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Der Unvollendete

Künstlerlegende und Genie zwischen den Zeiten: Vor 300 Jahren kam Friedemann Bach in Weimar zur Welt

Das Blatt wird gewendet, die Feder wieder eingetaucht. Noten erscheinen auf dem Papier. Zwei eigenständige Stimmen, nur aus Vierteln und Halben gefügt, alter Stil, sehr alt sogar, so hat einst Palestrina komponiert. Ein Sextsprung nach oben? So nicht. Den nächsten Takt lässt der Schreiber, unsicher geworden, in der Oberstimme frei. Er ist versiert im Kontrapunkt, das ja, aber nicht im stile antico. Die Feder verharrt. »Gibst mal, Friede?« Die Hand eines Älteren zieht das Blatt zu sich und nimmt die Feder. Er schreibt die untere Stimme noch mal so auf, wie der Erste sie entwarf, und entwickelt aus dem Anfang der oberen Stimme eine perfekte Linie. Dann tauscht er die Stimmen. Passt auch. Dann kommen Terzen dazu. Vierstimmigkeit. Passt alles.

Fast nichts ist fiktiv an dieser Nahaufnahme. Es gibt dieses Blatt, eines von mehreren, die zwei Handschriften zeigen. Der Ort: Dresden. Die Zeit: wohl Anfang Dezember 1736. Es ist weniger Unterricht, was die beiden da betreiben, als ein Handwerksdialog zwischen zwei Komponisten. Dass der Ältere die Führung übernimmt, muss den Jüngeren nicht beschämen. Sein Gegenüber, leicht über fünfzig, ist Johann Sebastian Bach. Sein Vater. Der Thomaskantor hat in diesem Jahr die neue Fassung der Matthäuspassion vollendet, nun besucht er den ältesten Sohn, Organist an der Sophienkirche in Dresden, Wilhelm Friedemann. Bachs unter sich. So nah sind wir den beiden selten. Wir erkennen Sohn und Vater – den Schatten des Vaters. In diesem Schatten verkümmerte aber nicht Friedemann, sondern unser Zugang zum genialen Sohn, der vor 300 Jahren zur Welt kam.

Er ist einer der verkanntesten, einer der am meisten missbrauchten Komponisten. Ein Künstler, der dem großen Publikum als fiktive Gestalt vertrauter ist als durch seine Werke. An die zwanzig Dichtungen befassen sich mit ihm als Gescheitertem, dazu eine Oper von Paul Graener (1931) und ein berühmter Spielfilm (1941) mit Gustav Gründgens in der Hauptrolle, dröhnende Werke im braunen Zeitgeschmack. Sie fußen auf dem bis heute wohl populärsten deutschen Musikerroman, dem 1858 erschienenen Friedemann Bach von Albert Emil Brachvogel. Darin gerät der Hochbegabte früh vom Wege ab und in die Fänge der Hofgesellschaft zu Dresden, während der Autor ihm zuruft: »Oh Friedemann, hättest du des Vaters mahnendes Wort befolgt, dir wäre besser!«

Es folgt der Weg in Wahnsinn, Verzweiflung, Festungshaft und die Arme einer Zigeunerin. Die Reihenfolge ist dabei unerheblich, entscheidend die Fallhöhe vom Himmel zur Hölle. Gibt es ein kollektives Bedürfnis, sich für die Unantastbarkeit des großen Bach an einem Sohn zu rächen? Brachvogels Buch erreichte ungeheure Popularität, wurde zuletzt 1983 neu aufgelegt und ist auf jedem Flohmarkt zu haben. Noch im Bachlexikon von 2000, einer Fachpublikation, liest man mit Erstaunen, der Roman basiere auf »zahlreichen Informationen, die historischer Überprüfung standhalten«. Man muss aber – und damit fängt’s schon an – nicht viel prüfen, um herauszufinden, dass Friedemann weder 1704 geboren wurde, noch dass seine Mutter Dorothea hieß. Tatsächlich hat ihn am 22. November 1710 Maria Barbara Bach zur Welt gebracht, Johann Sebastians erste Frau. Eine Bach-Gattin namens Dorothea hat es nie gegeben.

Ein Adagio – abgründig, todtraurig und schon reinster Mozart

Das Bild des Gescheiterten ist freilich nicht ganz ohne Grund entstanden. Während Friedemanns Bruder Carl Philipp Emanuel, vier Jahre jünger, sich später in Hamburg glänzend etabliert, von Mozart als der eigentlich »große Bach« bewundert und aufgeführt wird, Sturm und Drang und systematische Formexperimente in die Musik bringt, ein begnadeter Kommunikator und guter Geschäftsmann ist, kann Friedemann nie so recht Fuß fassen – und sein Talent »nicht gänzlich entfalten«, wie selbst Peter Wollny einräumt. Der Leipziger Musikwissenschaftler betreut die auf elf Bände angelegte Gesamtausgabe und hat ein neues Werkverzeichnis verfasst; er ist es auch, der mit glänzender Kombinatorik die Skizzenblätter von Sohn und Vater datiert und entziffert hat.

