Kategorie-Archiv: Historisch

Achterbahnfahrt im Epochenknick

Das abenteuerliche Leben des Komponisten und Literaten Johann Friedrich Reichardt, der vor 200 Jahren starb

Herr von Knebel mochte den Besucher nicht. „Seine glatte Rhinocerosstirne, sein vorgeschobenes Untergesicht, auch den häßlichen Spitzbauch“ monierte er in einem Brief und mokierte sich über die „zutrauliche Höflichkeit des Gastes“, der unangemeldet „zur Hinterthüre“ herein gekommen sei, womöglich gar noch ein Mittagessen erhoffend. „Der – der große Kapellmeister Reichardt!“, schrieb höhnisch Knebel, eine der kleineren Leuchten aus Goethes Dunstkreis. Denn dieser Kapellmeister war nicht nur alt und häßlich. Er war abgetan. Er galt als peinlich. Und verarmt war er außerdem.

Der Mann, den Tieck zufolge „alle Welt kannte“, Bahnbrecher des Kunstlieds, Meister des Singspiels, umjubelter Geiger, erster deutscher Musikjournalist, Hofkapellmeister Friedrichs des Großen, Reporter der französischen Revolution, Wiegenhüter und Gastgeber der literarischen Romantik, dieser Mann, der einmal nach übereinstimmender Meinung „von auffallender Schönheit“ gewesen war – dieser Johann Friedrich Reichardt war in seinem sechzigsten Lebensjahr ein Wrack, über dessen letztes, in Geldnot verfasstes Buch Beethoven seinem Verleger schrieb: „Was sagen Sie zu dem Geschmier?“

Dabei hatte Beethoven, wie er bekannte, „nur Bruchstücke“ gelesen. Seine Meinung folgte einfach dem ruinierten Ruf des Mannes, der als geigendes Wunderkind armer Leute in Königsberg die große Welt betreten und dann in einem Zickzackkurs durchmessen, durchrast, durchwandert hat, der an Extremen seinesgleichen sucht. Nicht nur, was Glanz und Elend angeht, sondern auch die Fülle von Freundschaften. Es gibt im Deutschland der Klassik und der Frühromantik, zwischen 1780 und 1810, kaum einen Großen, den Reichardt nicht kannte, und kaum einen, mit dem er sich nicht auch verkrachte.

Am 25. November 1752 geboren, war Johann Friedrich früh in einen Rummel geraten, wie man ihn zur selben Zeit auch anderswo, in Salzburg zum Beispiel, mit hochbegabten Kindern trieb. Nur war sein Vater eben kein planvoller Leopold Mozart, sondern ein trinkfester Lautenist ohne feste Stelle, der sich, seine Frau und fünf Kinder nah an der Armutsgrenze durchbrachte. Seinen brillanten Sechsjährigen ließ er nächtelang bei Offiziersgelagen fiedeln, sah es aber auch gern, wenn Graf und Gräfin Keyserling das Kind in roten Sammet kleideten, hätschelten und unter Kronleuchtern aufspielen ließen.

Die paar Ansätze zu einer universellen Ausbildung, die Reichardt später autodidaktisch ergänzte, verdanken sich bürgerlichen Königsbergern, darunter Immanuel Kant, der den wachen Knaben nicht aus den Augen verlor, Musik aber für eine „Beschäftigung ohne Zweck“ hielt und zum Jurastudium riet. Reichardt gehorchte, hat dann aber vor allem die Nächte durchgemacht, gemeinsam mit dem jungen Dichter Lenz, der später Reichardts Vater in seinem Stück „Der Hofmeister“ als Lautenlehrer „Rehaar“ karikierte. Mit neunzehn Jahren brach Reichardt das Studium ab und zog „hinaus in´s Weite“.

So sagt er das in seiner Autobiographie, dem ersten literarischen, nicht bloß fachbezogenen Selbstporträt eines Musikers, zugleich Bildungsroman, Anekdotengalerie und frühromantischer Wandertext: „Auf diesem heiteren Morgenwege genoß ich, dem zu Muthe war, wie es einem dem Winterkäfige entflohenen Vogel sein mag, einer Heiterkeit, Ruhe und Fröhlichkeit, die fast jede bis dahin erlebte Frühlingslust übertraf. Ich sang und jubelte durch die grünen Saatfelder und Auen…“ Wer da an den „Taugenichts“ denkt, wird sich nicht wundern, später auch Eichendorff an Reichardts Tafel zu finden.

Doch bis der zum legendären „Herbergsvater der Romantik“ wird, muss er noch lange wandern. Er spielt von der Hand in den Mund, wird als „großer Geiger“ schon 1773 vom Musikreisenden Charles Burney gewürdigt, bezaubert in Braunschweig den Dichter Gleim, der den Jüngling gleich „so zärtlich“ umarmt, „daß ich ganz verlegen wurde“, verpfändet in Prag seine Geige, musiziert in Hamburg mit Carl Philipp Emanuel Bach, komponiert eine Ode von Klopstock zu dessen Pläsier – und kehrt nach dreijähriger Geniereise mittellos nach Königsberg zurück.

Dort verschaffen ihm Freunde eine erholsame Stelle als Kammersekretär, aus der sich Reichardt zwei Jahre später zum nobelsten Musikposten Preußens hochkatapultiert. Ein kurzer Bewerbungsbrief und eine Opernpartitur genügen, um den 23jährigen für Friedrich den Großen interessant zu machen. Der sucht einen willfährigen Kapellmeister für sein Opernhaus, eher ein Museum, in dem der Monarch die Ästhetik seiner Jugend konserviert, Molltonarten verbietet, mit seinem Stock laut den Takt schlägt und Soldaten ins Parterre kommandiert, weil trotz freien Eintritts kein Berliner kommen mag.

Wie der 63-jährige König den Kandidaten empfängt, auf dem Sofa liegend, „in seiner gewohnten, militärischen Uniform, mit einer hellblauen, seidnen Decke bedeckt, den alten, grossen Hut auf dem Kopfe, nur seitwärts von mehreren hohen Wachslichtern beleuchtet“, während er seine kläffenden Windspiele beschwichtigt, wie er in seinem berüchtigt groben Deutsch seine Abneigung gegen die neue italienische Opernmode formuliert („So´n Kerl schreibt ihm wie ´ne Sau“), das hat Reichardt mit dem scharfen Blick gesehen, den nur die Wanderer haben, Suchende, die nirgendwo richtig dazu gehören.

