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Insel der Leichtlebigkeit

Während sich Venedig von einer Seemacht in eine Luxusinsel verwandelt, wird hier Vivaldis „La verità in cimento“ uraufgeführt. Eine Reise ins Jahr 1720

Eine Brücke zum Festland gibt es noch nicht. Reisende von dort erreichen die Stadt im burcello, einem Schleppkahn für Passagiere, mit wimpelgeschmücktem Häuschen darauf, den ein Boot mit vier bis sechs Ruderern zieht, und wer zum ersten Mal kommt wie der Engländer Edward Wright im Dezember 1720, staunt, „eine so große Stadt, wie man Venedig wohl nennen kann, auf der Meeresoberfläche schwimmen zu sehen, Kamine und Türme zu erkennen, wo man nichts als Schiffsmasten erwarten würde.“ Masten freilich gibt es hier auch zu tausenden, aber eine Seemacht ist die Republik Venedig nicht mehr. Die Hochborder mit ihren gut hundert Kanonen, die im Arsenale gebaut werden, haben siebzehn Monate zuvor ihre letzte Schlacht geschlagen.

Im Juli 1718 haben die Türken in der Ägäis noch das venezianische Flaggschiff Trionfo in Brand geschossen, unnötigerweise. Der Friedensvertrag zwischen Österreich, Sultan Ahmed III. und der Republik Venedig ist da schon unterzeichnet, letztere bestätigt ihren Bedeutungsverlust nach Jahrhunderten mittelmeerischer Machtpolitik. Korfu, immerhin, bleibt den Venezianern, das hat der mit einer Stargage bezahlte Graf von der Schulenburg, ein taktisches Genie, 1716 noch gegen die Türken halten können, von Vivaldi mit einem Oratorium gewürdigt. Jetzt genießt der Niedersachse in einem gotischen Palast am Canal Grande einen rauschenden Lebensabend voller Gelage, Kunst und Musik, hochgeehrt, eines von vielen Originalen auf diesem steinernen Floß Venedig, das nun unkriegerisch am Rand der Weltgeschichte dümpelt.

Und zugleich am Ufer einer neuen Zeit. Es ist eine seltsame Stadt, in der am 26. Oktober 1720 Antonio Vivaldis Oper La verità in cimento ihre erste Aufführung erlebt. Die Türken und Österreicher, die sich anderswo weiterhin bekriegen, gehen hier spazieren, zwischen ihnen mehr und minder wohlhabende Touristen, junge Aristokraten aus ganz Europa auf ihrer Grand Tour, die seit dem späten 17. Jahrhundert als unerläßlich für die Ausbildung gilt – und für die Ausschweifung, besonders in dieser Stadt, deren fast sechs Monate dauernder Karneval auch ein Fest der Libertinage ist. Und der Opern, die hier an sieben Häusern gespielt werden. Mit einer unfassbaren Dichte von Instutitionen und Persönlichkeiten war Venedig die musikalischen Hauptstadt des 17. Jahrhunderts geworden, nun wird es zur Luxusinsel des 18. Jahrhunderts. 1720 leuchten hier abends erste Straßenlampen wie sonst nur in Paris und Wien.

Innenpolitisch sieht es finster aus. Eisern hält man fest an den mittelalterlichen Strukturen, an der Hierarchie der Nobili, die über Rat, Senat und den faktisch machtlosen Dogen bestimmen, ihrerseits wie alle scharf beäugt von den drei Staatsinquisitoren und ihrer allgegenwärtigen Geheimpolizei. Edward Wright, Gast von Lord Parker, betrachtet erstaunt die „klaffenden Mäuler“ in marmornen Masken, in die jeder Denunziant sein Briefchen werfen kann, er vermisst Stühle in den Cafés und erfährt, dass dadurch lange, also politische Gespräche unterbunden werden sollen. Auch hüten sich die Nobili geradezu panisch vor jedem Kontakt mit politischen Repräsentanten aus dem Ausland. Denn auch ein Nobile, der ins Visier der Staatspolizei gerät, kann schnell mal ohne Prozess in der Bleikammer oder gleich im Canal Orphano versenkt werden. Da hat sich nichts geändert, seit Antonio Vivaldi und der Dresdner Geiger Pisendel sich vier Jahre zuvor von Beschattern verfolgt sahen.

Kurtisanen nehmen an der Regatta teil

Der Adel trägt, mit schwerer Perücke, grundsätzlich langes Schwarz. Trifft ihn ein Bekannter niederen Standes, und sei es ein reicher Kaufman, tritt der zur Seite, verbeugt sich und murmelt „Eccellenza“. Auch die Nobildonne gehen in Schwarz, sofern sie überhaupt gehen und nicht in einer portatina getragen werden. Wie allen Venezianerinnen ist ihnen das Tragen von Schmuck, bis auf eine Goldkette, nicht erlaubt, anders als den Jüdinnen – und den cortigiane. Die Prostituierten sind ein massiver Wirtschaftsfaktor in Venedig, schon im 16. Jahrhundert wird ihre Zahl hier auf mehr als 11.000 geschätzt, ihnen wird sogar bei der jährlichen Festregatta ein corso delle cortigiane zugestanden. Sie sind überall, auch wenn das nicht jeder keusche Engländer merkt. Wright staunt über Vestalinnen ohne Schleier, die vorm Konvent mit Bekannten plaudern, perfekt frisiert, Hals und Brust mit dünnem Stoff „next to nothing“ verhüllt.

Tatsächlich gelten Venedigs Klöster als „äußerst libertin“, wie Sabine Hermann in einer Arbeit über „Käufliche Liebe im Venedig des 18. Jahrhunderts“ belegt. 1739 haben sogar drei Konvente darum gestritten, welches dem neuen Nuntius eine Geliebte liefern dürfe. Wo aber die Liebesdienerinnen Freiheiten genießen wie nirgends sonst, definiert man auch die Ehe etwas offener. Lord Chesterfield, der seine Grand Tour 1714 absolviert, empfiehlt später, in Venedig statt leichter Mädchen Damen der Gesellschaft zu frequentieren, die als besonders aufgeschlossen gelten. Der Cicisbeo, kavalieresker junger Hausfreund vornehmer Damen mit nicht weiter beredetem Aktionsradius, der sich noch in Mozarts Cherubino spiegelt, wird sogar Teil von Eheverträgen. Für männliche Bewohner und Besucher der Stadt gehört es sich sowieso, Affären zu haben.