Auf ihnen wird etwas deutlich, das Friedemann von den Komponisten seiner Generation unterscheidet: sein anhaltendes, geradezu konservatives Interesse an der hohen Kunst des Kontrapunkts. »Der polyphone Satz«, sagt Wollny, »wird niemals angetastet. Darin bleibt sich Friedemann treu.« Und damit ist er aufgewachsen. In Weimar, in einem engen Haus am Markt, auf dessen Fundamenten sich heute ein Parkplatz befindet, dann in Köthen. Hier entstand für ihn ein einzigartiges Dokument musikalischer Frühausbildung. Neun Jahre war der Knabe alt, als sein Vater das Clavier-Büchlein / vor Wilhelm Friedemann anlegte, mit eigenen Stücken und solchen anderer Zeitgenossen, mit Verzierungstabellen und Platz für Komponierübungen.

Friedemann trat ein in eine Musikerdynastie, die lange vor Johann Sebastian anhebt und es auf 77 Profis brachte, seit ihr Ahnherr um 1550 vor den Katholiken aus Ungarn ins Thüringische geflohen war. Als Friedemanns Großvater Ambrosius zur Welt kam, war »Bach« dort schon ein anderes Wort für Musiker. Der Clan gedieh auf dem politischen Flickenteppich an der heutigen A4. In all den Fürstentümern, Grafschaften, Reichsstädten, Enklaven wurden so viele Musiker gebraucht wie nirgends sonst. Manche ihrer Stücke führten die Bachs über Generationen hinweg auf, sie entdeckten sich dabei als Geniekollektiv. Dieser Anspruch dürfte den ersten Sohn Johann Sebastians mit umso größerer Wucht getroffen haben, als er hochbegabt war. »Du bist mein gutes Jüngelchen«, schrieb ihm der Vater in ein Notenheft.

Da sitzt also der Neunjährige, des Klavierspiels schon kundig, mit seinem neuen Übungsbuch in Köthen, Sommer 1720. Um ihn seine Schwester Catharina Dorothea, elf, seine Brüder Carl Philipp Emanuel, sechs, und Johann Gottfried Bernhard, fünf. Maria Barbara, 35, betreut ihre vier Kinder zusammen mit ihrer Schwester Friedelena, der Vater Johann Sebastian ist als Hofkapellmeister auf Dienstreise. Als er aus Karlsbad zurückkommt, erfährt er, dass seine Frau plötzlich erkrankte und starb – und dass sie sogar schon begraben ist. Woran sie gelitten hat, bleibt unbekannt. Was dies für die Familie bedeutete, kann man nicht ermessen. Wie es Friedemann damit ging, wird am ehesten sein Vater geahnt haben, der mit neun Jahren selbst beide Eltern verloren hatte. Von nun an versucht er, seinen ältesten Sohn gegen alle Unwägbarkeiten abzusichern.

Nachdem die Familie 1723 nach Leipzig gezogen ist – mit Bachs zweiter Frau Anna Magdalena –, lässt der Vater den 13-Jährigen gleich für die Immatrikulation an der Universität vormerken. Den 16-Jährigen schickt er nach Merseburg, um ihn bei einem der besten Geiger auch auf diesem Instrument ausbilden zu lassen. Mit 18 wechselt Friedemann von der Thomasschule an die Universität: Mathematik, Philosophie und Jura. Obwohl er nun gelehrter als sein Vater ist, setzt der ihm das Bewerbungsschreiben für die erste Stelle auf, den Organistenposten an der Sophienkirche in Dresden: »…unterthänige Bitte, daß Dieselben geruhen wollen bey dieser vacance meine Wenigkeit in hohe consideration zu ziehen…« Friedemann muss nur noch vorspielen, wofür er Schwerstes vom Vater wählt. Am Präludium G-Dur (BWV 541) brechen sich noch heute die Organisten die Finger.