Als „gewesenen Landstreicher“ schmäht denn auch J.S. Bachs Schüler Kirnberger in Berlin den neuen Hofkapellmeister, der sich zwar achtzehn Jahre und auch unter dem nächsten König auf dem Posten hält, seine Gaben aber anderswo entfaltet. Etwa als Verfasser und Verleger des „Musikalischen Kunstmagazins“, einer journalistischen Pioniertat mit Essays, Analysen, Kritiken, Nachrichten, die noch Robert Schumann beeindruckt hat – geschrieben in „kühndahinströhmender Sprache“, wie Reichardt sein Stilideal beschreibt. Mit nur 327 Subskribenten bleibt das Projekt ein Verlustgeschäft. Ein anderes Forum ist seine Wohnung in Berlin. Hier veranstalten die (insgesamt zwölf) Familienmitglieder Konzerte und Theaterabende, die der junge Ludwig Tieck als wegweisende „Kunstschule“ erlebt.

Und dann ist da das Landgut bei Halle, in Giebichenstein, an das der Gast Eichendorff sich später erinnert: „Wie mancher junge Poet … saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend.“ Novalis, Tieck, Jean Paul, Wackenroder, Brentano, Arnim, Schlegel, Voss, die Grimms – keiner fehlt in diesen Sommern nach 1790. Hier erfindet die Romantik sich selbst, mit Reichardt als einem Prospero, der dem Personal beibringt, aus den Gebüschen zweistimmige Hornweisen ertönen zu lassen, wie sie auch in seinem Singspiel „Die Geisterinsel“ (1798) nach Shakespeares „Sturm“ zu hören sind. Es ist sein erfolgreichstes Bühnenwerk, eine ganz eigentümliche, zerbrechliche Verbindung aus Tonfällen der Mozartschen „Zauberflöte“, aus Orchesterfarben von lyrischer Transparenz und voll von wundersam eingängigen, oft melancholischen Melodien. Melodien fielen Reichardt so reichlich ein, dass er sie sogar beim Essen aufschrieb. Sie gingen noch Schubert durch den Kopf.

Als Liedkomponist hat Reichardt 28 Sammlungen veröffentlicht, die Epoche machten. 1500 Texten von 125 Dichtern schmiegte er seine Töne auf eine neue Weise an, die Faßlichkeit mit Sprachsensibilität vereint – das einfachste, berühmteste Beispiel dafür kennt auch heute fast jeder: „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Noch wiederzuentdecken ist aber ein Oeuvre, in dem auch die Weimarer Klassiker, zu denen Mozart und Haydn kaum etwas einfiel, erstmals adäquat vertont wurden. „Reichardt hat mir wohl getan“, notiert Goethe nach einem Besuch seines Komponisten. Später wird er ihn einen „Schmarotzer“ nennen, der Melodien nur „leidlich elend zu binden“ verstehe, er wird Hand in Hand mit Schiller ein Gemetzel veranstalten, das zu den dunklen Seiten Weimars zählt.

Dahinter steht die französische Revolution, mit der der Hofkapellmeister sympathisiert. Seine „Vertrauten Briefe über Frankreich“ veröffentlicht er 1792 unter dem durchsichtigen Pseudonym „J Frei“, es ist die bis dahin materialreichste Revolutionsreportage in Deutschland, ein Text, der keineswegs so „unkritisch“ ist, wie Walter Salmen das in seinem tristen Buch über Reichardt darstellt.

Plastisch und persönlich, differenziert und distanziert schildert der Reisende das Chaos der Nationalversammlung, die Arroganz Robespierres, die blinde Wut des Volks, bleibt aber bei seiner Meinung über die Revolution: „Sie war unvermeidlich“. Unvermeidlich wird deshalb auch die Kündigung am preußischen Hof. Zwar hat der Musikchef seit drei Jahren bezahlten Urlaub, nun aber, Oktober 1794, wird er gefeuert, fristlos, ohne Abfindung, ohne Pension, hochverschuldet, da er nach Jahren als Pächter gerade erst sein geliebtes Gut Giebichenstein gekauft hat.

Als er in dieser Lage auch noch die Weimarer Dichterfürsten politisch kritisiert, blasen sie zum Gefecht gegen den „Cantor“, der „von der Orgel“ läuft und „pfuscht auf den Claven des Staats“. 76 Verse gegen den „Zeitschriftsteller“, das „Insekt“, den „Giebichensteiner“ erreichen das lesende Publikum. Jean Paul schreibt dazu: „Fürchterlich weh that es meinem Herzen, daß Goethe ein so nahes wie das des guten Reichardt durchlöchern konnte….“ Schiller aber hat den Besucher nie gemocht: „Ein unerträglich aufdringlicher und impertinenter Bursche, der sich in alles mischt und einem nicht vom Halse zu bringen ist.“

Es gibt etliche, denen er auf die Nerven fällt, ebensoviele schließen ihn ins Herz, manche, wie Goethe, mögen und meiden ihn abwechelnd. Wie war er? Man sieht wieder den kleinen Reichardt vor sich, den Überflieger aus der Unterschicht, jäh ins Licht geraten, Zutrauen und Zuversicht entwickelnd um so heftiger, als er nie sicher ist, auch oben zu bleiben. Einer, dessen Wunsch nach Nähe, bevorzugt zu illustren Zeitgenossen, wohl auch etwas Klammerndes hat, und dessen erkämpfter Stolz, das „hier stehe ich“, mal opportunistisch einsackt, und ihn mal taktlos in jedes Fettnäpfchen treten lässt. Eine wandelnde Sollbruchstelle. Und damit auch Symbolfigur der Wende ins 19. Jahrhundert, die den alternden Künstler hin und her schleudert.

1806 ruft er, patriotisch geworden, zu Geldspenden für Truppen gegen den Eroberer Napoleon auf, den Weltgeist zu Pferde. Mit dem Erfolg, dass dessen Truppen im Oktober sein Gut Giebichenstein plündern. Der Garten, ein weiteres Kunstwerk Reichardts, wird komplett verwüstet.

Sein letzter Posten ist ein jämmerliches Intermezzo als Generalmusikdirektor in Kassel unter der Ägide von Napoleons Bruder Jerome, der Reichardt bald auf eine „Dienstreise“ schickt und unterdessen Beethoven die Stelle anbietet. Dieser Mann ist es, der im März 1810, vier Jahre vor seinem Tod, bei Herrn von Knebel in Jena auftaucht. Das ist er, „der – der große Kapellmeister Reichardt!“ Knebel weiss nicht, wen er vor sich hat: den Propheten und das Opfer einer Epochenwende.

Dieser Text erschien in gekürzter Fassung zum 250. Geburtstag von Reichardt in der ZEIT vom 12.12.2002. Anlässlich des 200. Todestages am 27. Juni 2014 ist er hier in ganzer Länge zu lesen, Literatur seit 2002 wurde nicht berücksichtigt. Der Text ist urheberrechtlich geschützt.

Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen

Die Repressionen unter Hitler und Stalin haben für viele Komponisten und ihre Werke Folgen bis heute. Eine kurze Geschichte der verhinderten, verbotenen, verzögerten Musik

Nicht einmal Franz Kafka hätte so eine Situation ersinnen können. Ein wintertrüber Saal in Moskau, darin Tische mit jeweils vier Personen. Je drei davon sind Komponisten. Sie selbst müssen, einander denunzierend, eine Liste jener Kollegen aufstellen, die sie für „formalistisch“ halten. Damit sie sich Mühe geben, sitzt an jedem Tisch noch ein anonymer Herr und schreibt mit. Das ist die Sowjetunion des Genossen Josef Stalin im Januar 1948. Und was ist „formalistisch“? „Ablehnung der grundlegenden Richtlinien der Klassik, Propagierung der Atonalität, Dissonanz und Disharmonie, Verzicht auf so wichtige musikalische Momente wie die Melodie und stattdessen eine Vorliebe für chaotische und neurotische Klangverbindungen…“

Das ist jener Polemik sehr nah, die zehn Jahre zuvor zur Düsseldorfer Schau „Entartete Musik“ zu lesen war: „Wenn die größten Meister der Musik in der Tonalität (…) geschaffen haben, dann haben wir das Recht, diejenigen als Dilettanten und Scharlatane zu brandmarken, die diese Klanggrundgesetze über den Haufen schmeißen…“ Für uns diskreditieren sich solche Sätze von selbst, für die mit ihnen Gemeinten konnten sie in den totalitären Staaten existenzbedrohlich, ja lebensgefährlich werden. Das hat Folgen bis heute. Komponisten verbogen sich oder verstummten, fassten im Exil nicht mehr Fuß oder wurden ermordet – wobei die jüdischen Komponisten im „Dritten Reich“ dafür allerdings nicht erst gegen die „Tonalität“ freveln mussten.

Zensur gibt es, seit es Regierungen gibt, doch neben der umfassenden Repression der Komponisten unter Hitler und Stalin wirkt selbst das Konzil von Trient anno 1563 eher erfrischend. Das ihm folgende Verbot komplexer Kontrapunktik in der Sakralmusik ließ die Verzierungskunst aufblühen und beschädigte die Komponisten ebenso geringfügig wie das römische Opernverbot zu Anfang des18. Jahrhunderts oder die politischen Rücksichten, deretwegen unzählige Libretti umgeschrieben werden mussten. In vielen Fällen – etwa Mozarts „Figaro“ – konnte man musikalisch sogar thematisieren, was nicht gedruckt werden durfte. Doch mit dem Systemanspruch auf totale Kontrolle hielt die Angst Einzug ins heikle Innere des Komponierens.

Sommernachtsträume für Arier

Selbst die Geschichte brachte man zum Verstummen. Ab 1933 verschwand nach und nach die Musik von Felix Mendelssohn aus deutschen Programmen, auch seine Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ und das Violinkonzert. Es zeugt vom Format der Berliner Philharmoniker und ihres Dirigenten Wilhelm Furtwängler, dass sie noch 1934 den „Sommernachtstraum“ spielten, um Mendelssohns 125. Geburtstag zu feiern. Indessen waren mehr als 50 deutsche Komponisten, darunter Carl Orff, nur zu bereit, mit eigenen, arischen Sommernachtsträumen die Lücke zu schließen. Der so vorauseilende wie eigennützige Gehorsam von Künstlern ist ein besonders tristes Kapitel in der Geschichte unterdrückter Musik, das in allen Ländern geschrieben wird.

Die Moskauer Liste ist ein Schmuckstück dieses Kapitels. Als sie fertig war, standen ganz oben zwei Komponisten, deren Erfolg im Ausland bei den Kollegen den größten Neid erzeugte: Prokofjew und Schostakowitsch. Die Zensurbehörde erließ sodann „Befehl Nr.17“, der die Aufführung von rund vierzig Werken verbot – neben solchen der beiden Berühmten noch die von dreizehn weiteren Künstlern. Darunter war auch der 28-jährige, aus Polen stammende Mieczysław Weinberg, einer von vier jüdischen Komponisten auf der Liste. 1939 war er vor der Wehrmacht aus Warschau geflohen – andernfalls hätte er leicht das Schicksal der Komponisten Hans Krása, Viktor Ullmann, Pavel Haas und Gideon Klein geteilt, die alle in Ausschwitz ermordet wurden.

Als Schostakowitsch weinte

In der Sowjetunion fürchteten alle, gleich welcher Herkunft und Kunstauffassung, schon um ihr Leben, als 1936 die Zeit des „Großen Terrors“ begann, in der eineinhalb Millionen mutmaßlicher Feinde Stalins verhaftet wurden. Die Hälfte von ihnen kam um – darunter die Dichter Ossip Mandelstam und Isaak Babel -, die Hälfte kam ins Lager, und jeder Künstler, der irgendwie unangenehm aufgefallen war, rechnete mit dem Schlimmsten. Damals traf Dmitrij Schostakowitsch der erste schwere Schlag. Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ war nach ihrer Uraufführung 1934 ein internationaler Erfolg geworden. Am 26. Januar 1936 besuchte Stalin eine Vorstellung in Moskau, zwei Tage später erschien in der „Prawda“ der Artikel „Chaos statt Musik“.

„Schostakowitsch“, schreibt sein Biograph Krzsystof Meyer, „legte die Zeitung auf die Knie, senkte den Kopf, nahm die Brille ab und begann zu schluchzen wie ein Kind.“ Der Schmähtext über seine Oper war nicht unterzeichnet, drückte also die Meinung der Partei aus und glich nicht nur einem Berufsverbot, sondern auch der Androhung einer Verhaftung. Auf die war der Komponist spätestens 1937 nach der Hinrichtung des Generals Tuchatschewsky gefasst, zu dessen Freunden er zählte. Ein anderer Freund des Generals, der 57jährige Komponist Nikolaj Zilaev, wurde 1938 hingerichtet, sein jüngerer Kollege Alexander Mosolov ins Lager geschickt. Doch im Rückblick scheinen das Ausnahmen zu sein – anders als bei vielen Schriftstellern begnügte sich der Machtapparat bei den Komponisten damit, sie in Angst und Schrecken leben zu lassen.

Schostakowitsch hatte also, zynisch gesagt, schon Übung, als ihn 1948 das nächste Verdikt traf. Er leistete Abbitte und erklärte öffentlich, „dass die Partei recht hat, dass die Partei es gut mit mir meint und dass es meine Aufgabe ist, Wege zu suchen und zu finden, die mich zum sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen führen.“ Zudem schützte ihn sein internationales Renommée. Als ein amerikanischer Kongreß eine Delegation sowjetischer Komponisten einlud, rief Josef Stalin selbst Schostakowitsch an, befahl die Reise und wusste von keinem Musikverbot mehr: „Wir haben nichts dergleichen angeordnet.“ Eine jener Machtgesten, die blanke Willkür mit der Dankbarkeit der Davongekommenen nobilitieren und noch heute nicht aus der Mode sind.