So exotisch ist das Libretto also gar nicht, das Anfang Oktober 1720 mit dem „faccio fede“ der staatlichen Zensoren freigegeben wird und den Verwicklungen folgt, die sich ergeben, wenn ein Mann Kinder sowohl mit der Ehefrau als auch mit der Geliebten hat. Das und die Frage nach dem Machterhalt sind so eminent venezianische Themen, dass die Librettisten Giovanni Palazzi und Domenico Lalli sie gar nicht weit genug auslagern können: Nach Cambaja, ins Reich indischer Moguln, moslemischer Herrscher. Auf die Weise kann man auch ohne Verwerfungen die Polygamie jener Osmanen ins Spiel bringen, an die Venedig vor kurzem die griechische Halbinsel verloren hat – eine offenkundige „Türkenoper“ würde sich zur Stunde nicht empfehlen. Und schließlich lässt sich am Beispiel von Sultan Mahmud zeigen, dass ein Mann, der treuherzig alle Verhältnisse offenlegen will, nur Ärger kriegt und zur tragikomischen Figur verkleinert wird zwischen Intrigen, wie man sie in Venedig bestens kennt.

Der Konkurrenzdruck ist hier enorm. Als Wright die Stadt besucht, in der Saison von La verità in cimento, verzeichnet er sieben Opernhäuser, alle benannt nach den Kirchen, in deren Nähe sie stehen. Das älteste, San Cassiano, ist schon 1637 eröffnet worden, als das prächtigste und konservativste gilt das Teatro San Giovanni Crisostomo, seit 1678 in Betrieb. Hier könnte Edward Wright die Austattungsorgie erlebt haben, die ihn – der aus London ja einiges gewöhnt ist – schwer beeindruckt: Nero und Gemahlin werden auf gewaltigem Thron von einem Elefanten hereingezogen, der Kopf, Augen und Rüssel „as if alive“ bewegt. Während sich dann der Thron zu einem Amphitheater auseinanderfaltet, zerfällt der Elefant, und seinem Bauch entsteigen Gladiatoren in voller Rüstung.

Das Sant`Angelo direkt am Canal Grande hat es nie ganz leicht gehabt, auch nicht während Vivaldis kurzer Zeit als Impresario des Theaters. Fünf seiner bislang zwölf Opern sind hier uraufgeführt worden, die dreizehnte soll seinen Wiedereinstieg in die Szene sichern, nachdem er drei Jahre lang Kapellmeister in Mantua war. Fast alle Nummern hat er eigens für diese Oper neu komponiert. Sein Name ist in Venedig freilich auch so schon ein Begriff; selbst der nur begrenzt musikaffine Reisende Wright nennt den „famous Vivaldi (whom they call the Prete rosso)“, spricht von ihm aber nur als musizierendem Priester früherer Jahre. Tatsächlich verdankt der Musiker den Ruhm in der Stadt seiner Geburt auch seiner Tätigkeit als Geigenlehrer, künstlerischer Leiter und Komponist am „Ospedale della Pietà“, einer legendären Institution.

Nicht zuletzt ist dieses „Hospital“, eines von vier großen Fürsorgezentren in der Stadt, die karitative Antwort auf die Folgen nichtehelicher Verbindungen. Es verfügt über eine Babyklappe und nimmt ausschließlich Mädchen auf – „generally bastards“, wie Wright anmerkt. An die tausend Zöglinge sind hier, an der Riva degli Schiavoni, untergebracht, von denen die musikalisch begabten als figlie di coro zu Sängerinnen und Instrumentalistinnen von höchster Qualität ausgebildet werden, den besten Profis Europas auch als Solisten ebenbürtig. Ihre Auftritte – im Ospedale hinter eisernen Gittern, soviel Mittelalter muss sein – sind eine Einnahmequelle und Teil eines Musiklebens, das in Venedig auch außerhalb des Karnevals und der Oper omnipräsent ist: In den Kirchen, den privaten Palästen, den Gran Scuole der Zünfte, auf dem Wasser.

Aber erst im Karneval, der im Oktober beginnt, kommt alles zusammen, treffen sich erotische Entfesselung und Musiktheater. Es sei, staunt Wright, als begrüße man hier die Sonne nach der Polarnacht. Die meisten, Männer wie Frauen, Patrizier wie Pöbel und natürlich die Besucher, tragen nun tagsüber den Tabarro und die Bautta: Ein bis übers Knie reichendes schwarzes, mantelartiges Gewand, und eine den Kopf umschließende schwarze Seidenkappe unter schwarzem Dreispitz, dazu eine weiße Halbmaske mit schnabelartig vorspringender Nase. Je weiter die Saison voranschreitet, desto bunter maskiert man sich: Frauen als Nymphe und Schafhirtin, Männer als Pulcinello und Pantalone, ebenso aber Frauen als Männer und umgekehrt. Das alles erleichtert auch intime Treffen, für die nicht zuletzt die Opernlogen mit Vorhängen geeignet sind.

Aus den Logen wird ins Parkett gespuckt

„Es gibt hier keine offenen Ränge wie in London“, wundert sich Edward Wright. Der Zuschauerraum sei von unten bis oben in Logen aufgeteilt, in die jeweils an die sechs Personen passen. Das tief eingewurzelte Bedürfnis der eng beieinander lebenden Venezianer nach Diskretion und Abgeschlossenheit kommt hier der Lust entgegen und macht die Staatsinquisitoren nervös, deren Spitzel hier den Überblick verlieren; Insider Giacomo Casanova empfiehlt noch 1780, im Theater für bessere Beleuchtung zu sorgen, damit die Prostituierten nicht sogar dort ihrer Arbeit nachgehen könnten. Doch was der reisende Engländer Wright eine „skandalöse Sitte“ nennt, ist etwas anderes: Aus den oberen Logen wird während der Vorstellung ins Parkett hinab gespuckt, man wirft mit Obstschalen, und nicht selten trifft es Besucher von Rang.

Denn auch die begeben sich aus ihren Logen gern nach unten. Manche, um den Sängern näher zu sein, die meisten aber, so Wright, um herauszufinden, wer sich hinter dieser und jener Maske verbirgt. Dann gibt es da noch Kunstfreunde, die, Wachskerzen in der Hand, das gedruckte Libretto mitlesen, solange nicht eine der „Gefälligkeiten von oben“ ihnen die Flamme auslöscht. Roheit und Raffinesse, Regelstrenge und Entfesselung sind Nachbarn in Venedig. Noch weitaus unruhiger wird es während der Intermezzi comici, den komischen Einlagen, mit denen sich vor allem kleinere Opernhäuser wie das San Moisé und das Sant´Angelo Kundschaft abzujagen versuchen. Ein Komikerpaar singt, lacht und blödelt da zur Musik einer Minioper. In Vivaldis La Veritá in cimento wird L´avaro eingebaut, offenbar ein totaler Flop, der sofort nach der Premiere verschwindet und wohl auch den Erfolg der Oper selbst beschädigt.

