Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen

Die Repressionen unter Hitler und Stalin haben für viele Komponisten und ihre Werke Folgen bis heute. Eine kurze Geschichte der verhinderten, verbotenen, verzögerten Musik

Nicht einmal Franz Kafka hätte so eine Situation ersinnen können. Ein wintertrüber Saal in Moskau, darin Tische mit jeweils vier Personen. Je drei davon sind Komponisten. Sie selbst müssen, einander denunzierend, eine Liste jener Kollegen aufstellen, die sie für „formalistisch“ halten. Damit sie sich Mühe geben, sitzt an jedem Tisch noch ein anonymer Herr und schreibt mit. Das ist die Sowjetunion des Genossen Josef Stalin im Januar 1948. Und was ist „formalistisch“? „Ablehnung der grundlegenden Richtlinien der Klassik, Propagierung der Atonalität, Dissonanz und Disharmonie, Verzicht auf so wichtige musikalische Momente wie die Melodie und stattdessen eine Vorliebe für chaotische und neurotische Klangverbindungen…“

Das ist jener Polemik sehr nah, die zehn Jahre zuvor zur Düsseldorfer Schau „Entartete Musik“ zu lesen war: „Wenn die größten Meister der Musik in der Tonalität (…) geschaffen haben, dann haben wir das Recht, diejenigen als Dilettanten und Scharlatane zu brandmarken, die diese Klanggrundgesetze über den Haufen schmeißen…“ Für uns diskreditieren sich solche Sätze von selbst, für die mit ihnen Gemeinten konnten sie in den totalitären Staaten existenzbedrohlich, ja lebensgefährlich werden. Das hat Folgen bis heute. Komponisten verbogen sich oder verstummten, fassten im Exil nicht mehr Fuß oder wurden ermordet – wobei die jüdischen Komponisten im „Dritten Reich“ dafür allerdings nicht erst gegen die „Tonalität“ freveln mussten.

Zensur gibt es, seit es Regierungen gibt, doch neben der umfassenden Repression der Komponisten unter Hitler und Stalin wirkt selbst das Konzil von Trient anno 1563 eher erfrischend. Das ihm folgende Verbot komplexer Kontrapunktik in der Sakralmusik ließ die Verzierungskunst aufblühen und beschädigte die Komponisten ebenso geringfügig wie das römische Opernverbot zu Anfang des18. Jahrhunderts oder die politischen Rücksichten, deretwegen unzählige Libretti umgeschrieben werden mussten. In vielen Fällen – etwa Mozarts „Figaro“ – konnte man musikalisch sogar thematisieren, was nicht gedruckt werden durfte. Doch mit dem Systemanspruch auf totale Kontrolle hielt die Angst Einzug ins heikle Innere des Komponierens.

Sommernachtsträume für Arier

Selbst die Geschichte brachte man zum Verstummen. Ab 1933 verschwand nach und nach die Musik von Felix Mendelssohn aus deutschen Programmen, auch seine Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ und das Violinkonzert. Es zeugt vom Format der Berliner Philharmoniker und ihres Dirigenten Wilhelm Furtwängler, dass sie noch 1934 den „Sommernachtstraum“ spielten, um Mendelssohns 125. Geburtstag zu feiern. Indessen waren mehr als 50 deutsche Komponisten, darunter Carl Orff, nur zu bereit, mit eigenen, arischen Sommernachtsträumen die Lücke zu schließen. Der so vorauseilende wie eigennützige Gehorsam von Künstlern ist ein besonders tristes Kapitel in der Geschichte unterdrückter Musik, das in allen Ländern geschrieben wird.

Die Moskauer Liste ist ein Schmuckstück dieses Kapitels. Als sie fertig war, standen ganz oben zwei Komponisten, deren Erfolg im Ausland bei den Kollegen den größten Neid erzeugte: Prokofjew und Schostakowitsch. Die Zensurbehörde erließ sodann „Befehl Nr.17“, der die Aufführung von rund vierzig Werken verbot – neben solchen der beiden Berühmten noch die von dreizehn weiteren Künstlern. Darunter war auch der 28-jährige, aus Polen stammende Mieczysław Weinberg, einer von vier jüdischen Komponisten auf der Liste. 1939 war er vor der Wehrmacht aus Warschau geflohen – andernfalls hätte er leicht das Schicksal der Komponisten Hans Krása, Viktor Ullmann, Pavel Haas und Gideon Klein geteilt, die alle in Ausschwitz ermordet wurden.