Beim Probespiel dreier Kandidaten ist der Vizekapellmeister der Hofkapelle anwesend, er rühmt »vor anderm des jüngeren Bachs Geschicklichkeit«. Friedemann tritt, nun 22 Jahre alt, einen Posten an, auf dem er über ein Jahrzehnt bleiben wird. Oder sollte man sagen: ausharren? Die Orgel ist großartig, die Stelle aber schlecht bezahlt, unter Dresdner Musikern gilt sie sogar als »Poenitenz Stelle«, als Strafposten. Um die achtzig Taler bekommt Friedemann, 6000 Euro im Jahr, während der Hofkapellmeister Johann Adolf Hasse in Dresden 2000 Taler einstreicht, seine Frau Faustina, eine Operndiva, sogar 4000. Dafür ist Hasses Orchester eines der besten in Europa. Friedemann, der es schätzt, lässt sich von Hasses Opernarien anregen, aber auch vom glanzvoll Bizarren des Kirchenkomponisten Jan Dismas Zelenka.

Seine Sinfonien aus dieser Zeit greifen Dresdner Floskeln auf und verbessern seinen Etat; vermutlich hat er sie für musikliebende Adlige geschrieben. Gut gelaunte, gut gebaute kurze Sätze, in denen sich die Geigen mit spritzigen Läufen ins Wort fallen. Die weiten harmonischen Spannungsbögen seines Vaters spielen keine Rolle in dieser etwas versatzstückhaften Ästhetik; aber Leerlauf wie bei vielen Zeitgenossen gibt es da nicht. Und anspruchsvollere Konzeptionen bringt Friedemann anderswo unter. Etwa in der katholischen Hofkirche, für die er eine Fuge für Streicher schreibt, wie sie Johann Sebastian nicht sauberer hätte bauen können. Dass allerdings ihr Thema nur zweieinhalb Takte und darin auch noch eine Wiederholung umfasst, führt ebenso auf neue Wege wie Dialogpassagen der Oberstimmen und jähe Abrisse.

Vorspiel zu dieser Fuge ist ein abgründiges, todtrauriges Adagio, Streicher plus zwei Flöten, in dessen Takt 31 man seinen Ohren nicht traut. Was man hier hört, ist der Anfang eines der berühmtesten Werke der Sakralmusik, des Recordare aus Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem. Die Linien der Flöten sind fast bis auf den Ton identisch mit denen von Mozarts Bassetthörnern – über derselben Harmonik, in derselben Tonart F-Dur und im selben Dreivierteltakt. Dazu kommt noch die Basslinie, die fünfzig Jahre später das ganze Recordare prägen wird. Einen Plagiatsprozess gibt der Vorgang nicht her; eher vertieft er unsere Bewunderung für Mozarts Fähigkeit, Potenzial zu erkennen und auszubauen.

Zugleich beleuchtet das Werk die Grenzen von Form und Stil der Generation vor Mozart. Während ihr Vater in diesen Jahren mit der h-Moll-Messe ein Vermächtnis vollendet, das größten Abmessungen folgt, halten sich seine beiden ältesten Söhne an kleine Formen und erfinden die Klaviersonate. Dabei ist Carl Philipp Emanuel viel produktiver. Zwölf Klaviersonaten liegen von ihm im Handel vor, als Friedemann 1745 erstmals etwas drucken lässt. Seine Klaviersonate D-Dur ist ein Wunder an Komplexität, eine Synthese aus dichter Kontrapunktik und reichem Innenleben rasch wechselnder Empfindungen, mit der Friedemann als Komponist sein Problem löst, dem Vater treu zu bleiben und einen eigenen Stil zu finden. Aber das Stück verkauft sich so schlecht, dass er das auf sechs Sonaten angelegte Projekt abbricht und erst 1748 eine weitere Klaviersonate im »leichtern styli« veröffentlicht. Es ist seine letzte Publikation.

Doch als Organist genießt Friedemann einen so guten Ruf, dass er nicht einmal vorspielen muss, als er sich 1746 in Halle bewirbt. Da ist die Organistenstelle an der Marktkirche frei geworden – dieselbe, die Johann Sebastian 33 Jahre früher ausgeschlagen hat. Er wird dort doppelt so gut bezahlt wie in Dresden, gerät aber dauernd in Konflikte mit den Vorgesetzten; etwa als er nach dem Tod seines Vaters 1750 ohne Antrag für längere Zeit verreist, um seinen 15-jährigen Bruder Johann Christian nach Berlin zu bringen – zu Carl Philipp Emanuel, damals noch Keyboarder Friedrichs des Großen. Während der »Friedemann« in Brachvogels Kassenschlager vom Tod seines Vaters nichts erfährt und ein Jahr danach, abgerissen und stellungslos, durch Leipzig taumelt, heiratet der reale Friedemann anno 1751 in Halle die Tochter eines wohlhabenden Steuerunternehmers, Dorothea Elisabeth Georgi.