Das trifft sich verheerend mit einer Satire, die, perfekt getimt, kurz nach der Premiere erscheint, anonym verfasst von einem Sproß der ältesten Familien der Stadt, dessen Verfasserschaft freilich nicht nur die Zensoren kannten, die Il teatro alla moda freigegeben hatten. Benedetto Marcello, 24 Jahre alt, als Nobile ein Ratsmitglied, selbst Komponist und Autor, steht der Moderne verächtlich gegenüber. Seiner Familie gehört nicht nur ein Teil des Grundstücks, auf dem das Sant`Angelo steht, sondern auch eine Loge, um deren Benutzung Benedetto einen langen Rechtsstreit mit seinem älteren Bruder Alessandro führt. Bestens vertraut mit Tradition und Alltag des Opernbetriebs, verwöhnt, konservativ und zynisch, brillant und unfair, nimmt Benedetto mit Hilfe leicht entzifferbarer Anspielungen den europaweit bekannten Vivaldi und sein Team aufs Korn.

Er empfiehlt in grotesken Übertreibungen genau das, was er ablehnt, etwa ausgedehnte Verzierungen. „Kommen in Arien Substantive vor, wie Vater, Herrschaft, Liebe, Arena, Königreich, Stärke, Herz etc. etc. […], unterlege der moderne Komponist diese mit möglichst langen Koloraturen, z.B. Vaaaa… Herrschaaaaa… Liiiiee…“ Von der Motorik über die Harmonik bis zur Dynamik beschreibt er Vivaldis Stil ex negativo, und diese Kritik ist diabolisch verschränkt mit der an Eitelkeiten, Schlampereien, Intrigen, ruinösen Gagen und penetranten Primadonnenmüttern, die den Opernbetrieb bis heute begleiten. Es fehlt nicht einmal der Seitenhieb auf Gastronomen, deren Schokolade „aus Zucker, falschem Zimt, Mandeln, Eicheln und unbehandeltem Kakao“ besteht.

Da wehen uns venezinianische Aromen entgegen, auf die Antonio Vivaldi vorerst lieber verzichtet. Zu einer weiteren Premiere im Dezember steuert er nur einen Akt bei, die Arbeit an einer dritten Oper bricht er ab und besteigt den burcello zum Festland. Seine nächsten Opern kommen in Mailand und Rom heraus, mit Venedig riskiert es Vivaldi erst fünf Jahre später erneut. Sein junger Widersacher Benedetto Marcello aber verliebt sich unstandesgemäß in eine Gesangsschülerin, die er heiratet – heimlich, um seine Ämterlaufbahn nicht zu gefährden. Venedig, eine Oper? Man kann sie hören, diese Oper. Zynismus zwischen den Epochen, Überdruck auf engem Raum, Spannung zwischen großem Gefühl und schneller Ironie – das ist La verità in cimento.

Dieser Text erschien im Mai 2015 im Magazin der Zürcher Oper (MAG 29, S. 12-17) und ist urheberrechtlich geschützt. Eine kürzere Fassung erschien im Programmheft zu „La verità in cimento“, Premiere am 25. Mai 2015.

Silbermanns Reise

Dieser Fund ist eine Sensation: Das Tagebuch des berühmten Orgelbauers Johann Andreas Silbermann, verfasst auf einer Fahrt quer durch Deutschland im Jahr 1741, entfaltet ein einzigartiges Panorama des damaligen Alltagslebens.

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Es klopft an der Tür, Überraschungsbesuch! Orgelbauer Gottfried Silbermann wirkt gereizt. Er ist ein empfindlicher Mann, einer der Größten seiner Zunft. 42 Orgeln hat er schon gebaut, darunter die für die Dresdner Frauenkirche, nun arbeitet der 58-Jährige in Zittau an einem seiner gewaltigsten Werke, 44 Register stark, mit drei Manualen, für die Johanniskirche der reichen Stadt im äußersten Südosten Sachsens. Im Waisenhaus hat er seine Werkstatt eingerichtet, in die nun, begleitet von Silbermanns Vetter aus Dresden, ein junger Mann platzt, der, ehe er vorgestellt werden kann, schon losredet, deutsch, aber nicht sächsisch.

Er habe so viel von seinen Kunstwerken gehört, sagt der Fremde, und auch schon in die Kirche geschaut; es sei ihm eine Ehre, ihn zu treffen. Silbermann, genervt wie geschmeichelt, macht sich an einer großen Pfeife zu schaffen, die auf dem Boden liegt, setzt einen Blasebalg an, lässt den Ton hören. Und stellt erstaunt fest, dass der Besucher sich zur Ecke des Raumes wendet, um den Ton zu prüfen. Das machen nur Profis, Orgelbauer wie er. Von jeher auf der Hut vor Konkurrenz, wird er misstrauisch. Gespannte Stille herrscht, als der Dresdner Verwandte schleunigst den Fremden vorstellt: Es ist Gottfried Silbermanns eigener Neffe Johann Andreas.

“Worauf mir [der Onkel] um den halß fiel und embrassierte und gleich fragte, wie lang ich bey ihm bleiben wolte”, notiert dieser Neffe am selben Tag, dem 18. März 1741, in sein Tagebuch, dem wir die Schilderung des Besuches in der Zittauer Werkstatt verdanken. Nach vierwöchiger Reise ist der 29 Jahre alte Johann Andreas Silbermann dort angelangt und kann sich, als er endlich vor seinem berühmten Onkel steht, das Spielchen mit dem Inkognito nicht verkneifen: Niemand wird damit rechnen, dass er hier erscheint, dass er die weite Reise aus Straßburg auf sich nimmt, er, der Sohn von Andreas Silbermann, Gottfrieds älterem Bruder, bei dem auch Gottfried selbst einst lernte, bevor er nach Sachsen zurückkehrte.

Johann Andreas wird sich als würdiger Nachfolger in der Silbermannschen Orgelbauer-Dynastie erweisen. 57 Orgeln baut er in seinem Leben, rund 15 davon sind erhalten, in der Basler Predigerkirche etwa, in Straßburg und Mülhausen. Doch was nun, im November 2014, bei Sotheby’s ans Licht kam, dürfte sie, zumindest aus heutiger Sicht, in den Schatten stellen. Es ist Silbermanns unscheinbarstes Werk, 18 mal 22 mal 6 Zentimeter groß, 1174 Gramm schwer, 284 Seiten dick: das Tagebuch seiner Reise im Jahre 1741, von dem keiner wusste außer dem anonymen Besitzer in Frankreich. Für gut 140.000 Euro wurde es für die Sächsische Landesbibliothek / Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, kurz SLUB, erworben. Die zahlte ein Viertel des Preises, den Rest übernahmen die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Kulturstiftung der Länder und der Freistaat Sachsen: Vor sechs Wochen traf der Band in Dresden ein, wurde sofort digitalisiert und kann jetzt online durchblättert werden unter www.slub-dresden.de.