Goebbels hebt etwas auf

In so etwas gefiel sich auch Joseph Goebbels. Am 9. Mai 1940 etwa schreibt der 42-jährige Propagandaminister und Leiter der Reichskulturkammer in sein Tagebuch: „Ich überarbeite die Liste der verbotenen Musik. Da ist von den Banausen etwas zu viel verboten worden. Ich hebe das auf.“ Neben der Selbstherrlichkeit eines Emporgekommenen wird da auch deutlich, dass die Kulturaustreibung nicht erst erfunden werden musste. Aus dem einst so aufgeschlossenen Leipzig etwa hatte man Hermann Scherchen, der als Dirigent eines neu gegründeten Orchesters für Mahler und Schönberg eintrat, schon 1922 weggeekelt, und als 1930 der innovative Opernchef Gustav Brecher hier „Mahagonny“ von Brecht und Weill uraufführte, kam es zum Tumult.

Es war eine Zeit, in der Ironie zunehmend durch Anführungsstrichel kenntlich gemacht werden musste. Man differenzierte nicht mehr. Daß Künstler auf der Bühne Verbrechen zum Thema machten, wurde in gespannter Zeit schon als Verherrlichung des Verbrechens verstanden. Die Bürger und ihre Presse brüllten vor Wut: „Unverhohlen übelste kommunistische Propaganda“. Doch Brechts Kritik an der Gesellschaft wurde von denen am militantesten abgelehnt, die zu den Benachteiligten zählten und gar nicht erst insTheater gingen. Vorm Leipziger Theater riefen Arbeitslose, die der „Sturmabteilung“ beigetreten waren, Hetzparolen und schwenkten blutbedeckte Fahnen. Aus Angst vor ähnlichen Skandalen sagten andere Bühnen „Mahagonny“ ab. Man gab nach.

Vor dieser Drohkulisse beginnt auch das Ende des Franz Schreker, seit „Der ferne Klang“ einer der meist gespielten Opernkomponisten der 1920er, genialer Sensualist, Lehrer etlicher Hochbegabter. Nicht politisch engagiert, nicht „atonaler“ als Richard Strauss, aber der Sohn eines Juden. NS-Terror bewog ihn 1932, die Freiburger Uraufführung seiner Oper „Christophorus“ abzusagen, im selben Jahr führte die nationalistische Wende an der Berliner Musikhochschule zu seinem Rücktritt als Direktor. 1933 musste er seine Meisterklasse aufgeben, mit 55 Jahren erlag der zutiefst Gedemütigte einem Schlaganfall. Sein vielleicht bester Schüler neben Ernst Krenek war da schon mitten im Steilstart abwürgt worden. Berthold Goldschmidt, 1932 mit der Oper „Der gewaltige Hahnrei“ in Mannheim gefeiert, floh nach London – und komponierte kaum noch.

Er zählt zu den vielen, die im Exil den kreativen Elan verloren oder mit ihrer musikalischen Sprache im Nachkriegseuropa keinen Anschluss fanden. Der Avantgarde der 60er Jahre und besonders Karlheinz Stockhausen warf Goldschmidt noch 1994 im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen „fast diktatorischen Einfluss“ vor. Freilich wäre es absurd, den Terror unter Stalin und Hitler mit der Auftragsvergabe von Rundfunksendern zu vergleichen, deren Redakteure fasziniert waren vom Heilsversprechen der Serialisten, von der Weiterentwicklung einer „enthierarchisierten“ Musik nach der Katastrophe. Stimmiger scheint der Vergleich, den John Rosselli 1999 im Musiklexikon Grove zog: in der Auftragsvergabe ähnele der Rundfunk den Monarchen des18. Jahrhunderts, deren ästhetische Vorlieben keine Zensur darstellten.

Dass ein avantgardistischer Konsens des Westens die Wiederentdeckung vieler, überwiegend jüdischer „Entarteter“ um Jahrzehnte verzögerte, bleibt aber ein großer Verlust. Zu denen, die man im Westen als regressive Harmoniker abtat, zählt auch Mieczysław Weinberg, der damit zwischen alle Stühle geriet. Die antisemitischen Tendenzen in der Sowjetunion spielten nicht nur mit, als ihn 1948 der erwähnte „Befehl Nr. 17“ traf. Wegen der unter Stalin inszenierten „Ärzteverschwörung“, deren Verfolgung vor allem den Juden galt, saß er 1953 im Gefängnis und kam nur durch den Tod Stalins frei; erst in den liberaleren Sechzigerjahren konnte er mit in Moskau Fuß fassen. Seine vom Förderer Schostakowitsch angeregte Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ scheiterte 1968 am Ende des Tauwetters. Dann wurde es lange still um ihn.

Funktionäre leben länger

In all den Jahrzehnten gibt es eine unheimliche Konstante. Es ist jener Mann, der schon 1948 Generalsekretär des Komponistenverbandes und scharfer Wortführer wider den „Formalismus“ war, der Schostakowitsch für seine Abbitte lobte, ein stilistisch blasser Komponist namens Tichon Chrennikow. 1913 geboren, stand er bis zum Ende der Sowjetunion an der Spitze desVerbandes. Er war Funktionär unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew und Gorbatschow. „In unserem Lande“, erklärte der Komponist Nikita Bogoslowski 1990, „gibt es keinen Menschen, der in einer ähnlichen Stellung länger ausgeharrt hätte.“ Chrennikow verkörpert gleichsam den Schatten, den die Repressionen der totalitären Systeme bis in unsere Tage werfen.

So konnte es erst zwei Tage vor dem Ende der Sowjetunion, am 19. Dezember 1991, zur konzertanten Uraufführung von „Der Idiot“ in Moskau kommen, Weinbergs 1986 entstandener, letzter Oper. Weitaus später, 2013, wurde sie in Mannheim szenisch uraufgeführt – ein wunderbares Werk kam zutage. Wie hier ein durchgereifter Fundus zu einer leuchtend unverbrauchten Sprache wächst, zum Kosmos eines klingenden Romans, das ist ein Triumph über all die politischen, ästhetischen, rassistischen Ideologien, über alle Eingriffe in die Kreativität, denen Weinberg ausgesetzt war. Seine Oper über einen, dessen Glaube an Liebe und Schönheit ihn einsam macht, lässt an all die Werke anderer denken, die ungeschrieben blieben, weil Komponisten dem Druck oder der Einsamkeit nicht gewachsen waren – oder das Leben verloren.