An Festtagen kombiniert er als Chef der Kirchenmusik vorzugsweise Kantaten seines Vaters mit eigenen, in 18 Jahren bemerkenswerterweise gleich viele von jedem. Wobei er als Komponist »Dichtungen, die schon sein Vater vertont hatte, strikt mied«, wie Peter Wollny feststellt. Dafür greift er formale Konzepte des Älteren auf und füllt sie mit neuer Substanz. Friedemanns Werk ist generell durchzogen von Rückverweisen auf ältere Musik – und auf eigene. Er zitiert sich oft, in unablässiger Arbeit am eigenen Profil fern der Moden. So erkundet er, sich suchend, immer wieder das Hinterland, die Vorgeschichte.

In Friedemanns Hallenser Kantaten scheint immer auch ein altes, sanftes Licht zu schimmern, etwas Abgeschiedenes ist darin, das sich der Welt nicht stellen mag. Aber die Gegenwart macht vor Halle nicht halt. 1756 fallen die preußischen Truppen in Sachsen ein, es ist der Beginn des Siebenjährigen Krieges. Neue Steuern werden erhoben, gegen deren Zahlung sich Friedemann vergeblich wehrt, zumal der Grundbesitz seiner Frau die Abgabe erhöht. Eine Gehaltsaufbesserung wird ihm auch nach 15 Dienstjahren nicht gewährt – zu selbstbewusst ist dem Klerus der Musiker, dem man »ungebührliches Betragen« vorhält. Dahinter steckt der Stolz einer Musikerdynastie, in der Konflikte mit verbiesterten Vorgesetzten längst Tradition haben. Er kann aber auch kein ganz einfacher Typ gewesen sein. Schon den 22-Jährigen schildert ein Freund als »etwas affektierten Elegant«.

Friedemann ist nicht glücklich in Halle; immer wieder bewirbt er sich andernorts, immer wieder kommt etwas dazwischen. Mit 53 Jahren kündigt er einfach, bleibt aber in der Stadt. Er komponiert jetzt Polonaisen fürs Klavier. Das sind ursprünglich Modeartikel im Dreivierteltakt, immer mal wieder veredelt durch Komponisten von Johann Sebastian Bach über Telemann bis Couperin. Bei Bachs Sohn wird das Kleinformat zum intimen Tagebuch. Persönlicher lässt sich nicht komponieren, trauriger auch nicht. Ganz zu Hause und ganz weit weg zugleich. Einsame Träumereien am Cembalo schreibt Friedemann, mit denen er an die Seite Frédéric Chopins gerät. Es ist kein Wunder, dass diese zwölf Stücke in zwölf Tonarten die ersten aus seiner Feder sind, die im 19. Jahrhundert gedruckt werden; schon vorher kursieren sie in Abschriften.

Wer es sich jetzt aber mit einem Melancholiker einrichten möchte, dem reißt Friedemann mit einer Fantasia in e-Moll aus derselben Zeit die Kissen weg. Da ist er, der Weltmann im Pelz, den das – wenngleich umstrittene – Porträt von Georg Friedrich Weitsch zeigt. Das Cembalosolo, das er aus dem Hut zaubert, springt zwischen Stilen und Formen, zwischen Karikatur und Schwärmerei, rasende Akkordbrechungen werden zu Klangskulpturen, und alles wird zusammengehalten vom Horizont eines Genies. So muss er improvisiert haben, hier ahnt man eine Spannweite, ein Reich von Möglichkeiten, die er zeitlebens nur in Teilen realisieren konnte. Er passt nicht in seine Zeit.

Mit 57 Jahren geht es ihm finanziell so schlecht, dass er sich sogar wieder auf die alte Stelle bewirbt, ohne Erfolg. 1770 verkauft seine Frau den Grundbesitz, die beiden verlassen Halle mit ihrer 13-jährigen Tochter Friederike Sophie. Wo immer sich der Musiker an eine Orgel setzt, liegen ihm die Kenner zu Füßen, aber einstellen will niemand den »eigensinnigen Charakter«. Auch nicht in Braunschweig, wo er zur Bewerbung um eine wenig glanzvolle Stelle sogar eine Fuge improvisiert. »Man hält ihn für den größten Fugisten und tiefsten Musikgelehrten in Deutschland«, schreibt zu dieser Zeit der englische Musikreisende Charles Burney. Und diesen guten Ruf nutzt Friedemann nun auf andere Weise. Er geht auf Tournee: Wien, London, St. Petersburg!