In vier Wochen von Straßburg nach Zittau

Reisetexte aus dem 18. Jahrhundert gibt es einige, mit und ohne Musik. Die Briefe Mozarts und seines Vaters gehören dazu, die italienische Reise Goethes und The Present State of Music, das Tagebuch einer musikalischen Reise, das der britische Komponist und Organist Charles Burney 1771 veröffentlichte. Doch Silbermann ist drei Jahrzehnte früher unterwegs, und er reist weder als Dichter noch als Journalist, noch als Musiker, nicht als Profi. Er ist zwar Orgelexperte, interessiert sich aber für alles. Da er aus dem französisch beherrschten Straßburg kommt, wundert er sich über Dinge, die andere gar nicht erwähnen. “Das ist gesättigte Alltagsgeschichte von der spannendsten Sorte”, sagt Thomas Bürger, Generaldirektor der SLUB. “Und ein Tagebuch, das durch ganz Mitteldeutschland führt, gab es noch nicht.”

Silbermann bricht am Morgen des 21. Februar 1741 auf, “nachdem ich mir schon längstens eine Reyse in Sachsen zu thun vorgenomen”, wie er schreibt. Ins Land seines Vaters also geht es, der 1678 in Kleinbobritzsch als ältester Sohn eines Zimmermanns zur Welt kam, sich mit 23 Jahren in Straßburg niederließ, nach einer Fortbildung in Paris die französische Linie des Orgelbaus verfolgte und die Orgel des Straßburger Münsters schuf. Er starb schon mit 55 Jahren, Johann Andreas übernahm, keine 22 Jahre alt, die Werkstatt. Just vor seiner Reise hat er jene Orgel in St. Johann fertiggestellt, auf der 1778 der durchreisende Mozart spielen wird.

Gefährte in der Postkutsche gen Nordosten ist der Bildhauer Johann Nahl. Der gebürtige Berliner soll bei der Innenausstattung der Schlösser mitwirken, die Preußenkönig Friedrich II. bauen lässt – ein Regent, dessen Truppen gerade die der Habsburger aus Schlesien vertrieben haben, woraufhin sich in Dresden, fünf Tage ist das erst her, England, Russland, Österreich, Sachsen und die Niederlande gegen den machthungrigen Youngster aus Potsdam verbündet haben. Davon wird Silbermann noch etwas mitbekommen. Jetzt rumpeln sie über den Rhein, vom Bistum Straßburg in die Markgrafschaft Baden-Baden, und erreichen abends Rastatt.

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Damit hat Silbermann 60 von rund 1.400 Kilometern hinter sich, die er, mit Umwegen, bis Berlin zurücklegen wird, und den ersten von etwa 20 Grenzübertritten – durch so viele (Klein-)Staaten, Mark- und Landgrafschaften, Bistümer, Fürstentümer und Herzogtümer führt die Route. Anfangs reist er zügig. Erst ab Thüringen nimmt er sich Zeit, bis dahin werden vor allem places of interest abgearbeitet, die noch heute jeder Pauschaltourist auf der Liste hat. Am Heidelberger Schloss nimmt der Orgelbauer Maß; in “schu” notiert er die Dicke der Mauern.

Überhaupt liebt er Zahlen, ob es um Stunden oder Taler geht. “Vor [für] den Postwagen vor eine Station ½ Schilling. War es aber 1½ Station nemblich 6 Stunden, so kostete der Wagen ½ Thaler. Dem Postknecht ½ Schilling Trinkgeld”, notiert Silbermann hinter Frankfurt, wo er die Innenausstattung des Römers mit fotografischer Präzision geschildert hat. Für die 20 Kilometer bis Hanau braucht die Kutsche mit vier Pferden vier Stunden. Wenn man einen Taler mit etwa 80 Euro veranschlagt und das Tempo mit fünf Kilometern in der Stunde, kostet ein Kilometer die beiden Reisenden also gut 1,40 Euro. Noch kostspieliger wird es, wenn sie die “Extrapost” nehmen, einen Mietwagen.

Nach zehn Stunden Fahrt erreicht Silbermanns Wagen am 25. Februar 1741 die Stadt Gelnhausen zu nachtschlafender Stunde. “Wir mussten da eine halbstunde warten ehe man uns das thor aufthat, den die Wache hat geschlaffen, da sie vom posthorn blasen nicht erwachen wollte, so stürmten wir das thor mit steinen so lange biß der wächter aufwachte.” Am nächsten Tag geht es – parallel zur ICE-Strecke von heute – über Schlüchtern bis Fulda, am übernächsten bis Vacha und am 28. Februar durch den Thüringer Wald nach Eisenach.

Es regnet aus Eimern, und Silbermann gefällt gar nichts. Die Orgel der Georgenkirche, konzipiert von einem Onkel Bachs, findet er “entsetzlich konfus”, obwohl ein Schüler seines Vaters Andreas sie gerade renoviert hat. Dass auch der aktuelle Organist ein Bach ist, Johann Bernhard, scheint ihn nicht zu interessieren, und wenig charmant beurteilt er die Eisenacher Damenmode: “Die Tracht der Weibsleuthe siehet recht alber aus, sie lauffen alle mit schwartzen Mändeln /: es mag regnen oder nicht :/ wie in Strasburg die Gardner haben, und meistens baarfuß, auf den Köpfen haben sie dicke peltzkappen.”

 ”Fast alle 60 Schritt 3eckigte blecherne laternen”

In Gotha lobt er dagegen die blauen, mit Gold gesäumten Mäntel der vornehmeren Frauen, schildert ausführlich das Schloss Friedenstein und staunt wie schon in Eisenach über eine Stadtbeleuchtung, wie er sie bis dahin offenbar nicht kannte: “Fast alle 60 Schritt 3eckigte blecherne laternen, welche des nachts angezünden werden.” Tatsächlich zählen die mitteldeutschen Städte zu den Vorreitern dieser Neuerung, die sich, von Paris und Wien kommend, im 18. Jahrhundert durchsetzt und die Wahrnehmungsgewohnheiten ändert. Der natürliche Wechsel von Licht und Dunkel verliert seine Macht.

Nicht aber das Wetter. Der Winter dieses Jahres ist einer der längsten und härtesten des Jahrhunderts; in Irland kostet die darauf folgende Hungersnot mehr als jeden dritten der 2,4 Millionen Einwohner das Leben. Auf dem Weg von Erfurt nach Weimar bleibt bei Marienroda der Wagen im Schnee stecken, am nächsten Morgen macht man schon um vier Uhr einen zweiten Anlauf. “Es war entsetzlich kalt, windete und schneyete dabey so starck, daß wir fast verstarrten.” Dann gerät die Kutsche in tiefen Morast, “und die pferde [sind] durch das entsetzliche prügeln schon so abgemattet das der kutscher auf 2 dörffer laufen muste um vorspan zu hohlen.”