Als Schostakowitsch weinte

In der Sowjetunion fürchteten alle, gleich welcher Herkunft und Kunstauffassung, schon um ihr Leben, als 1936 die Zeit des „Großen Terrors“ begann, in der eineinhalb Millionen mutmaßlicher Feinde Stalins verhaftet wurden. Die Hälfte von ihnen kam um – darunter die Dichter Ossip Mandelstam und Isaak Babel -, die Hälfte kam ins Lager, und jeder Künstler, der irgendwie unangenehm aufgefallen war, rechnete mit dem Schlimmsten. Damals traf Dmitrij Schostakowitsch der erste schwere Schlag. Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ war nach ihrer Uraufführung 1934 ein internationaler Erfolg geworden. Am 26. Januar 1936 besuchte Stalin eine Vorstellung in Moskau, zwei Tage später erschien in der „Prawda“ der Artikel „Chaos statt Musik“.

„Schostakowitsch“, schreibt sein Biograph Krzsystof Meyer, „legte die Zeitung auf die Knie, senkte den Kopf, nahm die Brille ab und begann zu schluchzen wie ein Kind.“ Der Schmähtext über seine Oper war nicht unterzeichnet, drückte also die Meinung der Partei aus und glich nicht nur einem Berufsverbot, sondern auch der Androhung einer Verhaftung. Auf die war der Komponist spätestens 1937 nach der Hinrichtung des Generals Tuchatschewsky gefasst, zu dessen Freunden er zählte. Ein anderer Freund des Generals, der 57jährige Komponist Nikolaj Zilaev, wurde 1938 hingerichtet, sein jüngerer Kollege Alexander Mosolov ins Lager geschickt. Doch im Rückblick scheinen das Ausnahmen zu sein – anders als bei vielen Schriftstellern begnügte sich der Machtapparat bei den Komponisten damit, sie in Angst und Schrecken leben zu lassen.

Schostakowitsch hatte also, zynisch gesagt, schon Übung, als ihn 1948 das nächste Verdikt traf. Er leistete Abbitte und erklärte öffentlich, „dass die Partei recht hat, dass die Partei es gut mit mir meint und dass es meine Aufgabe ist, Wege zu suchen und zu finden, die mich zum sozialistischen, realistischen und volksnahen Schaffen führen.“ Zudem schützte ihn sein internationales Renommée. Als ein amerikanischer Kongreß eine Delegation sowjetischer Komponisten einlud, rief Josef Stalin selbst Schostakowitsch an, befahl die Reise und wusste von keinem Musikverbot mehr: „Wir haben nichts dergleichen angeordnet.“ Eine jener Machtgesten, die blanke Willkür mit der Dankbarkeit der Davongekommenen nobilitieren und noch heute nicht aus der Mode sind.

Goebbels hebt etwas auf

In so etwas gefiel sich auch Joseph Goebbels. Am 9. Mai 1940 etwa schreibt der 42-jährige Propagandaminister und Leiter der Reichskulturkammer in sein Tagebuch: „Ich überarbeite die Liste der verbotenen Musik. Da ist von den Banausen etwas zu viel verboten worden. Ich hebe das auf.“ Neben der Selbstherrlichkeit eines Emporgekommenen wird da auch deutlich, dass die Kulturaustreibung nicht erst erfunden werden musste. Aus dem einst so aufgeschlossenen Leipzig etwa hatte man Hermann Scherchen, der als Dirigent eines neu gegründeten Orchesters für Mahler und Schönberg eintrat, schon 1922 weggeekelt, und als 1930 der innovative Opernchef Gustav Brecher hier „Mahagonny“ von Brecht und Weill uraufführte, kam es zum Tumult.

Es war eine Zeit, in der Ironie zunehmend durch Anführungsstrichel kenntlich gemacht werden musste. Man differenzierte nicht mehr. Daß Künstler auf der Bühne Verbrechen zum Thema machten, wurde in gespannter Zeit schon als Verherrlichung des Verbrechens verstanden. Die Bürger und ihre Presse brüllten vor Wut: „Unverhohlen übelste kommunistische Propaganda“. Doch Brechts Kritik an der Gesellschaft wurde von denen am militantesten abgelehnt, die zu den Benachteiligten zählten und gar nicht erst insTheater gingen. Vorm Leipziger Theater riefen Arbeitslose, die der „Sturmabteilung“ beigetreten waren, Hetzparolen und schwenkten blutbedeckte Fahnen. Aus Angst vor ähnlichen Skandalen sagten andere Bühnen „Mahagonny“ ab. Man gab nach.