Sein Orgelspiel fasziniert auch die Schwester Friedrichs des Großen

Doch groß kann der Ertrag nicht gewesen sein. »Was machen die Meth-Würste?«, schreibt Friedemann 1775 aus Berlin, wo er jetzt lebt, an Johann Nikolaus Forkel, den Biografen seines Vaters. Den »gütigst versprochenen Wurst-Articul« erbittet er ebenso dringlich wie einige Manuskripte seines Vaters, die er – wie schon häufiger – verkaufen will. Als er sich an die Orgel der schütter besuchten Dreifaltigkeitskirche setzt, im Oktober 1776, ist nicht nur der Rezensent der Berlinischen Nachrichten fasziniert. Des Meisters »unnachahmliche Manier und das Pathetische, welches seine Spielart beseelt«, begeistern auch die Schwester Friedrichs des Großen, Anna Almalia, eine unverheiratete, stockkonservative und exzentrische Musikliebhaberin Anfang fünfzig, die bei einem Schüler des alten Bach, bei Johann Philipp Kirnberger, Unterricht hat. Jetzt könnte doch noch alles gut werden.

Friedemann schreibt für sie Klavierfugen »mit dem feurigsten Gefühl der Dankbarkeit« und macht sich Hoffnungen. Doch sie lässt ihn fallen. Friedemann, so stellt es Kirnberger dar, habe ihn aus seiner Position verdrängen wollen, worüber sich Anna Amalia empörte. »Da treffen drei ältere Herrschaften aufeinander«, sagt Wollny, »jeder auf seine Weise verschroben, empfindlich und nicht gerade zimperlich im Austeilen. Es ist auch gut möglich, dass alle drei Opfer einer Intrige wurden.« Man macht es sich jedenfalls zu leicht, wollte man Bach als versoffenen Greis beschreiben, der in jeden Fettnapf tappt. Schwerlich hätte ihn die Bankiersfamilie Itzig sonst in das Palais geladen, das sie am Hackeschen Markt besaß. Die junge Sarah – später Großtante von Felix Mendelssohn – war eine Schülerin Friedemanns.

Sie spielte mit ihrer Schwester oder dem Komponisten auch das Es-Dur-Konzert für zwei Cembali, das in dieser Zeit entstand, wenn nicht gar im Auftrag der Familie. Prachtvoll, ideenreich, reif, aber nicht retrospektiv. Sprudelnde Dialoge, chromatisch gewürzt, von fast ironischen Ausrufezeichen des Orchesters durchsetzt, die Raffinesse altbachscher Cembalokunst, verbunden mit dem Drive einer neuen Zeit, das alles in einem eigenen Stil, der ganz selbstverständlich wirkt. Nicht nur dieses Spätwerk mutet an wie ein Gegenentwurf zur prekären Situation des alten Komponisten, zum »finstern, harten und sonderbaren Charakter«, den ein Zeitgenosse beobachtet hat. Man hört den Glanz einer imaginierten Erfolgszeit, jener »besten Jahre«, die er nie hatte. Es muss ihm gut gegangen sein bei den Itzigs, deren an Johann Sebastian ausgerichteter »Bach-Kultus« ihn wieder zurückführte in seine unsterbliche Familie.

Die Zeichnung, die Paul Gülle 1783 von Friedemann machte, zeigt einen alten Mann mit einem gewissen Lächeln, ein bisschen durchtrieben vielleicht, abwartend, der schwere Kopf in den Kragen gesunken. Doch wer genauer hinschaut, sieht, dass der Blick ernst ist, ins Weite geht, klar, nicht alt, dass sonst alles Hülle ist, die Perücke, die Weste, der alternde Körper. Friedemann ist nicht da. Er ist in den Tönen, den geschriebenen und den unermesslich vielen ungeschriebenen, die er für Hörer, die er mochte, manchmal stundenlang improvisierte, ohne sie je zu Papier zu bringen. In seiner Wohnung in der Friedrichstadt, im Haus des Tischlermeisters Spindler stirbt er am 1. Juli 1784. Seine mittellose Witwe wird im Jahr darauf mit Einnahmen aus einer Aufführung des Messias von Georg Friedrich Händel unterstützt.

Der Artikel erschien am 18. November 2010 in der ZEIT und ist urheberrechtlich geschützt.

Der Krimi um Tristan und Isolde

Lange war sie verschollen, nun ist sie als Faksimile erschienen: Die Geschichte von Richard Wagners “Tristan”-Handschrift erzählt von Geldproblemen und braunen Intrigen

Die “Warnung vor Ankauf” findet sich zwischen Stellengesuchen von Musikern und Reklame für Sängervereinsfahnen. Inseriert hat der Berliner Referendarius von Gersdorff im Auftrag seines wohl prominentesten Mandanten. “Aus dem Nachlasse des zu Leipzig verstorbenen Pianisten Carl Tausig ist die von Richard Wagner’s eigener Hand geschriebene Partitur der ersten beiden Akte von Tristan und Isolde spurlos verschwunden.” Es liege, warnt der Notar, “der Verdacht einer widerrechtlichen Aneignung vor”, “Fingerzeige über den Verbleib werden dankbar von dem Unterzeichneten entgegengenommen werden. Berlin, 27. October 1871. Im Namen und Auftrag Richard Wagner’s”.