Geraubte Musik – sechs Nahaufnahmen

1. Eislers „Faustus“ – Wie die DDR eine Oper abwürgte

Eigentlich glaubte Hanns Eisler nach langer Odyssee in den USA Fuß gefasst zu haben. Doch im September 1947 wurde er nach Verhören als „Kommunist“ des Landes verwiesen. So zog er nach Ost-Berlin und komponierte der jungen DDR ihre Hymne. Zugleich artikulierte er in seinem Libretto zur Oper „Johann Faustus“ die kritische Haltung des Remigranten (und eines Juden im „neuen“ Deutschland) so abgründig, dialektisch, so „wunderartig-merkwürdig“ (Thomas Mann) und goethefern, dass den Kunstlenkern der Partei mulmig wurde. Im Mai 1953 wurde Eisler zwar nicht zum Verhör gebeten, aber die Diskussionen in der Akademie der Künste wurden von Funktionären wie Alexander Abusch ideologisch geführt. Auch die Unterstützung Bert Brechts half nichts, während Staatsdichter Johannes R. Becher beredt schwieg. Nach 2200 Blätter mit Entwürfen gab Eiser auf. Seine einzige Oper blieb unkomponiert – und damit ein Werk, das noch heute zu den eigenwilligsten, engagiertesten des Genres zählen würde.

2. 70 Jahre verspätet – Schrekers „Christophorus“

Schon 1930 hatten Anhänger der Nationalsozialisten die Leipziger Uraufführung von Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ massiv gestört. Sie hatten auch den „Halbjuden“ Franz Schreker im Visier, einen der erfolgreichsten Opernkomponisten der Weimarer Republik, Meister erotisch oszillierender Spannungsfelder. Wie schon in „Der ferne Klang“ machte er auch in „Christzophorus“ einen Komponisten zur Hauptfigur. Vor der für 1933 geplanten Uraufführung in Freiburg zog er die 1928 vollendete Oper aus Angst vor Tumulten zurück – erst 1978 wurde sie in Freiburg szenisch, aber gekürzt aus der Taufe gehoben. Vollständig hat den „Christophorus“ dann Kirsten Harms in ihrem legendären Kieler Schreker-Zyklus 2002 rehabilitiert. Neben der szenischen Qualität setzte auch das musikalische Niveau dieser Produktion Maßstäbe. Wer die Gesamtaufnahme mit den Kieler Philharmonikern unter Ulrich Windfuhr hört (die bei cpo und auf youtube verfügbar ist), muss sich fragen, warum sich seitdem kein Haus wieder an diese Partitur gewagt hat, in der Schreker seine schimmernden Seelengewebe in eine härtere Textur überführt.

3. Der Tod macht Pause – Ullmanns Oper aus dem KZ

Aus dem Durchgangslager Theresienstadt schickten die Nazis 90000 Menschen in den Tod, meist nach Auschwitz, wo 1944 auch der Komponist Viktor Ullmann, 1898 geboren, umkam. Aus Stuttgart nach Prag geflohen, musste er 1942 nach Theresienstadt und schrieb dort Stücke für mitinhaftierte Musiker, auch die Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“. Im Libretto des Mitinhaftierten Peter Kein stoppt der Tod selbst den tötungswütigen Kaiser Overall, indem er niemanden mehr sterben lässt. Die Anspielungen auf die Gegenwart werden in der Musik noch sarkastisch angeschärft, doch der Einakter mit sieben Solisten wurde als „Freizeitgestaltung“ tatsächlich geprobt. Die Uraufführung fand erst 1989 in Berlin statt, es folgte die Einspielung für die legendäre Decca-Reihe „Entartete Musik“. Seitdem ist Ullmann auch in Kammermusik und Liedern als eindringlicher Komponist entdeckt worden. Seine Oper aus Theresienstadt belegt einen kreativen Elan, der angesichts der gesamten Situation unfassbar ist. Dass Ullmann diese Situation realistisch einschätzte, ist im „Kaiser“ durchaus zu hören.

4. Des Widerspenstigen Zähmung – warum Mosolov erlosch

Seine „Eisengießerei“ für Orchester von 1926 ist Legende, in ihrem Schatten steht ein Gebrochener. Alexander Mosolov zählte zu den jungen Wilden der sowjetischen 20er Jahre, auf einer Höhe mit der Pariser Szene. Radikaler als Antheil und Honegger war er in seiner Maschinenmusik , durchtrieben und scharf in Liedern wie „Vier Zeitungsannoncen“. Doch dann warf man ihn gleich zweimal aus der Bahn. 1930 war er den Antimodernisten der „Russischen Assoziation Proletarischer Musiker“ im Weg, die (von der Regierung unabhängig) die Uraufführung seiner Oper „Der Staudamm“ kippten und Mosolov aus seiner Stelle beim Rundfunk vertrieben. Als 1932 Stalin eine kurze Liberalisierung gewährte, war Mosolov schon angeschlagen und übte sich in Folklorismus. 1937 folgte einer Verleumdung seine Verurteilung zu Lagerarbeit und dem Entzugs des Wohnrechts in Moskau, Leningrad und Kiew. Wer sich die folklorisierte Sowjetromantik anhört, die Mosolov danach noch komponierte, blickt in einen erloschenen Vulkan.

5. Brauner Schatten – Schumanns Violinkonzert

Als im „Dritten Reich“ ein Ersatz für das verbotene Violinkonzert von Felix Mendelsohn gebraucht wurde, verfiel man auf das nie aufgeführte Konzert von Robert Schumann (1853). Es weist der Violine eine völlig neue Rolle zu. Sie bewegt sich wie ein mal in erster, mal in dritter Person agierender Erzähler, oft in tiefen Lagen spielend, die Entdeckung des Subjekts schon mit dessen Brechung verbindend. Wohl deswegen hielten Clara Schumann und Joseph Joachim es für schon vom Wahnsinn getrübt und unterdrückten es. Als es 1937 bei Schott herauskam, hielt der Geiger Georg Kulenkampff Korrekturen für nötig, für die sich (anonym, da von den Nazis verpönt) Paul Hindemith hergab. So verzerrt erlebte das Werk seine Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern bei einem „Kraft durch Freude“-Konzert am 26. November 1937. Der Musik hat der braune Schatten schwer geschadet. Sie wird erst jetzt weitgehend auf einem Niveau rezipiert, das Yehudi Menuhin ebenfalls 1937 erkannte: Er spielte sie zehn Tage nach Kulenkampff in Philadelphia – und zwar im Original.