Zwei Tage später, am 6. März 1741, steckt Silbermann schon wieder im Matsch. Von Halle aus ist sein Freund Nahle nach Berlin aufgebrochen, er selbst braucht für den Weg ins nahe Leipzig einen ganzen Tag. Die schwer beladene Linienkutsche bricht durchs Eis in den Morast, aus dem acht Pferde sie nicht zerren können. Drei Stunden wandert er zu Fuß nach Schkeuditz und wäre “fast vor hunger darnieder gefallen”, weil seine “schweren Kleider und Stieffel mir auch zum gehen incommode waren”. Dann wartet er zwei Stunden auf den Wagen, der es aber auch nur bis Möckern schafft, “ein elend orth da zu übernachten”.

Mit einem Leipziger Ehepaar aus der Kutsche, das ihn beherbergen wird, geht er den Rest der Strecke bis Leipzig zu Fuß, bezahlt abends um zehn am Stadttor einen Groschen Sperrgeld und ist nun, erneut begeistert von beleuchteten Gassen, in derselben Stadt wie der 56-jährige Johann Sebastian Bach – falls der da ist in den stillen Tagen vor Karfreitag. Es ist das Rätsel dieser Reise in Bachs Lande, dass der Orgelexperte Silbermann sich um den Kollegen und Komponisten offenbar nicht bemüht, den er an anderer Stelle den “alte[n] berühmte[n] Herr[n] Bach von Leipzig” nennt, auch in Kenntnis von dessen Kontakt mit seinem Onkel Gottfried Silbermann.

Mit Bachs Schüler in der Paulinerkirche

Der hat es einmal “höchst übel aufgenommen”, als Bach ihn kritisierte. Silbermann hatte ein Tasteninstrument weiterentwickelt, auf dem eine unbegrenzte Differenzierung der Lautstärke möglich war, das Fortepiano, und es Anfang der 1730er Jahre Bach vorgeführt, der voll des Lobes war. Nur die hohen Töne fand er zu schwach und schwer spielbar. Silbermann, “der gar keinen Tadel an seinen Ausarbeitungen leiden konnte [...], zürnte deswegen lange mit dem Hrn. Bach”, berichtet dessen Schüler Johann Friedrich Agricola. Doch er beherzigte die Kritik. Bach spielte 1747 auf den verbesserten Instrumenten und beteiligte sich an deren Vertrieb.

Das spricht nicht für ein tiefes Zerwürfnis, das auch Gottfrieds Neffen beschäftigt haben müsste. Dennoch scheint er in Leipzig um die Thomaskirche geradezu herumzuschleichen, während er die Stadt so genau beschreibt, dass man Bachs unmittelbarer Umgebung so nah kommt wie selten. Ein Schüler Bachs, Gottfried August Homilius – er wurde einer der großen Komponisten seiner Generation –, führt den Reisenden in die Paulinerkirche, wo er die Orgel und ihren Erbauer Johann Scheibe kennenlernen möchte. “Zuvor aber bathe mich H Emilius um Gottes Willen mich nicht zu erkennen zu geben.”

Offensichtlich ist Konkurrenzangst eine Berufskrankheit dieser Zunft. Erst Schmeicheleien bewegen den misstrauischen Alten, seine Orgel vorzuführen, an der alles nur mit größter Kraft zu bedienen ist, die Register wie die Tasten und Pedale. Homilius flüstert dem Besucher zu: “Finger und füße thun nur weh von der Gewalt die ich brauchen mus.” Auch Bach fand übrigens, dass mit diesem Gerät “schwerlich jedem Stücke beyzukommen” sei. Er ist auf seltsame Weise abwesend anwesend zwischen den Zeilen, die Silbermann mal rasch hinkrakelt, mal fast kalligrafisch gestaltet, wie einer, der seine Notizen ins Reine schreibt.

Sosehr wir ein Treffen mit Bach vermissen, so unschätzbar ist die Schilderung eines lutherischen Gottesdienstes jener Zeit, wie sie Silbermann am 12. März 1741 von seiner nächsten Station liefert. Er hat Freiberg erreicht, die Heimat des Onkels, der derzeit in Zittau arbeitet. Um sieben Uhr morgens kommen die “weibsleuthe” in die Kirche und singen, um acht geht es offiziell los. “Wan ein Gesang bald aus ist, so stecket der Cantor widerum in eine am lettner fest gemachte Rahm ein schwartz brett hinein. Worauf die Nummero des Gesanges mit weissen Zahlen geschrieben ist, welches überal kann gesehen werden.” Der Pfarrer spricht etwa 90 Minuten lang in der eisigen Kirche. Als er zu Gebeten für den König (also August von Sachsen) auffordert, bemerkt Silbermann “nicht ohne Verwunderung”, “daß auf diese zwey gebetter fast keine Aufmerksamkeit gemacht wird, auf denen lettnern setzten viel Männer ihre Mützen auf, und plauderten”.

Ebenso ausführlich schildert er zwei Stunden im Freiberger Silberbergwerk. Rund um die Uhr wird dort in Sechs-Stunden-Schichten gearbeitet, auch mit Sprengstoff. Die Schmelzhütte kommt ihm vor wie die Hölle, “wegen dem sehr vielen feuer, und dem entsetzlichen dampff, welcher grün, gelb und schwartz sich allenthalben herumziehet”.

Drei Tage später, am 18. März 1741, hat Silbermann Zittau erreicht und überrascht seinen Onkel, mit dem er sich bestens versteht. Sechs Wochen bleibt er auf Besuch, sieht sich die Bibliothek mit Cranachs Bildnis des Kaisers Maximilian an, zeichnet selbst ziemlich professionell, macht Ausflüge, unterzieht sich einem Aderlass, hilft beim Bau der Orgel, die nur 16 Jahre alt werden wird: 1757 schießen österreichische Truppen die Stadt in Trümmer, da die preußischen Besatzer sie nicht räumen wollen. Silbermann hat diese Nachricht, die ganz Europa erschüttert, seinem Reisetagebuch später hinzugefügt.

Der “böse Mann in Berlin” beginnt den Krieg

Noch während Silbermann in Zittau weilt, hat der “böse Mann in Berlin”, wie die Habsburgerin Maria Theresia den expansiven Preußenkönig nennt, “seine erste Schlacht gewonnen”. So umschreiben die Geschichtsbücher ein fünfstündiges Gemetzel im schlesischen Mollwitz, bei dem von 40.000 Soldaten annähernd 10.000 getötet werden; “d 14. Aprilis”, notiert Silbermann, “kam der bericht her wegen der zwischen denen Preussen und Österreichern bey Mollwitz in der Schlesing geschehenen, und zum nachtheil der leztern ausgefallenen schlacht und bekam die hießige garnißon ordre sich stündlich marschfertig zu halten”.

