Wunderschöne falsche Noten

Kunstfälscher wie Beltracchi machen Gewinne, neben denen Musikfälscher fast wie Idealisten wirken. Von Stargeiger Fritz Kreisler bis zu genialischen Provinzbastlern hinterlassen sie mehr Schönheit als Schaden und erzwingen die Frage: Wie hören wir eigentlich zu?

Da sitzt man am Klavier und klimpert so vor sich hin, die Finger rutschen wie von selbst in die Harmonien ihrer Kinderjahre, eine aparte Schrägheit hier und da, und auf einmal klingt es wie… hey, klingt das nicht wie Händel? Ein bisschen? Eine Arie, die von ihm sein könnte? Mal ein bisschen ausbauen! Schade, dreihundert Jahre zu spät! So fängt es an, so hört es bei den meisten wieder auf. Komponieren ist anstrengend, auch wenn man den Stil nur klaut. Wer in der Musik gar fälschen, mit vollständigen Mogelstücken selbst Kenner täuschen will, stellt sich einer enormen Herausforderung – die sich finanziell kaum lohnt.

Der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, der 2008 spektakulär aufflog, verdiente allein an vierzehn seiner Fälschungen zehn Millionen Euro. Der „Stern“ gab vor drei Jahrzehnten 9,6 Millionen D-Mark aus für 62 „Hitler-Tagebücher“, die der Maler Konrad Kujau so kundig gefälscht hatte, dass der renommierte Historiker Hugh Trevor-Roper darauf hereinfiel. Eine halbe Million Dollar war einem Antiquar jenes singuläre Exemplar von Galileis „Sternenbote“ wert, das bis vor Kurzem für zehn Millionen gehandelt wurde und mit dem ein Fälscherteam den Kunsthistoriker Horst Bredekamp auf einen langen Irrweg brachte.

Neben solchen Summen und Folgen bleiben selbst die kühnsten Fälschungen in der Musik selten im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit. Zwar sind neben Kompositionen sogar Komponisten, Briefe und Traktate gefälscht und „historische“ Instrumente gebaut worden, aber nie in der Aussicht auf grandiose Gewinne. Auch nur einen Satz einer klassischen Klaviersonate mit 250 Jahren Verspätung so zu komponieren, dass sie vor Augen und Ohren der Kenner als „echter Haydn“ durchgeht, ist mit solchem Aufwand an Zeit, Kenntnis und Kreativität verbunden, dass ein Beltracchi daneben leichtes Spiel hat.

Genau deshalb aber sind die Ergebnisse nicht nur spannend, sondern oft so schön, dass man sie nach ihrer Enttarnung erst recht genießen kann – oder könnte, wäre da nicht die Fixierung auf die „großen Namen“, um die man sich betrogen sieht wie um eine große Liebe. Gerade sie und das geheimnisvolle „Dunkel der Geschichte“ sind es ja, die Kenner sämtlicher Branchen – Kunstgeschichtler, Historiker, Musikologen, Musiker, Fachjournalisten – immer wieder vergessen lassen, was für die eigene Zunft der Physiker Richard Feynman so formulierte: „Leg dich nicht selbst herein – du bist derjenige, der am einfachsten hereinzulegen ist.“

Die andere, für die Kulturhistoriker erheblichere Maxime stammt vom Autographenhändler Albi Rosenthal: „Trau nie der Provenienz einer Handschrift, die bei einer kleinen alten Dame draußen auf dem Land gefunden wurde.“ Und eben dort wollte vor gut zwanzig Jahren der Münsteraner Flötist Winfried Michel jene Manuskripte aufgetan haben, die er als Fotokopien nach Wien sandte, zur Musikwissenschaftlerin Eva Badura-Skoda. Es war der Fund des Jahrhunderts, ein Missing Link der Wiener Klassik – ganze sechs jener verlorenen sieben Klaviersonaten, deren Anfangstakte Joseph Haydn in seinen Werkkatalog notiert hatte.

Aufregende Stücke aus seiner experimentellen Zeit, um 1805 von einem Kopisten für die Ewigkeit gerettet, irgendwie nach Münster gelangt. Um die Originale konnte man sich immer noch kümmern, jetzt setzte sich erstmal der Gatte der Musikologin an den Flügel und testete die Stücke – kein Geringerer als Paul Badura-Skoda, einer der kundigsten Interpreten für Klaviermusik dieser Epoche. Er war begeistert. In einer Sonate fehlten Takte, zu denen der Mann aus Münster eine selbstkomponierte Rekonstruktion anbot. Völlig talentlos, befand der Pianist und schloss, erfahren mit solcher Arbeit, die Lücke im Geniewerk lieber selbst.