6. Unheilbare Wunden – Prokofjews Sechste Sinfonie

Für seine fünfte Sinfonie in B-Dur erhielt Sergej Prokofjew 1946 den Stalinpreis erster Klasse. Seine sechste Sinfonie in es-Moll wurde am 11. Oktober 1947 uraufgeführt, das Publikum in Leningrad tobte vor Begeisterung. Vier Monate später steht das Werk auf der Verbotsliste, die am 14. Februar 1948 in Kraft tritt und den gesundheitlich angeschlagenen 56-jährigen härter trifft als den jüngeren Schostakowitsch. In den drei Sätzen der Sechsten werden mit hartem Duktus und harten Farben „unheilbare Wunden“ (Prokofjew) gezeigt, die heutigen Konzertveranstaltern offenbar ähnlich unangenehm sind wie den Formalismusjägern, die dieses opus 111 vom Podium verbannten – man spielt das Werk weitaus seltener als die zwar meisterhafte, aber unverbindlich staatstragende Fünfte. Eine noch tiefere Tragik steckt hinter der geringen Präsenz der Siebten: dem harmlosen Stück, 1952 vorgelegt, merkt man die künstlerische Vernichtung, das innere Verstummen an, dem ein früher Tod folgte: der Komponist starb mit 61 Jahren am selben Tag wie Josef Stalin.

Diese Texte erschienen im März 2014 in „128 – das Magazin der Berliner Philharmoniker“ zum Schwerpunkt „Geraubte Musik“ und sind urheberrechtlich geschützt

Staunen, weinen, brüllen

In einer Zeit politischer und technischer Revolutionen schuf er Europas erste Blockbuster: Vor 150 Jahren starb Giacomo Meyerbeer, der Meister der Grand´Opéra.

Sie betraten die Rue Caumartin, als plötzlich hinter ihnen ein Geräusch hörbar wurde wie das Krachen eines ungeheuren Stückes Seide, das zerfetzt wird. Es war die Schießerei am Boulevard des Capucines.” So beschreibt Gustave Flaubert den Abend des 23. Februar 1848 in Paris, den Auftakt einer Revolution, die ganz Europa erfassen sollte. Zeitgleich mit dem Schriftsteller ist auch ein berühmter Komponist unterwegs in der Metropole: Er hat morgens “mit ziemlich gutem Erfolg an der Predigt im 1. Akt gearbeitet” und “den übrigen Teil des Tages auf der Straße zugebracht, den Gang der Unruhen zu beobachten”.

Was dann untergeht, zerfetzt wie ein Stück Seide, ist das Regime des Louis-Philippe, den die Bürger im Juli 1830 selbst an die Macht gebracht haben. Der “Bürgerkönig” hat das Land modernisiert und dem Kapitalismus zum Durchbruch verholfen, wovon auch viele Künstler profitierten. Giacomo Meyerbeer, größter Opernmacher der Epoche, erwarb nach 1830 wesentliche Teile seines Vermögens, das am Ende viereinhalb Millionen Franc umfasste – gut dreißig Millionen Euro.

In jenem Februar 1848 nun nimmt seine Revolutionsoper Le prophète letzte Gestalt an. Mit katastrophalem Ende, Massenaufstand, brennendem Palast und einem Helden, der scheitert. Zwar liegt die Handlung 300 Jahre zurück, und es sind nicht französische Demokraten, die da kämpfen, sondern holländische Wiedertäufer. Doch einmal mehr trifft Meyerbeer den Nerv der Zeit. Der Prophet wird 1849 ein rasender Erfolg, tausendfach gespielt wie auch Die Hugenotten von 1836 und Robert der Teufel von 1831. Goethe träumt von einer Faust-Oper aus Meyerbeers Feder, und den jungen Kritiker Eduard Hanslick beeindruckt er mehr als Mozart.

Heute dagegen, 150 Jahre nach seinem Tod am 2. Mai 1864, trägt jede der wenigen Produktionen seiner Werke und jedes Buch über ihn den tristen Stempel “Zu Unrecht vergessen”. Dass seine Opern über Jahrzehnte abgetan wurden – auch aus antisemitischen Gründen –, hat viele Rehabilitationsversuche motiviert. Zumindest das Mitleid der Nachgeborenen aber hat Meyerbeer nicht nötig. Selbst posthum hat er exakt das erreicht, was er wollte: dass “die fünf französischen Opern, die ich komponiert habe, auf dem Repertoire aller Theater der Welt und ein halbes Jahrhundert hindurch nach meinem Tode” erhalten bleiben sollten. Er war bahnbrechend, und er spiegelt seine Zeit so vollendet, dass wir auch unsere schon in ihr beginnen sehen.

Am 5. September 1791 kommt Jacob Liebmann Meyer Beer zur Welt, auf einer preußischen Poststation zwischen Berlin und Frankfurt an der Oder, drei Monate vor Mozarts Tod und zwei Jahre bevor Ludwig XVI. der Kopf abgeschlagen wird. Als Meyerbeer mit 72 Jahren stirbt, umspannen 40.000 Kilometer Eisenbahnschienen den Planeten, und Frankreich hat seine Zweite Republik, die 1848 begann, schon wieder hinter sich. Es ist eine Epoche beschleunigter Umwälzungen, technisch, industriell, politisch. Und mittendrin steht der aufwendigste Seismograf, den Europa zu bieten hat: die Pariser Opéra.

Dass er sie geradezu personifizieren wird, ist keineswegs früh abzusehen. Meyer, wie ihn seine Mutter am liebsten nennt, ist, wie nach ihm Felix Mendelssohn, ein Kind jener bildungsorientierten jüdischen Familien Berlins, die mit Geist und Kultur um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. Der Sohn eines Zuckerfabrikanten und einer Bankierstochter bekommt Privatunterricht. Mit neun Jahren tritt er öffentlich als Pianist auf. Ein Rezensent lobt den “Judenknaben”. Doch ein Wunderkind ist Meyer nicht, der Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter ist qualvoll. Erst der Wechsel zu einem Kapellmeister der Berliner Oper bringt den Jungen in die Spur. Mit 19 Jahren will er es dann wirklich wissen: Er lernt nun in Darmstadt Komposition beim Abbé Vogler, einem etwas verschrobenen Guru.

Bald nabelt er sich ab, freilich wohlversehen mit elterlichem Geld, und geht 1813 auf Reisen. Auf dem Weg nach Wien verführt er drei Frauen und gerät in die Nähe der Weltgeschichte: Napoleon, der durch seinen Code Civil für die deutschen Juden eher Befreier als Feind war, ist besiegt. In der österreichischen Hauptstadt feiert man die Niederlage des Franzosen mit einer Aufführung von Beethovens Wellingtons Sieg, vom tauben Titanen selbst dirigiert. Klaviervirtuose Johann Nepomuk Hummel schlägt die eine große Trommel, an die andere stellt man Meyerbeer, wie er sich inzwischen nennt. Doch der 22-Jährige verpatzt seinen Einsatz und wird krank vor Scham. Unter dröhnendem Gelächter erzählt Beethoven später, er habe ihn “tüchtig heruntermachen” müssen. “Es ist nichts mit ihm; er hat keinen Muth, darein zu schlagen.”