Vor dieser Drohkulisse beginnt auch das Ende des Franz Schreker, seit „Der ferne Klang“ einer der meist gespielten Opernkomponisten der 1920er, genialer Sensualist, Lehrer etlicher Hochbegabter. Nicht politisch engagiert, nicht „atonaler“ als Richard Strauss, aber der Sohn eines Juden. NS-Terror bewog ihn 1932, die Freiburger Uraufführung seiner Oper „Christophorus“ abzusagen, im selben Jahr führte die nationalistische Wende an der Berliner Musikhochschule zu seinem Rücktritt als Direktor. 1933 musste er seine Meisterklasse aufgeben, mit 55 Jahren erlag der zutiefst Gedemütigte einem Schlaganfall. Sein vielleicht bester Schüler neben Ernst Krenek war da schon mitten im Steilstart abwürgt worden. Berthold Goldschmidt, 1932 mit der Oper „Der gewaltige Hahnrei“ in Mannheim gefeiert, floh nach London – und komponierte kaum noch.

Er zählt zu den vielen, die im Exil den kreativen Elan verloren oder mit ihrer musikalischen Sprache im Nachkriegseuropa keinen Anschluss fanden. Der Avantgarde der 60er Jahre und besonders Karlheinz Stockhausen warf Goldschmidt noch 1994 im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen „fast diktatorischen Einfluss“ vor. Freilich wäre es absurd, den Terror unter Stalin und Hitler mit der Auftragsvergabe von Rundfunksendern zu vergleichen, deren Redakteure fasziniert waren vom Heilsversprechen der Serialisten, von der Weiterentwicklung einer „enthierarchisierten“ Musik nach der Katastrophe. Stimmiger scheint der Vergleich, den John Rosselli 1999 im Musiklexikon Grove zog: in der Auftragsvergabe ähnele der Rundfunk den Monarchen des18. Jahrhunderts, deren ästhetische Vorlieben keine Zensur darstellten.

Dass ein avantgardistischer Konsens des Westens die Wiederentdeckung vieler, überwiegend jüdischer „Entarteter“ um Jahrzehnte verzögerte, bleibt aber ein großer Verlust. Zu denen, die man im Westen als regressive Harmoniker abtat, zählt auch Mieczysław Weinberg, der damit zwischen alle Stühle geriet. Die antisemitischen Tendenzen in der Sowjetunion spielten nicht nur mit, als ihn 1948 der erwähnte „Befehl Nr. 17“ traf. Wegen der unter Stalin inszenierten „Ärzteverschwörung“, deren Verfolgung vor allem den Juden galt, saß er 1953 im Gefängnis und kam nur durch den Tod Stalins frei; erst in den liberaleren Sechzigerjahren konnte er mit in Moskau Fuß fassen. Seine vom Förderer Schostakowitsch angeregte Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ scheiterte 1968 am Ende des Tauwetters. Dann wurde es lange still um ihn.

Funktionäre leben länger

In all den Jahrzehnten gibt es eine unheimliche Konstante. Es ist jener Mann, der schon 1948 Generalsekretär des Komponistenverbandes und scharfer Wortführer wider den „Formalismus“ war, der Schostakowitsch für seine Abbitte lobte, ein stilistisch blasser Komponist namens Tichon Chrennikow. 1913 geboren, stand er bis zum Ende der Sowjetunion an der Spitze desVerbandes. Er war Funktionär unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew und Gorbatschow. „In unserem Lande“, erklärte der Komponist Nikita Bogoslowski 1990, „gibt es keinen Menschen, der in einer ähnlichen Stellung länger ausgeharrt hätte.“ Chrennikow verkörpert gleichsam den Schatten, den die Repressionen der totalitären Systeme bis in unsere Tage werfen.