Am 1. Mai – noch immer schneit es! – macht sich Silbermann auf den Weg ins goldene Dresden. Auch hier, wo die Laternen aus Glas sind und allmorgendlich gesäubert werden, hat er Verwandte und steht in Kontakt zu Musikern wie Johann Georg Pisendel, dem Konzertmeister der Hofkapelle. Mit ihm besucht er das Grüne Gewölbe, für das schon damals die Besucherzahlen limitiert sind: “Mehr Persohnen als fünffe führet man auf einmal nicht hinein”, und auch das nur auf schriftlichen Antrag. Besuchern werden “durch Bediente die Schue abgebürstet insonderheit unten, damit man nicht den geringsten unrath mit hinein tragen kan”.

Durch seinen Begleiter Pisendel lernt er auch dessen Chef kennen, den 42-jährigen Johann Adolf Hasse. Seit acht Jahren formt der Hofkapellmeister hier eines der besten Opernensembles Europas, an der Spitze seine Frau, die venezianische Diva Faustina Bordoni. Die Mezzosopranistin bittet Silbermann neben sich auf das Sofa. Ihr Gehalt beeindruckt ihn offenbar mehr als die Frau selbst: “Beyde [zusammen] bekomen monatlich vom König 500 Thlr., macht jährlich 6000 Thlr.” Das sind etwa 360.000 Euro, von denen Faustina zwei Drittel einstreicht, was dem Verhältnis zwischen Diven und Dirigenten noch heute entspricht. Der ebenfalls bei Hof beschäftigte, Hasse an Genie weit übertreffende Komponist Jan Dismas Zelenka bekommt nicht ein Zehntel davon, Bachs Sohn Friedemann orgelt an der Dresdner Sophienkirche für gerade mal 6.000 Euro im Jahr. Man nimmt es Silbermann durchaus ein bisschen übel, dass er nicht auch diese beiden besuchte. Doch dafür überliefert er einen Pfingstgottesdienst, bei dem Hasse ein 70-Mann-Orchester leitet, ein Kastrat das dreigestrichene g erreicht und zum Abendmahl der Kammerviolinist Francesco Maria Cattaneo “ganz allein ohne accompagnement ein Solo auf der Violin” spielt.

“…soffen sich etliche nach hoffmanier 2 Mahl voll”

Zwei Tage später geben die wohlhabenden Verwandten dem Vetter ein Abschiedsessen, das er nicht vergisst. 20 Personen schmausen von mittags bis fünf Uhr morgens “und soffen sich etliche nach hoffmanier 2 Mahl voll”, während “Musicanten mit Waldhörnern und andren Instrumenten” aufspielen. Vielleicht ist auch “Mademoiselle Schweffelgelb” dabei, wie Silbermann eine Schöne verschlüsselt, mit der er “ungemein vergnügt” nach Meißen hätte reisen mögen. Da er für das Fräulein aber “zu viel Hochachtung hatte, so thate mir gewalt an, und suchte durch meine abreyße einer gelegenheit auszuweichen”.

Mit einem Steinmetz aus Straßburg geht es nach Wittenberg und dann, vier Tage später, nach Berlin. Dort wird am 9. Juni Generalfeldmarschall von Borck beigesetzt, die Stadt ist voller Soldaten, und bei dieser Gelegenheit sieht Silbermann jenen Gleichaltrigen persönlich, der seinen Zeitgenossen so viel Glanz wie Elend bescheren wird: den jungen Preußenkönig.

Unweit der Garnisonkirche, zu der der Sarg getragen wird, befindet sich die Synagoge, “sehr propre gebaun, inwendig just viereckigt, es hengen 13 große meßingene Cronleuchter darinnen, oben ist die Decke und Wänder sauber gegipset”. Silbermann nimmt dort am zweieinhalbstündigen Sabbat-Gottesdienst teil, den er noch ausführlicher schildert als den protestantischen in Freiberg. Die Offenheit, mit der man ihn empfängt, weckt die seine. Nicht minder berührt ihn die Musik: “Ein junge der eine ungemein schöne und helle stime hatte machte den discant ein andrer den bass. Der Rabbiner aber sunge so courieuse darein, daß mich deuchte, er singe 2 stimmen auf einmahl.” Dass später sogar “ein fölliger Straßburger Springer mit beyden Theilen abgesungen” wird, dürfte die Erforscher der Synagogalmusik wie der Migrationslinien hellhörig machen.

Den Speisekundlern liefert Silbermann einen ganzen Wochenplan der Berliner Küche anno 1741. Vielleicht hat er an seinem letzten Tag, dem 10. Juni, tatsächlich verzehrt, was die Liste für den Samstag vorsieht, “Caldaunen [Streifen vom Pansenmagen] kleingehackt mit Rüben. Weißkraut kleingehackt mit Milch gekocht.” – “Sind bei uns Blätzer”, merkt der Straßburger vorsorglich an. Und dann reist er zurück, diesmal schnell, in nur elf Tagen. Die Arbeit ruft. Bis Johann Andreas Silbermann 1783 stirbt, wird er noch 36 Orgeln bauen. Und jene Familie gründen, die sein Tagebuch bis ins 19. Jahrhundert hütet.

Für die Forscher geht Silbermanns Reise nun erst richtig los. Und sie werden dafür länger brauchen als nur vier Monate. “Wir haben bis jetzt erst an der Oberfläche gekratzt”, sagt Barbara Wiermann, Leiterin der SLUB-Musikabteilung. Schon jetzt sei klar, “dass wir ein Team von Leuten brauchen, um das zu erschließen”. Orgelkundler werden das Tagebuch lesen wollen, Musikologen, Kunstexperten, Lokalhistoriker, Kulturwissenschaftler, Bach-Forscher … Vielleicht aber auch ziemlich normale Leute. Denn – auch das macht diesen Fund so singulär – der neugierige Orgelbauer Silbermann ist einer von ihnen.

Abbildungen: Tagebuchseiten vom 19. Mai 1741: “Machte ich dem Hrn Kapellmeister Hassen eine visite, er liess mich neben seiner Frau die berühmte Fausstina auf ein Canabe sitzen. Sie ist eine Venetianerin, und hat daselbst den Hassen geheurathet. Welcher wen ich mich recht besinne von Hamburg ist. beyde bekommen monathlich vom König 500 Thl, macht jährlich 6000Thlr…” Foto: Henrik Ahlers. / Johann Andreas Silbermann (1712-1783), Stich von Christophe Guérin, um 1780

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Er erschien am 12. März 2015 in der ZEIT, Ressort Geschichte, sowie auf ZEIT online.