Jetzt war der Fund reif für die größte lebende Autorität in Sachen Haydn, den amerikanischen Forscher H.C. Robbins Landon, der sich auf seinem Chateau in Südfrankreich im Weltruhm sonnte, beste Verbindungen zur BBC hatte, zu deren wichtigsten Mitarbeitern er seit 40 Jahren zählte und in deren Zeitschrift „Music Magazine“ der 67-jährige, nach Durchsicht der Fotokopien, „die immense Bedeutung“ der Stücke bejubelte. „Hier wird klar, wie Haydn nach einer neuen musikalischen Sprache sucht.“ In Harvard plante man bereits eine Konferenz, in London präsentierte Robbins Landon der Presse den „Jahrhundertfund“ mit Tonbeispiel.

Wenig später wies ein Handschriftenexperte von Sotheby´s darauf hin, dass es Stahlfedern wie die, deren Einsatz sich aus der Fotokopie erschloss, um 1805 noch nicht gab, dass die Schrift nicht floss wie die professioneller Kopisten. Zudem kam heraus, dass Michel auch schon Werke erfundener Komponisten wie Simonetti und Tomesini herausgegeben hatte. Die alte Dame mit den Originalen kränkelte immer noch und durfte nicht gestört werden – aber das war auch nicht mehr nötig. Robbins Landon legte sich das unzerknirscht so zurecht: „Wenn es eine Fälschung ist, dann vom größten Fälscher aller Zeiten.“

So ähnlich reagieren übrigens fast alle genasführten Koryphäen: Wer mich täuscht, muss genial sein! Immerhin, wenn man sich die Sonaten anhört, die Paul Badura-Skoda aufgenommen hat, entzücken sie, voller Überraschungen und Sprünge, Carl Philipp Emanuel Bach nicht fern, nicht weniger als jenes früheste Violinkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, genannt „Adelaide“, vom Zehnjährigen angeblich in Versailles komponiert, für dessen Ersteinspielung 1934 kein Geringerer als der 18jährige Yehudi Menuhin sorgte. Der Franzose Marius Casadesus hatte es herausgegeben, für den von ihm rekonstruierten Orchesterpart bezog er Tantiemen. 1977, mit 81 Jahren, enttarnte er das beliebte Stück selbst.

Er sei „ein Gefangener seines Erfolgs“ gewesen: „Ich dachte, daß viele meiner Freunde lächerlich dastehen würden, wenn sie zugeben müßten, ein falsches Werk gepriesen zu haben.“ Zum Beispiel Friedrich Blume, der als Leitfigur der deutschen Nachkriegsmusikwissenschaft das durchaus umstrittene Opus in jenem „Mozart Companion“ von 1956 beglaubigte, zu dessen Herausgebern, nun ja, Robbins Landon zählte. Man kann den Eindruck gewinnen, dass besonders die ehrgeizigsten Wissenschaftler anfällig sind für den Glanz großer Namen: Unbekanntes von Genies macht schneller etwas her als Geniales von Unbekannten.

Folgerichtig fiel der einflussreichste Musikwissenschaftler der DDR, Harry Goldschmidt, auf eine Partitur herein, die 1973 ein Herr aus dem Taunus aus Orchesterstimmen des 19. Jahrhunderts rekonstruiert haben wollte, die ihrerseits aus Franz Schuberts „fehlender“ siebter Sinfonie E-Dur stammen und sich, kein Witz, im Besitz einer etwas heiklen Tante in Berlin befinden sollten. Bis zuletzt kämpfte Goldschmidt für das Werk, das 1982 uraufgeführt und gedruckt wurde. Als Gunter Elsholz endlich seine Quelle herausrückte, stellte die Bundesanstalt für Materialprüfung (die gerade die Hitler-Tagebücher entzaubert hatte) fest, dass man hundert Jahre zuvor schon Tipp-Ex von 1970 verwendet hatte…

Geheimkomponisten wie Michel und Elsholz werden von der Musikwissenschaft gern in dem Maße als halbkriminelle Würstchen abgekanzelt, in dem sie die angreifbarste Stelle der Zunft bloßgestellt haben. Denn auch hinter der penibelsten Analyse, dem kundigsten Querverweis steckt nicht weniger Projektion, Interpretation, Liebe zur Musik als in jedem Musiker und Hörer. Und wer uns ein Glas Wein hinstellt und erzählt, welch herrlichem Sommer in bester Lage es sich verdankt, wie schwierig der Tropfen zu bekommen war, ruft etwas höchst Authentisches wach: Unsere Phantasie. Sie kann aus dem Chateau Migraine einen Chateau Batailly machen, bis der Kater kommt.

Damit spielen Musikologen manchmal selbst in „spoof articles“, Beiträgen über fiktive Komponisten, die für Eingeweihte erkennbar sind, manchmal aber so durchtrieben, dass ernsthafte Dissertationen darüber verfasst werden wie über jenen Ugolino de Maltero, dessen auf lateinisch abgefasstes Traktat „De cantu fractibili brevis position“ 1901 in Leipzig unter der Signatur „Cod.Lips.Thomas.6.III“ gefunden wurde. Darin verschlüsselt steckt die Adresse von Hugo „Ugolino“ Riemann, dem Gründervater akademischer Musikwissenschaft. Er hatte sich eine mittelalterliche Bestätigung seiner Theorien zurechtgescherzt.

Weit größeren Aufwand betrieben zwei Heroen der „Alten Musik“, denen ein missing link in der Geschichte des Cembalobaus fehlte. Gustav Leonhardt und Instrumentenbauer Martin Skowronnek präsentierten 1984 ein herrliches Instrument, das Nicholas Lefebvre 1755 in Rouen gebaut haben sollte. Es gab einen Restaurationsbericht und ein Konzert, und noch elf Jahre später wurde das Instrument in der maßgeblichen Literatur gewürdigt – wer würde dem unfehlbaren Leonhardt misstrauen? Erst 2002 deckte Skowronnek das ganze selbst auf als „Fälschung ohne Betrugsabsicht.“ Er habe nur Diskussionen anregen wollen.

Und Fritz Kreisler wollte nur spielen. Weil ihm die Literatur für Sologeige zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu dürftig war, schrieb sich der Virtuose selbst ein paar Schmankerln, die er damals kaum erschlossenen Komponisten wie Luigi Boccherini, Anton Stamitz, Wilhelm Friedemann Bach unterschob und als „Klassische Manuskripte“ herausgab. Darunter immerhin auch ein komplettes Violinkonzert von Vivaldi, in dem damals niemand die Zitate aus der Wiener Klassik und den Salon-Tonfall des Fin de Siècle erkannte. Die abenteuerlichen Fundgeschichten fraßen die Journalisten dem Charmeur aus der Hand. Als die Sache 1957 aufflog, gab es einen Skandal, den ein weniger Berühmter kaum überstanden hätte.

Was bleibt, ist ein beschwingter Kostümreigen, den man gern öfters hören würde. So wie das wunderbare Bratschenkonzert, das Henri Casadesus unter dem Namen Johann Christian Bach herausgab – ein Geniewurf des Historismus, der ungelogen zum Besten in der spätromantischen Literatur für Viola zählt. Henri und sein Bruder Marius, der Mozartfälscher, waren gut befreundet mit Kreislers Schüler Samuel Dushkin, der 1932 ein griffiges Violinkonzert von Jiri Benda publizierte, einem böhmischen Zeitgenossen Bachs, der hochbegabte Söhne, aber kein Werk hinterließ. Bis auf dieses? Interessanterweise greift er auf Bachs E-Dur-Violinkonzert zurück, das zu Bendas Zeit unpubliziert und nur in Leipzig zu hören war, und brezelte es mit Akkordvirtuosik von ca. 1840 auf…

Wenn es in der kreativen Energie hinter all diesen Fälschungen auch eine kriminelle Energie gibt, dient sie allein der Eitelkeit der Schöpfer, die es genießen, ihre Hörer und Leser gefoppt zu haben. Wir sollten ihnen dankbar sein, dass sie uns anregen zu überdenken, wie wir hören, was wir erwarten, mit wieviel Befangenheiten, Wünschen, Sehnsüchten, Bezügen wir Musik wahrnehmen, diese vermeintlich unmittelbarste aller Künste. Man könnte mühelos ein hochkarätiges Festival der Fälschungen veranstalten und es unter einen Satz stellen, den Gustav Mahler am 10. Januar 1910 an Arnold Schönberg schrieb: „Was liegt eigentlich daran, wer die Werke schreibt. Wenn sie nur zur rechten Zeit da sind.“

Dieser Text erschien im Juni 2014 in “128″, dem Magazin der Berliner Philharmoniker, und ist urheberrechtlich geschützt