So konnte es erst zwei Tage vor dem Ende der Sowjetunion, am 19. Dezember 1991, zur konzertanten Uraufführung von „Der Idiot“ in Moskau kommen, Weinbergs 1986 entstandener, letzter Oper. Weitaus später, 2013, wurde sie in Mannheim szenisch uraufgeführt – ein wunderbares Werk kam zutage. Wie hier ein durchgereifter Fundus zu einer leuchtend unverbrauchten Sprache wächst, zum Kosmos eines klingenden Romans, das ist ein Triumph über all die politischen, ästhetischen, rassistischen Ideologien, über alle Eingriffe in die Kreativität, denen Weinberg ausgesetzt war. Seine Oper über einen, dessen Glaube an Liebe und Schönheit ihn einsam macht, lässt an all die Werke anderer denken, die ungeschrieben blieben, weil Komponisten dem Druck oder der Einsamkeit nicht gewachsen waren – oder das Leben verloren.

Geraubte Musik – sechs Nahaufnahmen

1. Eislers „Faustus“ – Wie die DDR eine Oper abwürgte

Eigentlich glaubte Hanns Eisler nach langer Odyssee in den USA Fuß gefasst zu haben. Doch im September 1947 wurde er nach Verhören als „Kommunist“ des Landes verwiesen. So zog er nach Ost-Berlin und komponierte der jungen DDR ihre Hymne. Zugleich artikulierte er in seinem Libretto zur Oper „Johann Faustus“ die kritische Haltung des Remigranten (und eines Juden im „neuen“ Deutschland) so abgründig, dialektisch, so „wunderartig-merkwürdig“ (Thomas Mann) und goethefern, dass den Kunstlenkern der Partei mulmig wurde. Im Mai 1953 wurde Eisler zwar nicht zum Verhör gebeten, aber die Diskussionen in der Akademie der Künste wurden von Funktionären wie Alexander Abusch ideologisch geführt. Auch die Unterstützung Bert Brechts half nichts, während Staatsdichter Johannes R. Becher beredt schwieg. Nach 2200 Blätter mit Entwürfen gab Eiser auf. Seine einzige Oper blieb unkomponiert – und damit ein Werk, das noch heute zu den eigenwilligsten, engagiertesten des Genres zählen würde.

2. 70 Jahre verspätet – Schrekers „Christophorus“

Schon 1930 hatten Anhänger der Nationalsozialisten die Leipziger Uraufführung von Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ massiv gestört. Sie hatten auch den „Halbjuden“ Franz Schreker im Visier, einen der erfolgreichsten Opernkomponisten der Weimarer Republik, Meister erotisch oszillierender Spannungsfelder. Wie schon in „Der ferne Klang“ machte er auch in „Christzophorus“ einen Komponisten zur Hauptfigur. Vor der für 1933 geplanten Uraufführung in Freiburg zog er die 1928 vollendete Oper aus Angst vor Tumulten zurück – erst 1978 wurde sie in Freiburg szenisch, aber gekürzt aus der Taufe gehoben. Vollständig hat den „Christophorus“ dann Kirsten Harms in ihrem legendären Kieler Schreker-Zyklus 2002 rehabilitiert. Neben der szenischen Qualität setzte auch das musikalische Niveau dieser Produktion Maßstäbe. Wer die Gesamtaufnahme mit den Kieler Philharmonikern unter Ulrich Windfuhr hört (die bei cpo und auf youtube verfügbar ist), muss sich fragen, warum sich seitdem kein Haus wieder an diese Partitur gewagt hat, in der Schreker seine schimmernden Seelengewebe in eine härtere Textur überführt.

3. Der Tod macht Pause – Ullmanns Oper aus dem KZ

Aus dem Durchgangslager Theresienstadt schickten die Nazis 90000 Menschen in den Tod, meist nach Auschwitz, wo 1944 auch der Komponist Viktor Ullmann, 1898 geboren, umkam. Aus Stuttgart nach Prag geflohen, musste er 1942 nach Theresienstadt und schrieb dort Stücke für mitinhaftierte Musiker, auch die Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“. Im Libretto des Mitinhaftierten Peter Kein stoppt der Tod selbst den tötungswütigen Kaiser Overall, indem er niemanden mehr sterben lässt. Die Anspielungen auf die Gegenwart werden in der Musik noch sarkastisch angeschärft, doch der Einakter mit sieben Solisten wurde als „Freizeitgestaltung“ tatsächlich geprobt. Die Uraufführung fand erst 1989 in Berlin statt, es folgte die Einspielung für die legendäre Decca-Reihe „Entartete Musik“. Seitdem ist Ullmann auch in Kammermusik und Liedern als eindringlicher Komponist entdeckt worden. Seine Oper aus Theresienstadt belegt einen kreativen Elan, der angesichts der gesamten Situation unfassbar ist. Dass Ullmann diese Situation realistisch einschätzte, ist im „Kaiser“ durchaus zu hören.

