überall die ganze Zeit aware and alert sein, bewusst und wachsam. Es gibt noch viel Arbeit zu tun in der Gesellschaft, auch wenn Fortschritte da sind. Leontine Price ist eine, die ich bewundere. Sie und andere African American stars wurden groß in einer Epoche, die sehr schwierig war. Sie haben für uns den Weg gebahnt als schwarze Sänger. Und ich wiederum erreiche über die social networks Leute, die nicht die Möglichkeit haben, in die Oper zu gehen, die gar keine Ahnung von Oper haben, aber die berührt sind von dem, was ich mache.“ Ihr folgen auf Instagram fast 30.000 Fans. „Sie können sich identifizieren mit einer, die aussieht wie ich. Das ist mir wichtiger als das größte Opernhaus.“

Von welcher Rolle träumt sie? Aus dem Pausentrubel hat sich Jeanine in ein schattiges Zimmer zurückgezogen, auf dem Bildschirm kann ich ihr Gesicht fast nur noch in Umrissen sehen, als sie mit gedämpfter Stimme sagt: „Desdemona.“ Die traditionellerweise weiße Frau, die der traditionellerweise schwarze Otello aus Eifersucht erwürgt. Bei Jeanine de Bique könnte es sein, dass das mal ganz anders endet. „Ich will positive Änderungen bewirken mit allem, was ich tue.“

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien im MAG 102 der Oper Zürich, Mai 2023. Für diese Website wurde eine Überschrift ergänzt und aus dem schweizerischen Neutrum für “Tram” das in Deutschland gebräuchliche Femininum. George Benjamins Oper Lessons in Love and Violence ist noch bis zum 11. Juni in der Oper Zürich zu sehen. Dem Trailer zu dieser Produktion ist der Screenshot mit JdB als Königin Isabel entnommen.

“Ich kann ohne Berge gar nicht singen”

Siena Licht Miller, vor 28 Jahren an der Pazifikküste von Oregon geboren, wird im Ensemble der Oper Zürich für jeden Stil besetzt. Jüngste Rolle: Händels Perserkönig Xerxes.

Sie kniet da und beschmiert sich mit Farbe. Mit schwarzer. Das weisse Gewand, den  Körper, die blonden Haare, komplett. Oder anders gesagt, er tut das, Serse, Xerxes,  Händels verzweifelter, schier wahnsinniger Perserkönig in seiner letzten Arie «Crude furie degli orridi abissi», 1738 für einen Kastraten geschrieben. Jetzt ohne Ton, im Smartphone. Es ist nicht gerade die Sorte Video, die man sich sonst neben dem Capuccinobecher bei Starbucks anschaut. «Das haben wir gestern gedreht», sagt Siena Licht Miller, nun ohne Farbe im Haar und nicht im Geringsten verzweifelt. «Es muss hinterher eine Menge Duschwasser gekostet haben», meine ich. «Yes, it did…» Sie lacht. Die 28-jährige Mezzosopranistin ist an Extreme gewöhnt und an Sprünge zwischen den Bühnenwelten. Noch vor einer halben Stunde stand sie im Probensaal am Kreuzplatz neben Sabine Devieilhe und sang mit ihr das weltberühmte Blumenduett aus Lakmé.

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Siena, neuerdings fest im Ensemble der Oper Zürich, wird hier praktisch für jeden Stil besetzt, von Monteverdi bis Verdi, von Rossini bis Wagner, von Offenbach bis Strauss. Eine hochgewachsene, heitere Frau, die nach zwei Minuten das «Sie» über Bord wirft und darum bittet, «Denglisch» sprechen zu dürfen. Deutsch ist zwar, im wahrsten Sinn, ihre Muttersprache, aber im Amerikanischen fühlt sie sich eher zu Hause. Sie kam in Portland zu Welt, im US-Bundesstaat Oregon an der Pazifikküste, wohin ihre deutsche Mutter mit 25 Jahren zog. «Die Eltern meiner Mutter haben ein Haus in der Toscana, in der Nähe von Siena, und mein Vater ist zur Hälfte Italiener, also waren wir früher jeden Sommer dort. Mein Name repräsentiert alles, was ich bin.» Sie lacht. Und der Vorname «Licht» passt schon auf den ersten Blick.