Paris ist ein Kessel, der für alles Neue wie ein Katalysator wirkt

Tatsächlich ist Meyerbeer kein lauter Kerl. Er ist extrem selbstkritisch, leicht zu verunsichern, “ein ängstliches Genie”, wie Heinrich Heine schreiben wird – zugleich aber geschliffen im Umgang, Deutsch, Französisch und Italienisch geschmeidig beherrschend, und weitaus hartnäckiger und strategischer, als man ihm zutraut. Was er zwischen 1817 und 1824 in Italien auf die Beine stellt, wirkt, als folge er einem Masterplan.

Für seine erste italienische Oper, Romilda, bezahlt er einen Starlibrettisten und subventioniert die Uraufführung am progressiven Opernhaus von Padua. Das Sujet, so erklärt es das Autorenpaar Döhring in seiner neuen Meyerbeer-Biografie, entspricht jenen Geschichten von Befreiung und Sieg der Gerechtigkeit, wie sie seit dem Sturm auf die Bastille in ganz Europa beliebt sind. Das Werk, das dramatische Szenen mit vokalen Höchstleistungen verbindet, hat Erfolg. Als man es in Venedig unzulänglich nachspielt, verweigert der 26-Jährige seine Anwesenheit. Schon jetzt ist er der Perfektionist, der später eher eine Konventionalstrafe zahlt, als auf die Idealbesetzung einer Rolle zu verzichten.

Er macht aus Jacob Giacomo und schreibt für Italien fünf Opern, in denen er Stilmittel von Mozart bis Rossini übernimmt und modernisiert. Jähe Gegenüberstellungen von Solisten und Chören, szenisches Denken bis in die Harmonik, exotische Klangfarben für exotische Schauplätze: fünf Klarinetten über tiefem Blech für die Ägypter seines Crociato in Egitto (Der Kreuzritter in Ägypten). Jede Handbewegung schreibt er vor, um die Wirkung zu steigern. Als unique selling point besetzt er den Helden mit dem letzten der Kastraten; fürs schlichte Gemüt lässt er ein Kind auftreten. “Welch letztes Schluchzen: addio!”, schreibt er seinem Librettisten fast ironisch zu einer rührenden Passage. Die Uraufführung in Venedig 1824 gerät zum Triumph.

Damit ist Meyerbeer reif für Paris. Gioacchino Rossini holt seinen Bewunderer, der ihn in Italien überholt hat, ans Théâtre Italien, eines der vier Opernhäuser der Metropole. Schon damals drängen sich in Paris auf einer Fläche von der Größe des heutigen Schweinfurt bald eine Million Menschen. Ein Kessel, der für alles Neue wie ein Katalysator wirkt.

Nachdem Rossini den Kreuzritter zum Erfolg dirigiert hat, bestellt das größte Haus, die Académie mit ihren 2.000 Plätzen, ein Werk, für das sich der Shootingstar mit Eugène Scribe zusammentut, dem erfolgreichsten Theaterautor Frankreichs. Das Ergebnis ist Robert le Diable, ein Schauermärchen um einen Herzog zwischen Himmel und Hölle. In dieser Oper erleben die Pariser 1831 erstmals dimmbares Gaslicht, und das Bühnenbild wirkt so realistisch, dass der Kritiker von La France in “mentales Chaos” gerät durch die Vereinigung klanglicher und visueller Effekte. Das Orchester begleitet nicht mehr, es redet mit. Nie gehörte Farbmischungen beschwören Atmosphäre, die Nummernoper neigt sich zum Musikdrama. Selbst nach 230 Vorstellungen berichtet Richard Wagner noch von der “fast unheimlichen Bewandnis”, die es mit diesem Werk habe. Und Honoré de Balzac baut daraus seine Novelle Gambara.

Da die Uraufführung nach der Julirevolution stattfindet, sieht Heinrich Heine 1831 auch politische Gründe für den Erfolg: “Der Sohn eines Teufels wird vom Geiste seines Vaters zum Bösen, zur Revolution, und vom Geiste seiner Mutter zum Guten, zum alten Regime, hingezogen, er schwebt in der Mitte, er ist Justemilieu …”
Im selben Jahr, 1831, präsentiert Eugène Delacroix sein Bild Die Freiheit führt das Volk. Eine vergleichbare Verbindung von großem Tableau und journalistischer Nähe zur Gegenwart erleben die Pariser 1836 auch auf der Opernbühne. Diesmal zeigen Meyerbeer und Scribe blutigste französische Geschichte – die Pariser Bartholomäusnacht von 1572, das Massaker der Katholiken an den protestantischen Hugenotten. Schon der Beginn ist visuell komponiert: Der Luther-Choral Ein feste Burg wird stilistisch in die Gegenwart gezoomt.

Drei Stunden vor der Premiere schreibt der 44-jährige Komponist seiner jungen Frau Minna, dem “Abgott meiner Seele”: “Von tausend Zweifeln und Angst gepeinigt, nehme ich meine Zuflucht zu Dir, meine Einzige. Dein geliebtes zartes Bild, das unsres himmlischen Kindes will ich mir lebhaft vor die Seele führen”. Er wünscht sich “einen ordentlichen Success”.

Es wird ein außerordentlicher. An der Theaterkasse müssen Wachen aufgestellt werden, um den Andrang zu zügeln, der Musikverleger Schlesinger zahlt dem Komponisten für die Verlagsrechte 24.000 Franc, was dem doppelten Jahresgehalt des Operndirektors entspricht. Freilich spülen 241 Aufführungen in 18 Jahren dem Haus dann auch 1,7 Millionen Franc in die Kasse. Wozu Heinrich Heine giftig anmerkt, dass sein Landsmann – immerhin Erfinder der Pressekonferenz vor Premieren – auch ein Meister des Marketing sei: “Er nickt mit dem Haupte, und alle Posaunen der großen Journale ertönen unisono.”

Der Komponist rangiert nun über den anderen Stars der Szene, über Jacques Fromental Halévy und Daniel Auber. Rossini hat das Opernschreiben aufgegeben und widmet sich den Tafelfreuden, gern zusammen mit dem Gleichaltrigen, der ein so beliebter wie diskreter Gastgeber ist. Skandale bietet er keine, nicht einmal die Schriftstellerbrüder Goncourt finden an ihm etwas für ihr Tagebuch. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus nimmt an, dass Meyerbeer aus Vorsicht verschwiegen war, hat er den Antisemitismus seiner Zeitgenossen doch oft zu spüren bekommen. Das Wort richesse, schreibt er bereits 1818 an seinen Bruder, könne “von Individuum zu Individuum für eine Zeitlang in Vergessenheit gerathen [...], bei einem versammelten Publikum nie”.