4. Des Widerspenstigen Zähmung – warum Mosolov erlosch

Seine „Eisengießerei“ für Orchester von 1926 ist Legende, in ihrem Schatten steht ein Gebrochener. Alexander Mosolov zählte zu den jungen Wilden der sowjetischen 20er Jahre, auf einer Höhe mit der Pariser Szene. Radikaler als Antheil und Honegger war er in seiner Maschinenmusik , durchtrieben und scharf in Liedern wie „Vier Zeitungsannoncen“. Doch dann warf man ihn gleich zweimal aus der Bahn. 1930 war er den Antimodernisten der „Russischen Assoziation Proletarischer Musiker“ im Weg, die (von der Regierung unabhängig) die Uraufführung seiner Oper „Der Staudamm“ kippten und Mosolov aus seiner Stelle beim Rundfunk vertrieben. Als 1932 Stalin eine kurze Liberalisierung gewährte, war Mosolov schon angeschlagen und übte sich in Folklorismus. 1937 folgte einer Verleumdung seine Verurteilung zu Lagerarbeit und dem Entzugs des Wohnrechts in Moskau, Leningrad und Kiew. Wer sich die folklorisierte Sowjetromantik anhört, die Mosolov danach noch komponierte, blickt in einen erloschenen Vulkan.

5. Brauner Schatten – Schumanns Violinkonzert

Als im „Dritten Reich“ ein Ersatz für das verbotene Violinkonzert von Felix Mendelsohn gebraucht wurde, verfiel man auf das nie aufgeführte Konzert von Robert Schumann (1853). Es weist der Violine eine völlig neue Rolle zu. Sie bewegt sich wie ein mal in erster, mal in dritter Person agierender Erzähler, oft in tiefen Lagen spielend, die Entdeckung des Subjekts schon mit dessen Brechung verbindend. Wohl deswegen hielten Clara Schumann und Joseph Joachim es für schon vom Wahnsinn getrübt und unterdrückten es. Als es 1937 bei Schott herauskam, hielt der Geiger Georg Kulenkampff Korrekturen für nötig, für die sich (anonym, da von den Nazis verpönt) Paul Hindemith hergab. So verzerrt erlebte das Werk seine Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern bei einem „Kraft durch Freude“-Konzert am 26. November 1937. Der Musik hat der braune Schatten schwer geschadet. Sie wird erst jetzt weitgehend auf einem Niveau rezipiert, das Yehudi Menuhin ebenfalls 1937 erkannte: Er spielte sie zehn Tage nach Kulenkampff in Philadelphia – und zwar im Original.

6. Unheilbare Wunden – Prokofjews Sechste Sinfonie

Für seine fünfte Sinfonie in B-Dur erhielt Sergej Prokofjew 1946 den Stalinpreis erster Klasse. Seine sechste Sinfonie in es-Moll wurde am 11. Oktober 1947 uraufgeführt, das Publikum in Leningrad tobte vor Begeisterung. Vier Monate später steht das Werk auf der Verbotsliste, die am 14. Februar 1948 in Kraft tritt und den gesundheitlich angeschlagenen 56-jährigen härter trifft als den jüngeren Schostakowitsch. In den drei Sätzen der Sechsten werden mit hartem Duktus und harten Farben „unheilbare Wunden“ (Prokofjew) gezeigt, die heutigen Konzertveranstaltern offenbar ähnlich unangenehm sind wie den Formalismusjägern, die dieses opus 111 vom Podium verbannten – man spielt das Werk weitaus seltener als die zwar meisterhafte, aber unverbindlich staatstragende Fünfte. Eine noch tiefere Tragik steckt hinter der geringen Präsenz der Siebten: dem harmlosen Stück, 1952 vorgelegt, merkt man die künstlerische Vernichtung, das innere Verstummen an, dem ein früher Tod folgte: der Komponist starb mit 61 Jahren am selben Tag wie Josef Stalin.

Diese Texte erschienen im März 2014 in „128 – das Magazin der Berliner Philharmoniker“ zum Schwerpunkt „Geraubte Musik“ und sind urheberrechtlich geschützt