Er könnte auch für das stehen, was ihr Zürich bedeutet – ein Anruf von hier erwies sich vor drei Jahren als Rettung ihrer Sängerlaufbahn. Da befand sich Siena in Portland und sah zu, wie alles dichtmachte, eine amerikanische Opernbühne nach der anderen. Bühnen, von denen es ohnehin nicht sehr viele gibt und die, weitgehend auf private Förderer angewiesen, keine ihrer Musikerinnen und Sänger vor dem Abgrund schützen konnten, der sich durch «the pandemic» auftat. Für viele wurde Covid der Sargnagel einer ohnehin prekären Existenz. Aber diese junge Sängerin hatte etwas in der Tasche, was für ihre künstlerische Zukunft ähnlich wichtig war wie ein Visum für Emigranten – einen Vertrag mit dem Opernstudio in Zürich.

«Im Januar 2020 kurz vor Covid», sagt sie, «kam ein Anruf aus Zürich, sie suchten jemanden für das Opernstudio. Ich hatte Jahre zuvor an einem Vorsingen im Curtis Institute in Philadelphia teilgenommen für einen Platz in Zürich, jetzt sollte ich hinfliegen und noch einmal vorsingen. Aber ich kam nicht weg und schickte stattdessen ein Video.» Sie wählte eine Arie des Nicklausse aus Hoffmanns Erzäh­lungen. «Ich bekam den Job und musste alles absagen, was ich in Amerika hatte. Aber etwas in mir sagte, du musst gehen. And then the world shut down. And thank God I came to Zürich. Ich weiss nicht, ob ich sonst noch singen würde.» Es entbehre nicht der Ironie, sagt sie, dass gerade Offenbachs «Geigenarie» ihr den Weg nach Europa öffnete. Eine Arie, in der Nicklausse den Klang der Violine, die dazu spielt, mit dem Liebesschmerz vergleicht, über den dieser Klang auch hinwegtrösten kann.

Denn Geigerin ist Siena selbst einmal gewesen. Sie hat das gleich zu Beginn des Gesprächs erzählt, als wolle und müsse sie es hinter sich bringen. Die Tochter eines Osteopathen und einer Psychotherapeutin wollte schon mit fünf Jahren unbedingt Geige spielen, und es erwies sich, dass sie neben viel Talent auch ein aussergewöhnliches Gedächtnis hatte. «Ich konnte kaum Noten lesen, aber nach einmaligem Hören einen 20 Minuten langen Konzertsatz von Mozart nachspielen.» Was sie ausserdem liebte,war Skifahren in den Bergen Oregons. Mit 15 Jahren hatte sie einen Skiunfall, bei dem sie den grösseren Teil ihres Gedächtnisses verlor, dazu die Reflexe für die Feinmotorik. «Nur mein musikalisches Gedächtnis war komplett intakt. Ich konnte mir nicht merken, was man mir gerade gesagt hatte, aber ich konnte mir ein 40 Minuten langes Stück Musik aufrufen.»

Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist beschrieben, wie so etwas zustande kommt. Musikalische Strukturen werden jenseits des episodischen Gedächtnisses verarbeitet, eine grosse Rolle spielt dabei das geschützt liegende Kleinhirn, entwicklungsgeschichtlich uralt. Sacks erzählt, wie die gespeicherte Musik zum Seil werden kann, an dem Patienten aus dem Abgrund von Vergessen hochklettern können. Bei Siena ist das besonders gut gegangen. «Ich sang, zuerst mehr als Teil der Therapie, das war heilsam. Ich fühlte mich dadurch mit allem mehr verbunden und auch intelligent. Meine Intelligenz stellte ich nämlich sehr in Frage.»

Auch wenn sich nach und nach der Rest des Gedächtnisses wieder einfand, «Geige konnte ich nicht mehr so spielen, wie ich das wollte. Und ich erinnere mich, dass, als ich singen zu lernen begann, die Reaktion der Leute voller Freude war. A powerful feeling. Und dann blieb ich kühn genug, um immer mehr zu erkunden.» Mit 18 Jahren begann Siena Gesang zu studieren, am Oberlin Conservatory im Bundesstaat Ohio, Psychologie und deutsche Literatur kamen dazu. Mit 21 wechselte sie ans elitäre Curtis Institute of Music in Philadelphia an der Ostküste, wo nur 2 Prozent aller Bewerber Studienplätze bekommen. Um ihr Stimmfach machte sie sich nicht viele Gedanken. «Ja, ich bin Mezzo, aber ich sehe mich lieber als Siena, die guckt, was zu ihrer Stimme passt. Ich identifiziere mich mit dem speziellen Mezzo-Temperament. Wir haben diesen üppigen Unterton wie die Viola, mein Lieblingsinstrument. Und wir müssen alles sein können, ein troublemaker, ein Junge. Die Charaktere, die ich spiele, geben mir die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die ich sonst für mich behielte. Weil ich von der Geige kam, war da anfangs auch eine differierende Identität, ich sah mich nicht immer als Sängerin. Das hat Peter Sellars sehr gut verstanden, bei ihm fühlte ich zum ersten Mal, es ist Platz für mich in der Welt der Oper.»

Mit Regisseur Sellars gestaltete sie 2019 in Santa Fe als Einspringerin die Kitty Oppenheimer in John Adams’ Doctor Atomic. «Es ging bei den Proben auch um das Aufeinanderzugehen, die Energie in der Gruppe. Musiker sind so empfindlich, über so etwas sprechen wir nicht genug. Es gibt eine Intimität im Probenraum, und die besten Regisseurinnen und Dirigenten nehmen das sehr ernst.» Zu denen gehört für Siena auch Nina Russi, die Regisseurin von Serse. «Alles muss menschlich sein bei ihr, ehrlich und echt. Es ist wirklich kathartisch, wenn wir arbeiten, weil es so ehrlich ist, und das ist anstrengend! Aber wenn du aufrichtig bist, verstehen die Zuschauer alles, ohne irgendetwas über das Stück wissen zu müssen. Manchmal wünschte ich, ich wüsste selbst gar nichts über diese Kunstform, sässe nur im Publikum und beobachtete meine Reaktion im Innersten, ohne all das wie singen sie?»

Eine der wichtigsten Quellen für ihre Arbeit ist die Natur, «für mich besonders die Berge. Ich kann ohne Berge gar nicht singen», sagt sie. «Es ist schwer zu erklären, aber die Berge und die Musik haben eine Menge gemeinsam. Wir gehen da hinein auf der Suche, um uns selbst besser zu verstehen, und werden konfrontiert mit den grössten Freuden und den tiefsten Sorgen. Die Berge haben mich in meinem Schlimmsten und in meinem Besten gesehen, und dasselbe ist es mit der Musik. Wenn ich in den Bergen war und in der Stille gelebt und diese Luft geatmet habe, ist da eine Ruhe in mir, in der ich wieder bereit bin für Musik. Manchmal verfolgen mich auch Reste einer Bühnengestalt zu sehr, mit der ich mich verbunden habe. Die werde ich in den Bergen wieder los.»

Wird irgendwann auch der Perserkönig dazugehören? «To connect with Serse, das war nicht immer leicht. Aber er beginnt die Oper, indem er einen Baum besingt: Ombra mai fu. Ich glaube, die Natur findet mich immer!»

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt und erschienen in MAG 101 der Oper Zürich, April 2023. Serse ist eine Produktion des Internationalen Opernstudios des Hauses und wurde im Mai 2023 im Theater Winterthur gespielt. Der screenshot aus dem Trailer zeigt SLM während der Arie “Ombra mai fu”.