Wagner diffamiert sein Vorbild Meyerbeer in antisemitischen Schriften

Das bewahrheitet sich krachend durch einen Komponisten, der sich ihm 1840 als “redlicher, treuer Sclave” andient. Meyerbeer liest die mitgebrachte Partitur des Unbekannten, gibt ihm ein Empfehlungsschreiben an den Operndirektor mit und überweist ihm – “der junge Mann interessiert mich” – so viel Geld, dass der noch Jahre später bekennt: “Ohne Meyerbeers Hülfe hätten wir verhungern können.” Der junge Unbekannte ist Richard Wagner, der 1850 in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik “jenen berühmten Opernkomponisten”, dessen Namen er nicht nennt, als Beispiel für die “nachäffende Sprache unserer jüdischen Musikmacher” denunziert.

Wagner veröffentlicht sein Pamphlet unter Pseudonym, aber auch sonst hätte er in Deutschland nichts riskiert. 1836 schreibt Meyerbeer an Minna, dass in seiner Vaterstadt Berlin “die Judenverfolgungen” seitens der Behörden “wieder ihren Gang” nähmen. Trotzdem vertraut er seinem Bewunderer Alexander von Humboldt, dem wohl hellsten Kopf seiner Zeit, der ihn dem preußischen König als Generalmusikdirektor empfiehlt.

Von 1842 an pendelt Meyerbeer zwischen zwei Welten: dem brodelnden Paris und dem verschwiemelten Berliner Hof, wo man mit hundert Jahren Verspätung aristokratische Kostümfeste gibt, für die der Star Fackeltanzmusiken liefert. Unterdessen leuchten an der Seine die ersten elektrischen Straßenlaternen, dampfgetriebene Zylinderdruckpressen jagen mit 7.000 Blatt pro Stunde die Auflagen der Zeitungen hoch. Und man wartet auf den angekündigten Propheten.

Wie immer stimmt Meyerbeer Komposition und Casting aufeinander ab, und seitdem er die Mezzosopranistin Pauline Viardot erlebt hat, reizt ihn das Wagnis, gegen alle Gepflogenheiten auf eine tragende Sopranrolle zu verzichten. Nur Viardot konnte die verzweifelte Mutter jenes Jean sein, den die revolutionären Wiedertäufer an ihre Spitze setzen! Doch da Operndirektor Léon Pillet seine Geliebte für diese Rolle durchsetzen will, legt der Komponist das Stück einfach auf Eis, bis der Widersacher seinen Job verliert – und kurz nach ihm auch der “Bürgerkönig” Louis-Philippe.

Als das Werk am 16. April 1849 uraufgeführt wird, ist die Deputiertenversammlung im Pariser Palais Bourbon nicht zur Abstimmung fähig – die meisten Abgeordneten sitzen in der Oper. Das Publikum staunt, weint, brüllt. Es staunt über eine elektrische Bühnensonne, über ein Schlittschuhballett, über ein Gewölbe, das wie der megalomane Tunnelalbtraum eines Eisenbahnreisenden wirkt. Es weint über eine Mutter, die von ihrem Sohn verleugnet wird. Es brüllt nach dem Komponisten, dessen Kollege Hector Berlioz berichtet, der Erfolg sei “von Anfang an ungeheuer und ohnegleichen” gewesen.

Binnen zwei Jahren wird das Stück auf vierzig europäischen Bühnen gespielt, allein in Paris hundertmal. Im Februar 1850 ist dort Richard Wagner mit dabei. “Kommt das genie und wirft uns in andere bahnen, so folgt ein begeisterter gern überall hin”, schreibt er einem skeptischen Freund und nennt den Abend eine “offenbarung”. Ein halbes Jahr später erscheint sein Judenthum, und mehrfach legt er noch nach. Er kann dem Pionier nicht verzeihen, dass er ihn auf den Weg gebracht hat – zur Instrumentation, zum Musikdrama, zum Gesamtkunstwerk, das alle Sinne überwältigt. Er verleugnet den Vater, aber töten kann er ihn nicht.

So ist es auch nicht der Antisemitismus seiner Neider, der Meyerbeers Nachruhm begrenzt. Das Genre der Grand´Opéra selbst überlebt sich. Nach der Supernova des Propheten sinkt die Illusionsmaschine in der “Hauptstadt des 19. Jahrhunderts”, wie Walter Benjamin sie später nennt, in sich zusammen. Stile und Genres aus Italien, Deutschland, Frankreich zu vermischen, wie es schon Händel und Mozart taten, kommt mit dem wachsenden Nationalismus aus der Mode. Zudem bringt gerade die optische Perfektion der Inszenierungen die Musik an ihre Grenzen. Schon 1839, als für eine Oper von Flotow das Katastrophengemälde Das Floß der Medusa nachgestellt wird, schreibt ein Kritiker: “Jedes gesungene Wort vermindert den Schrecken.”

Meyerbeer hat diese Kluft noch lange schließen können, weil er die optische Konzeption selbst vorantrieb, ins Komponieren integrierte und Vokalpartien von größter Spannung schrieb. Seine Helden waren, wie bei Balzac, definiert durch ihre Funktion innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges, nicht psychologisch ausgeforscht wie später bei Verdi oder ins Symbolische erhoben wie bei Wagner. Zwischen Individuum und Masse entfaltete sich das Spektakel, in dem die Musik auch etwas von einem Soundtrack hatte. Ihre größte Wirkung konnten diese Opern, wie später Hollywoods Blockbuster, nur auf der Höhe ihrer Zeit entfalten – und die beschleunigte sich zusehends.

Mit den Begriffen des Theaters schildert der Feuilletonist Benjamin Gastineau damals den Rausch einer Bahnreise: “Die Dampfkraft, dieser machtvolle Maschinist, verschlingt einen Raum von 15 Meilen pro Stunde und reißt dabei die Kulissen und Dekorationen mit sich; sie verändert in jedem Augenblick den Blickpunkt.” Erst das Kino sollte diese Erfahrung künstlerisch wieder einholen. Die Fotografie stellte derweil die größten Maler in den Schatten: In Paris gründet Nadar sein Atelier, wo sich 1859 auch Giacomo Meyerbeer porträtieren lässt.

Er sieht müde aus, wie er da sitzt in seinem Gehrock, die hohe Stirn nur noch knapp gerahmt von dunklen Locken. Der wie immer fest geschlossene Mund verrät keinen Trotz mehr, eher Bitterkeit. Als Meyerbeer fünf Jahre später stirbt, wird die riesige Halle des im Bau befindlichen Gare du Nord zum Finalbild einer Grand Opéra. Wie eine gewaltige Lokomotive ohne Räder erhebt sich der Sarg auf stufigem Katafalk in eine Höhe von sieben Metern – im Zentrum der Beschleunigung wird Meyerbeer zum Monument, ehe seine letzte Reise nach Berlin beginnt. Doch was er in Bewegung gesetzt hat, steht bis heute nicht still.

Der Text erschien am 24.4.2014 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt