Achterbahnfahrt im Epochenknick

Das abenteuerliche Leben des Komponisten und Literaten Johann Friedrich Reichardt, der vor 200 Jahren starb

Herr von Knebel mochte den Besucher nicht. „Seine glatte Rhinocerosstirne, sein vorgeschobenes Untergesicht, auch den häßlichen Spitzbauch“ monierte er in einem Brief und mokierte sich über die „zutrauliche Höflichkeit des Gastes“, der unangemeldet „zur Hinterthüre“ herein gekommen sei, womöglich gar noch ein Mittagessen erhoffend. „Der – der große Kapellmeister Reichardt!“, schrieb höhnisch Knebel, eine der kleineren Leuchten aus Goethes Dunstkreis. Denn dieser Kapellmeister war nicht nur alt und häßlich. Er war abgetan. Er galt als peinlich. Und verarmt war er außerdem.

Der Mann, den Tieck zufolge „alle Welt kannte“, Bahnbrecher des Kunstlieds, Meister des Singspiels, umjubelter Geiger, erster deutscher Musikjournalist, Hofkapellmeister Friedrichs des Großen, Reporter der französischen Revolution, Wiegenhüter und Gastgeber der literarischen Romantik, dieser Mann, der einmal nach übereinstimmender Meinung „von auffallender Schönheit“ gewesen war – dieser Johann Friedrich Reichardt war in seinem sechzigsten Lebensjahr ein Wrack, über dessen letztes, in Geldnot verfasstes Buch Beethoven seinem Verleger schrieb: „Was sagen Sie zu dem Geschmier?“

Dabei hatte Beethoven, wie er bekannte, „nur Bruchstücke“ gelesen. Seine Meinung folgte einfach dem ruinierten Ruf des Mannes, der als geigendes Wunderkind armer Leute in Königsberg die große Welt betreten und dann in einem Zickzackkurs durchmessen, durchrast, durchwandert hat, der an Extremen seinesgleichen sucht. Nicht nur, was Glanz und Elend angeht, sondern auch die Fülle von Freundschaften. Es gibt im Deutschland der Klassik und der Frühromantik, zwischen 1780 und 1810, kaum einen Großen, den Reichardt nicht kannte, und kaum einen, mit dem er sich nicht auch verkrachte.

Am 25. November 1752 geboren, war Johann Friedrich früh in einen Rummel geraten, wie man ihn zur selben Zeit auch anderswo, in Salzburg zum Beispiel, mit hochbegabten Kindern trieb. Nur war sein Vater eben kein planvoller Leopold Mozart, sondern ein trinkfester Lautenist ohne feste Stelle, der sich, seine Frau und fünf Kinder nah an der Armutsgrenze durchbrachte. Seinen brillanten Sechsjährigen ließ er nächtelang bei Offiziersgelagen fiedeln, sah es aber auch gern, wenn Graf und Gräfin Keyserling das Kind in roten Sammet kleideten, hätschelten und unter Kronleuchtern aufspielen ließen.

Die paar Ansätze zu einer universellen Ausbildung, die Reichardt später autodidaktisch ergänzte, verdanken sich bürgerlichen Königsbergern, darunter Immanuel Kant, der den wachen Knaben nicht aus den Augen verlor, Musik aber für eine „Beschäftigung ohne Zweck“ hielt und zum Jurastudium riet. Reichardt gehorchte, hat dann aber vor allem die Nächte durchgemacht, gemeinsam mit dem jungen Dichter Lenz, der später Reichardts Vater in seinem Stück „Der Hofmeister“ als Lautenlehrer „Rehaar“ karikierte. Mit neunzehn Jahren brach Reichardt das Studium ab und zog „hinaus in´s Weite“.

So sagt er das in seiner Autobiographie, dem ersten literarischen, nicht bloß fachbezogenen Selbstporträt eines Musikers, zugleich Bildungsroman, Anekdotengalerie und frühromantischer Wandertext: „Auf diesem heiteren Morgenwege genoß ich, dem zu Muthe war, wie es einem dem Winterkäfige entflohenen Vogel sein mag, einer Heiterkeit, Ruhe und Fröhlichkeit, die fast jede bis dahin erlebte Frühlingslust übertraf. Ich sang und jubelte durch die grünen Saatfelder und Auen…“ Wer da an den „Taugenichts“ denkt, wird sich nicht wundern, später auch Eichendorff an Reichardts Tafel zu finden.

Doch bis der zum legendären „Herbergsvater der Romantik“ wird, muss er noch lange wandern. Er spielt von der Hand in den Mund, wird als „großer Geiger“ schon 1773 vom Musikreisenden Charles Burney gewürdigt, bezaubert in Braunschweig den Dichter Gleim, der den Jüngling gleich „so zärtlich“ umarmt, „daß ich ganz verlegen wurde“, verpfändet in Prag seine Geige, musiziert in Hamburg mit Carl Philipp Emanuel Bach, komponiert eine Ode von Klopstock zu dessen Pläsier – und kehrt nach dreijähriger Geniereise mittellos nach Königsberg zurück.

Dort verschaffen ihm Freunde eine erholsame Stelle als Kammersekretär, aus der sich Reichardt zwei Jahre später zum nobelsten Musikposten Preußens hochkatapultiert. Ein kurzer Bewerbungsbrief und eine Opernpartitur genügen, um den 23jährigen für Friedrich den Großen interessant zu machen. Der sucht einen willfährigen Kapellmeister für sein Opernhaus, eher ein Museum, in dem der Monarch die Ästhetik seiner Jugend konserviert, Molltonarten verbietet, mit seinem Stock laut den Takt schlägt und Soldaten ins Parterre kommandiert, weil trotz freien Eintritts kein Berliner kommen mag.

Wie der 63-jährige König den Kandidaten empfängt, auf dem Sofa liegend, „in seiner gewohnten, militärischen Uniform, mit einer hellblauen, seidnen Decke bedeckt, den alten, grossen Hut auf dem Kopfe, nur seitwärts von mehreren hohen Wachslichtern beleuchtet“, während er seine kläffenden Windspiele beschwichtigt, wie er in seinem berüchtigt groben Deutsch seine Abneigung gegen die neue italienische Opernmode formuliert („So´n Kerl schreibt ihm wie ´ne Sau“), das hat Reichardt mit dem scharfen Blick gesehen, den nur die Wanderer haben, Suchende, die nirgendwo richtig dazu gehören.

Als „gewesenen Landstreicher“ schmäht denn auch J.S. Bachs Schüler Kirnberger in Berlin den neuen Hofkapellmeister, der sich zwar achtzehn Jahre und auch unter dem nächsten König auf dem Posten hält, seine Gaben aber anderswo entfaltet. Etwa als Verfasser und Verleger des „Musikalischen Kunstmagazins“, einer journalistischen Pioniertat mit Essays, Analysen, Kritiken, Nachrichten, die noch Robert Schumann beeindruckt hat – geschrieben in „kühndahinströhmender Sprache“, wie Reichardt sein Stilideal beschreibt. Mit nur 327 Subskribenten bleibt das Projekt ein Verlustgeschäft. Ein anderes Forum ist seine Wohnung in Berlin. Hier veranstalten die (insgesamt zwölf) Familienmitglieder Konzerte und Theaterabende, die der junge Ludwig Tieck als wegweisende „Kunstschule“ erlebt.

Und dann ist da das Landgut bei Halle, in Giebichenstein, an das der Gast Eichendorff sich später erinnert: „Wie mancher junge Poet … saß auf der Gartenmauer zwischen den blühenden Zweigen die halbe Nacht, künftige Romane vorausträumend.“ Novalis, Tieck, Jean Paul, Wackenroder, Brentano, Arnim, Schlegel, Voss, die Grimms – keiner fehlt in diesen Sommern nach 1790. Hier erfindet die Romantik sich selbst, mit Reichardt als einem Prospero, der dem Personal beibringt, aus den Gebüschen zweistimmige Hornweisen ertönen zu lassen, wie sie auch in seinem Singspiel „Die Geisterinsel“ (1798) nach Shakespeares „Sturm“ zu hören sind. Es ist sein erfolgreichstes Bühnenwerk, eine ganz eigentümliche, zerbrechliche Verbindung aus Tonfällen der Mozartschen „Zauberflöte“, aus Orchesterfarben von lyrischer Transparenz und voll von wundersam eingängigen, oft melancholischen Melodien. Melodien fielen Reichardt so reichlich ein, dass er sie sogar beim Essen aufschrieb. Sie gingen noch Schubert durch den Kopf.

Als Liedkomponist hat Reichardt 28 Sammlungen veröffentlicht, die Epoche machten. 1500 Texten von 125 Dichtern schmiegte er seine Töne auf eine neue Weise an, die Faßlichkeit mit Sprachsensibilität vereint – das einfachste, berühmteste Beispiel dafür kennt auch heute fast jeder: „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Noch wiederzuentdecken ist aber ein Oeuvre, in dem auch die Weimarer Klassiker, zu denen Mozart und Haydn kaum etwas einfiel, erstmals adäquat vertont wurden. „Reichardt hat mir wohl getan“, notiert Goethe nach einem Besuch seines Komponisten. Später wird er ihn einen „Schmarotzer“ nennen, der Melodien nur „leidlich elend zu binden“ verstehe, er wird Hand in Hand mit Schiller ein Gemetzel veranstalten, das zu den dunklen Seiten Weimars zählt.

Dahinter steht die französische Revolution, mit der der Hofkapellmeister sympathisiert. Seine „Vertrauten Briefe über Frankreich“ veröffentlicht er 1792 unter dem durchsichtigen Pseudonym „J Frei“, es ist die bis dahin materialreichste Revolutionsreportage in Deutschland, ein Text, der keineswegs so „unkritisch“ ist, wie Walter Salmen das in seinem tristen Buch über Reichardt darstellt.

Plastisch und persönlich, differenziert und distanziert schildert der Reisende das Chaos der Nationalversammlung, die Arroganz Robespierres, die blinde Wut des Volks, bleibt aber bei seiner Meinung über die Revolution: „Sie war unvermeidlich“. Unvermeidlich wird deshalb auch die Kündigung am preußischen Hof. Zwar hat der Musikchef seit drei Jahren bezahlten Urlaub, nun aber, Oktober 1794, wird er gefeuert, fristlos, ohne Abfindung, ohne Pension, hochverschuldet, da er nach Jahren als Pächter gerade erst sein geliebtes Gut Giebichenstein gekauft hat.

Als er in dieser Lage auch noch die Weimarer Dichterfürsten politisch kritisiert, blasen sie zum Gefecht gegen den „Cantor“, der „von der Orgel“ läuft und „pfuscht auf den Claven des Staats“. 76 Verse gegen den „Zeitschriftsteller“, das „Insekt“, den „Giebichensteiner“ erreichen das lesende Publikum. Jean Paul schreibt dazu: „Fürchterlich weh that es meinem Herzen, daß Goethe ein so nahes wie das des guten Reichardt durchlöchern konnte….“ Schiller aber hat den Besucher nie gemocht: „Ein unerträglich aufdringlicher und impertinenter Bursche, der sich in alles mischt und einem nicht vom Halse zu bringen ist.“

Es gibt etliche, denen er auf die Nerven fällt, ebensoviele schließen ihn ins Herz, manche, wie Goethe, mögen und meiden ihn abwechelnd. Wie war er? Man sieht wieder den kleinen Reichardt vor sich, den Überflieger aus der Unterschicht, jäh ins Licht geraten, Zutrauen und Zuversicht entwickelnd um so heftiger, als er nie sicher ist, auch oben zu bleiben. Einer, dessen Wunsch nach Nähe, bevorzugt zu illustren Zeitgenossen, wohl auch etwas Klammerndes hat, und dessen erkämpfter Stolz, das „hier stehe ich“, mal opportunistisch einsackt, und ihn mal taktlos in jedes Fettnäpfchen treten lässt. Eine wandelnde Sollbruchstelle. Und damit auch Symbolfigur der Wende ins 19. Jahrhundert, die den alternden Künstler hin und her schleudert.

1806 ruft er, patriotisch geworden, zu Geldspenden für Truppen gegen den Eroberer Napoleon auf, den Weltgeist zu Pferde. Mit dem Erfolg, dass dessen Truppen im Oktober sein Gut Giebichenstein plündern. Der Garten, ein weiteres Kunstwerk Reichardts, wird komplett verwüstet.

Sein letzter Posten ist ein jämmerliches Intermezzo als Generalmusikdirektor in Kassel unter der Ägide von Napoleons Bruder Jerome, der Reichardt bald auf eine „Dienstreise“ schickt und unterdessen Beethoven die Stelle anbietet. Dieser Mann ist es, der im März 1810, vier Jahre vor seinem Tod, bei Herrn von Knebel in Jena auftaucht. Das ist er, „der – der große Kapellmeister Reichardt!“ Knebel weiss nicht, wen er vor sich hat: den Propheten und das Opfer einer Epochenwende.

Dieser Text erschien in gekürzter Fassung zum 250. Geburtstag von Reichardt in der ZEIT vom 12.12.2002. Anlässlich des 200. Todestages am 27. Juni 2014 ist er hier in ganzer Länge zu lesen, Literatur seit 2002 wurde nicht berücksichtigt. Der Text ist urheberrechtlich geschützt.