So las man es in den “Signalen für die Musikalische Welt”, und ohne diese Annonce läge jetzt wohl nicht die gewichtigste Neuerscheinung zum runden Geburtstag Wagners vor. Das 354 Seiten umfassende Autograph von “Tristan und Isolde” ist im Bärenreiter Verlag als wissenschaftlich ediertes Faksimile erschienen – in noch nie dagewesener Qualität. Vier Kilo schwer, groß wie ein Frühstücktablett, in dunkles Bordeauxrot gebunden. Beim Blättern kann man sich “so fühlen, als würden Sie an Wagners Schreibtisch Platz nehmen und sich anschauen, was er da gerade fertig gemacht hat”, sagt der Herausgeber Ulrich Konrad in seinem Büro des Würzburger Instituts für Musikforschung. Anzeige .

Was er zu erzählen hat, lässt staunen, dass es diese Handschrift überhaupt noch gibt. Denn ihre erste Irrfahrt, deren Auflösung hier angemessen tristanisch verzögert sei, war nicht die letzte, und unter romanhaften Umständen begann schon die Komposition des epochalen Werks. Dabei begegnen wir neben einem Verliebten einem Genie geradezu eiskalter Planung, das nötigenfalls sogar Vollwaisen allein im Wald zurücklässt. “Tristan schon beschlossen”, schreibt Richard Wagner am 26. August 1857 auf die abgebrochene Orchesterskizze zum Siegfried, von dem er “mit herzlichen Tränen Abschied nimmt”. Schuld daran ist nicht zuletzt die schöne, kluge, junge Nachbarin, die Gattin jenes Gönners, der für den Komponisten eigens ein Haus neben seiner Villa in Zürich hat herrichten lassen. Man liebt einander keusch, um so mehr glüht die Partitur.

4.000 Francs vom Verlag

Die Kompositionsskizze des ersten Tristan-Aufzugs schenkte Wagner zu Silvester 1857 seiner Muse Mathilde. Woraufhin sich die vielfältigen Spannungen zwischen den Eheleuten Mathilde und Otto Wesendonck, Minna und Richard Wagner bald so verschärften, dass der 55-jährige Komponist nach Venedig floh, um dort in einem – wiederum von Otto Wesendonck bezahlten! – Palast den zweiten Aufzug zu komponieren. “Er hat seine Umwelt nicht geschont, sich selbst aber auch nicht. Er arbeitete den ganzen Tag”, meint der Herausgeber Konrad. Der Leipziger Verlag Breitkopf und Härtel wollte etwas haben für die 4.000 Francs, die man dem Komponisten überwiesen hatte.

Den Leipzigern war es egal, wo Wagner gerade herumirrte. Sie begannen mit dem Notenstechen des ersten Aufzugs, als der dritte noch nicht geschrieben war. Wagner arbeitete im Akkord, als Tristan-Akkordarbeiter sozusagen, bis er, mittlerweile in Luzern, am 7. August 1859 die letzte von zehn Lieferungen zur Post brachte. “Unter Kreuzband”, sagt Ulrich Konrad, “die einfachste Form des Versandes. Die Notenblätter in der Mitte geknickt, eine Papierbanderole drumherum. Die Post war mindestens so schnell wie heute.” Beschämend, wenn man bedenkt, dass ab Venedig landeinwärts nur Kutschen verkehrten, als Wagner an der Lagune arbeitete; erst ab Mailand fuhr schon die Eisenbahn.

Nicht nur der Post brachte Wagner enormes Vertrauen entgegen, auch dem eigenen Gedächtnis. Es gab keine Sicherheitskopie, die Reinschrift war die Erstschrift der Partitur. “Am Ende war sein Schreibtisch leer. Er hatte nicht die Angst, dass ihm das Stück, so wie er es im Kopf hatte, verloren gehen könnte.” Freilich, es gibt Vorarbeiten, Skizzen vollständiger Akte. Aber eine Entwurfspartitur, wie er sie sonst immer anfertigte, schrieb er nur für die Einleitung, die darum besonders sauber ist, von einem tintigen Fingerabdruck ihres Schöpfers abgesehen. “Hier wird ein Material niedergelegt, das für das ganze Stück Gültigkeit hat. Er weiß, wo er hinwill”, sagt Ulrich Konrad.

Der 1955 geborene Musikwissenschaftler ist ein kühler Kopf. Mit der Erforschung von Mozarts Schaffensprozess demontierte er endgültig die Mär, dass der Überflieger der Klassik seine Werke vor der Niederschrift vollendet im Kopf hatte, und gegen den Geniekult forscht er auch bei Wagner an. Die erste wissenschaftliche Ausgabe von dessen Schriften wird den Chef des Würzburger Instituts für Musikforschung jahrelang beschäftigen, “auch um der Selbststilisierung Wagners entgegenzuwirken, in der dieses schriftstellerische Oeuvre ein monolithisches ästhetisches Konzept darstellt: Die großen Werke, die ehernen Ideen… Wir fragen nach der historischen Bedingtheit.”

Wobei dieser Forscher, stets korrekt mit Krawatte, höchst begeisterungsfähig ist. Die Begegnung mit einem Autograph, das Sehen, Anfassen, Riechen, ist für ihn immer “ein hochemotionales Erlebnis. Auch wenn das ein wenig kitschig klingen mag – ich spüre intensiv die Aura.” Nur einen Tag hat er in Bayreuth mit Wagners gelben Seiten verbracht, danach zu Hause mit hochauflösenden Scans auf seinem Cinema-Display gearbeitet. Mitunter war es “Erbsenzählerei”, für den umfangreichen Kommentar viele Einzelstellen zu überprüfen, doch darüber wiederum entdeckte Konrad Wagners Ökonomie. Der hat nämlich nicht, wie üblich, alle Beteiligten auf die Notensysteme verteilt und da, wo sie schweigen, einfach die Takte leer gelassen.

Wagner spart Papier, leere Linien gibt es nicht. Einmal schafft er es sogar, auf einer Seite von acht Stimmen zu zehn, dann zu fünf und zu sieben so zu wechseln, dass diese Akkoladen – also Stimmengruppen – exakt alle 30 Systeme des großformatigen Notenpapiers aus Paris füllen. “Unvorstellbar, wie genau man das dafür im Kopf haben muss!” Zugleich sieht man, wie Wagner nach der Einleitung unter Zeitdruck gerät. Ab und zu ist etwas durchgestrichen, oder er vertut sich, wenn wie im Horn Stimmen in anderer Lage notiert als gespielt werden müssen, oder ihm fällt auf Seite 200 zu spät ein, dass er geteilte Celli braucht. Da werden dann fehlende Notenlinien eiligst an den Rand gekrakelt. Zudem schreibt er zeilenweise von oben nach unten, während etwa Mozart zuerst die Außenstimmen fixierte und dann den Rest ausfüllte.

“Niemand besser als ich”

Das weiß man, weil Wagner es sich mitunter auch anders überlegt. Mitten in der Hornstimme auf Seite 103 gefällt ihm die ganze Passage nicht mehr, er entfernt das Blatt – und hebt es, in zwei Hälften geschnitten, für Skizzen auf. Vier solcher Blätter hat Konrad hier erstmals publiziert, und die Rückseite der ausgemusterten Seite 103 aus dem ersten Aufzug enthält schon den Keim des dritten als Bleistiftentwurf. Mehr noch, rings um die Noten wird eine Feder eingeschrieben. Jene “goldene Feder”, die Mathilde ihm geschenkt hat. Eine Schriftprobe wird dabei zum Selbstlob im Privatissimum: “Dennoch sei es gesagt: Niemand besser als ich.” Da ist einer glücklich mit seiner Arbeit…

Als die sogenannte Kompositionsskizze, ein erster Gesamtentwurf des dritten Akts entsteht, ab April 1859, ist Wagner nach Luzern geflohen. Zum einen gilt auch im österreichisch regierten Venedig der Fahndungsbefehl wegen Wagners politischer Aktivitäten 1849, zum andern droht Krieg. Am 24. Juni werden in der Schlacht von Solferino, der blutigsten seit Waterloo, die Österreicher von Sardinien und Frankreich geschlagen. Am 6. August schreibt Wagner aus dem Hotel Schweizerhof an seine Frau: “So eben – ½ 5 Uhr – liebste Minna, habe ich die letzte Note an Tristan geschrieben! – ††† – Ruhe er sanft, und sie auch!” Die letzte Seite ist die einzige, auf der die Taktstriche mit Lineal gezogen sind.