Wunderschöne falsche Noten

Kunstfälscher wie Beltracchi machen Gewinne, neben denen Musikfälscher fast wie Idealisten wirken. Von Stargeiger Fritz Kreisler bis zu genialischen Provinzbastlern hinterlassen sie mehr Schönheit als Schaden und erzwingen die Frage: Wie hören wir eigentlich zu?

Da sitzt man am Klavier und klimpert so vor sich hin, die Finger rutschen wie von selbst in die Harmonien ihrer Kinderjahre, eine aparte Schrägheit hier und da, und auf einmal klingt es wie… hey, klingt das nicht wie Händel? Ein bisschen? Eine Arie, die von ihm sein könnte? Mal ein bisschen ausbauen! Schade, dreihundert Jahre zu spät! So fängt es an, so hört es bei den meisten wieder auf. Komponieren ist anstrengend, auch wenn man den Stil nur klaut. Wer in der Musik gar fälschen, mit vollständigen Mogelstücken selbst Kenner täuschen will, stellt sich einer enormen Herausforderung – die sich finanziell kaum lohnt.

Der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, der 2008 spektakulär aufflog, verdiente allein an vierzehn seiner Fälschungen zehn Millionen Euro. Der „Stern“ gab vor drei Jahrzehnten 9,6 Millionen D-Mark aus für 62 „Hitler-Tagebücher“, die der Maler Konrad Kujau so kundig gefälscht hatte, dass der renommierte Historiker Hugh Trevor-Roper darauf hereinfiel. Eine halbe Million Dollar war einem Antiquar jenes singuläre Exemplar von Galileis „Sternenbote“ wert, das bis vor Kurzem für zehn Millionen gehandelt wurde und mit dem ein Fälscherteam den Kunsthistoriker Horst Bredekamp auf einen langen Irrweg brachte.

Neben solchen Summen und Folgen bleiben selbst die kühnsten Fälschungen in der Musik selten im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit. Zwar sind neben Kompositionen sogar Komponisten, Briefe und Traktate gefälscht und „historische“ Instrumente gebaut worden, aber nie in der Aussicht auf grandiose Gewinne. Auch nur einen Satz einer klassischen Klaviersonate mit 250 Jahren Verspätung so zu komponieren, dass sie vor Augen und Ohren der Kenner als „echter Haydn“ durchgeht, ist mit solchem Aufwand an Zeit, Kenntnis und Kreativität verbunden, dass ein Beltracchi daneben leichtes Spiel hat.

Genau deshalb aber sind die Ergebnisse nicht nur spannend, sondern oft so schön, dass man sie nach ihrer Enttarnung erst recht genießen kann – oder könnte, wäre da nicht die Fixierung auf die „großen Namen“, um die man sich betrogen sieht wie um eine große Liebe. Gerade sie und das geheimnisvolle „Dunkel der Geschichte“ sind es ja, die Kenner sämtlicher Branchen – Kunstgeschichtler, Historiker, Musikologen, Musiker, Fachjournalisten – immer wieder vergessen lassen, was für die eigene Zunft der Physiker Richard Feynman so formulierte: „Leg dich nicht selbst herein – du bist derjenige, der am einfachsten hereinzulegen ist.“

Die andere, für die Kulturhistoriker erheblichere Maxime stammt vom Autographenhändler Albi Rosenthal: „Trau nie der Provenienz einer Handschrift, die bei einer kleinen alten Dame draußen auf dem Land gefunden wurde.“ Und eben dort wollte vor gut zwanzig Jahren der Münsteraner Flötist Winfried Michel jene Manuskripte aufgetan haben, die er als Fotokopien nach Wien sandte, zur Musikwissenschaftlerin Eva Badura-Skoda. Es war der Fund des Jahrhunderts, ein Missing Link der Wiener Klassik – ganze sechs jener verlorenen sieben Klaviersonaten, deren Anfangstakte Joseph Haydn in seinen Werkkatalog notiert hatte.

Aufregende Stücke aus seiner experimentellen Zeit, um 1805 von einem Kopisten für die Ewigkeit gerettet, irgendwie nach Münster gelangt. Um die Originale konnte man sich immer noch kümmern, jetzt setzte sich erstmal der Gatte der Musikologin an den Flügel und testete die Stücke – kein Geringerer als Paul Badura-Skoda, einer der kundigsten Interpreten für Klaviermusik dieser Epoche. Er war begeistert. In einer Sonate fehlten Takte, zu denen der Mann aus Münster eine selbstkomponierte Rekonstruktion anbot. Völlig talentlos, befand der Pianist und schloss, erfahren mit solcher Arbeit, die Lücke im Geniewerk lieber selbst.

Jetzt war der Fund reif für die größte lebende Autorität in Sachen Haydn, den amerikanischen Forscher H.C. Robbins Landon, der sich auf seinem Chateau in Südfrankreich im Weltruhm sonnte, beste Verbindungen zur BBC hatte, zu deren wichtigsten Mitarbeitern er seit 40 Jahren zählte und in deren Zeitschrift „Music Magazine“ der 67-jährige, nach Durchsicht der Fotokopien, „die immense Bedeutung“ der Stücke bejubelte. „Hier wird klar, wie Haydn nach einer neuen musikalischen Sprache sucht.“ In Harvard plante man bereits eine Konferenz, in London präsentierte Robbins Landon der Presse den „Jahrhundertfund“ mit Tonbeispiel.

Wenig später wies ein Handschriftenexperte von Sotheby´s darauf hin, dass es Stahlfedern wie die, deren Einsatz sich aus der Fotokopie erschloss, um 1805 noch nicht gab, dass die Schrift nicht floss wie die professioneller Kopisten. Zudem kam heraus, dass Michel auch schon Werke erfundener Komponisten wie Simonetti und Tomesini herausgegeben hatte. Die alte Dame mit den Originalen kränkelte immer noch und durfte nicht gestört werden – aber das war auch nicht mehr nötig. Robbins Landon legte sich das unzerknirscht so zurecht: „Wenn es eine Fälschung ist, dann vom größten Fälscher aller Zeiten.“

So ähnlich reagieren übrigens fast alle genasführten Koryphäen: Wer mich täuscht, muss genial sein! Immerhin, wenn man sich die Sonaten anhört, die Paul Badura-Skoda aufgenommen hat, entzücken sie, voller Überraschungen und Sprünge, Carl Philipp Emanuel Bach nicht fern, nicht weniger als jenes früheste Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, genannt „Adelaide“, vom Zehnjährigen angeblich in Versailles komponiert, für dessen Ersteinspielung 1934 kein Geringerer als der 18jährige Yehudi Menuhin sorgte. Der Franzose Marius Casadesus hatte es herausgegeben, für den von ihm rekonstruierten Orchesterpart bezog er Tantiemen. 1977, mit 81 Jahren, enttarnte er das beliebte Stück selbst.

Er sei „ein Gefangener seines Erfolgs“ gewesen: „Ich dachte, daß viele meiner Freunde lächerlich dastehen würden, wenn sie zugeben müßten, ein falsches Werk gepriesen zu haben.“ Zum Beispiel Friedrich Blume, der als Leitfigur der deutschen Nachkriegsmusikwissenschaft das durchaus umstrittene Opus in jenem „Mozart Companion“ von 1956 beglaubigte, zu dessen Herausgebern, nun ja, Robbins Landon zählte. Man kann den Eindruck gewinnen, dass besonders die ehrgeizigsten Wissenschaftler anfällig sind für den Glanz großer Namen: Unbekanntes von Genies macht schneller etwas her als Geniales von Unbekannten.

Folgerichtig fiel der einflussreichste Musikwissenschaftler der DDR, Harry Goldschmidt, auf eine Partitur herein, die 1973 ein Herr aus dem Taunus aus Orchesterstimmen des 19. Jahrhunderts rekonstruiert haben wollte, die ihrerseits aus Franz Schuberts „fehlender“ siebter Sinfonie E-Dur stammen und sich, kein Witz, im Besitz einer etwas heiklen Tante in Berlin befinden sollten. Bis zuletzt kämpfte Goldschmidt für das Werk, das 1982 uraufgeführt und gedruckt wurde. Als Gunter Elsholz endlich seine Quelle herausrückte, stellte die Bundesanstalt für Materialprüfung (die gerade die Hitler-Tagebücher entzaubert hatte) fest, dass man hundert Jahre zuvor schon Tipp-Ex von 1970 verwendet hatte…

Geheimkomponisten wie Michel und Elsholz werden von der Musikwissenschaft gern in dem Maße als halbkriminelle Würstchen abgekanzelt, in dem sie die angreifbarste Stelle der Zunft bloßgestellt haben. Denn auch hinter der penibelsten Analyse, dem kundigsten Querverweis steckt nicht weniger Projektion, Interpretation, Liebe zur Musik als in jedem Musiker und Hörer. Und wer uns ein Glas Wein hinstellt und erzählt, welch herrlichem Sommer in bester Lage es sich verdankt, wie schwierig der Tropfen zu bekommen war, ruft etwas höchst Authentisches wach: Unsere Phantasie. Sie kann aus dem Chateau Migraine einen Chateau Batailly machen, bis der Kater kommt.

Damit spielen Musikologen manchmal selbst in „spoof articles“, Beiträgen über fiktive Komponisten, die für Eingeweihte erkennbar sind, manchmal aber so durchtrieben, dass ernsthafte Dissertationen darüber verfasst werden wie über jenen Ugolino de Maltero, dessen auf lateinisch abgefasstes Traktat „De cantu fractibili brevis position“ 1901 in Leipzig unter der Signatur „Cod.Lips.Thomas.6.III“ gefunden wurde. Darin verschlüsselt steckt die Adresse von Hugo „Ugolino“ Riemann, dem Gründervater akademischer Musikwissenschaft. Er hatte sich eine mittelalterliche Bestätigung seiner Theorien zurechtgescherzt.

Weit größeren Aufwand betrieben zwei Heroen der „Alten Musik“, denen ein missing link in der Geschichte des Cembalobaus fehlte. Gustav Leonhardt und Instrumentenbauer Martin Skowronnek präsentierten 1984 ein herrliches Instrument, das Nicholas Lefebvre 1755 in Rouen gebaut haben sollte. Es gab einen Restaurationsbericht und ein Konzert, und noch elf Jahre später wurde das Instrument in der maßgeblichen Literatur gewürdigt – wer würde dem unfehlbaren Leonhardt misstrauen? Erst 2002 deckte Skowronnek das ganze selbst auf als „Fälschung ohne Betrugsabsicht.“ Er habe nur Diskussionen anregen wollen.

Und Fritz Kreisler wollte nur spielen. Weil ihm die Literatur für Sologeige zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu dürftig war, schrieb sich der Virtuose selbst ein paar Schmankerln, die er damals kaum erschlossenen Komponisten wie Luigi Boccherini, Anton Stamitz, Wilhelm Friedemann Bach unterschob und als „Klassische Manuskripte“ herausgab. Darunter immerhin auch ein komplettes Violinkonzert von Vivaldi, in dem damals niemand die Zitate aus der Wiener Klassik und den Salon-Tonfall des Fin de Siècle erkannte. Die abenteuerlichen Fundgeschichten fraßen die Journalisten dem Charmeur aus der Hand. Als die Sache 1957 aufflog, gab es einen Skandal, den ein weniger Berühmter kaum überstanden hätte.

Was bleibt, ist ein beschwingter Kostümreigen, den man gern öfters hören würde. So wie das wunderbare Bratschenkonzert, das Henri Casadesus unter dem Namen Johann Christian Bach herausgab – ein Geniewurf des Historismus, der ungelogen zum Besten in der spätromantischen Literatur für Viola zählt. Henri und sein Bruder Marius, der Mozartfälscher, waren gut befreundet mit Kreislers Schüler Samuel Dushkin, der 1932 ein griffiges Violinkonzert von Jiri Benda publizierte, einem böhmischen Zeitgenossen Bachs, der hochbegabte Söhne, aber kein Werk hinterließ. Bis auf dieses? Interessanterweise greift er auf Bachs E-Dur-Violinkonzert zurück, das zu Bendas Zeit unpubliziert und nur in Leipzig zu hören war, und brezelte es mit Akkordvirtuosik von ca. 1840 auf…

Wenn es in der kreativen Energie hinter all diesen Fälschungen auch eine kriminelle Energie gibt, dient sie allein der Eitelkeit der Schöpfer, die es genießen, ihre Hörer und Leser gefoppt zu haben. Wir sollten ihnen dankbar sein, dass sie uns anregen zu überdenken, wie wir hören, was wir erwarten, mit wieviel Befangenheiten, Wünschen, Sehnsüchten, Bezügen wir Musik wahrnehmen, diese vermeintlich unmittelbarste aller Künste. Man könnte mühelos ein hochkarätiges Festival der Fälschungen veranstalten und es unter einen Satz stellen, den Gustav Mahler am 10. Januar 1910 an Arnold Schönberg schrieb: „Was liegt eigentlich daran, wer die Werke schreibt. Wenn sie nur zur rechten Zeit da sind.“

Dieser Text erschien im Juni 2014 in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, und ist urheberrechtlich geschützt