Aber Tristan ruht nicht sanft. Die Odyssee bis zur Uraufführung anno 1865 im Spannungsdreieck Ludwig II., Cosima und Hans von Bülow ist noch so ein Roman, freilich sattsam bekannt. Und nachdem die Leipziger die Partitur in einer Qualität gestochen haben, “neben der Sie sich den Computersatz von heute schenken können”, wie Konrad meint, reicht Wagner das Autograph weiter, als wolle er Ballast abwerfen. Den ersten Akt erhält Karl Ritter, Sohn einer Gönnerin, der Wagner in Venedig assistierte. Den zweiten und dritten Akt bekommt Karl Tausig, blutjunger Pianist, den Wagner liebt wie einen Sohn.

Dieser Hochbegabte fertigt später auch den Klavierauszug der Meistersinger an und stirbt, erst 29 Jahre alt, 1871 in Leipzig. In seinem Nachlass findet sich Wagners Handschrift nicht, das Inserat des Berliner Rechtsanwalts aber hat Erfolg (obwohl er irrtümlich die ersten beiden Akte für vermisst erklärt). Schon wenige Tage später trifft in Bayreuth ein Paket des Militärkapellmeisters Carl Bratfisch vom Infanterieregiment 58 aus Glogau ein. Bratfisch hat sich später einen Namen gemacht mit dem Steinmetz-Marsch. Die schmissigen Klänge zu Ehren eines Generalfeldmarschalls findet man heute auch bei YouTube…

Die Handschrift als Startkapital nach 1945

Über den Weg von Tausig zu Bratfisch lässt sich nur mutmaßen. Vielleicht waren die 238 Seiten als Wertgegenstand bei einem Geldgeschäft verpfändet worden, so wie Wagner selbst seine Autographe beim Schnorren als Pfand einsetzte. Dass er die Tristan-Handschrift brauchte (und von Karl Ritter den ersten Aufzug auch ohne weiteres zurückbekam), mag ähnliche Hintergründe haben. Für die Realisierung des Bayreuther Festspielhauses konnte er so einen Pfand gebrauchen. Doch was nun in einem Prachteinband aus weinrotem Samt zusammengefasst wurde, blieb in Wahnfried.

Es kommt der April 1945. Wahnfried ist stark beschädigt, Wagners Enkel Wolfgang schafft das Kostbarste ins Haus seiner Mutter Winifred im Fichtelgebirge. Da werden die Bestände verteilt, den Tristan nehmen die Geschwister Wieland und Verena mit nach Nussdorf am Bodensee. Von dort wollen die Familien, politisch schwer belastet, vor den Alliierten in die Schweiz fliehen. Verenas Mann Bodo Lafferenz, zuvor Chef der Organisation Kraft durch Freude, hat ein Boot organisiert. Mit der Tristan-Handschrift als Startkapital und Grenzenöffner rudern die Erben los. Doch die Schweizer Behörden schicken sie zurück.

Das Autograph wird irgendwo am Bodensee versteckt und taucht erst 1955 wieder auf – in Barcelona. Dorthin haben spanische Wagnerianer die Bayreuther zum Gastspiel geladen. Deutschlands “Sonderminister” Franz-Josef Strauss hat im Liceo eine Loge gleich neben dem faschistischen Generalissimus Franco, gemeinsam bestaunt man das Manuskript, das Wieland für eine kleine Ausstellung mitgebracht hat. Auch, um es zu Geld zu machen, frei nach Kurwenal: “Hei, unser Held Tristan! Wie der Zins zahlen kann!” Anschließend wird der Schatz in der Banco Transatlantico deponiert, um ihn, so Konrad, “für einen Verkauf disponibel zu halten”. In Deutschland wäre dabei das Kulturgüterschutzgesetz im Weg gewesen.

Winifred tobte, aber nach Wielands Tod machte auch Wolfgang keine Anstalten, das Manuskript zurückzuholen. Das spanische Vorkaufsrecht, spanische Steuern, die Sache war heikel. 1973 stand die Gründung der Richard-Wagner-Nationalstiftung an, die Überführung des Familienarchivs ins Nationalarchiv – jeder würde nach “Tristan” fragen. Was tun? Musikforscher Konrad beschränkt sich auf die Feststellung, unter “abenteuerlichen Umständen” sei das Autograph nach Bayreuth zurückgekehrt. Indessen sickert aus diskreten Quellen eine Geschichte, die die Wirren um diese Partitur angemessen fortsetzt.

Wolfgang Wagner soll seine Tochter Eva, die jetzige Festspielleiterin, mit einer Freundin per Flugzeug nach Barcelona geschickt haben, wohlversehen mit einer Handvoll Briefe an diverse Banker. “Die gibst du ab, dann gehst du an den Safe und holst das raus.” Was in den Briefen stand, wenn es sie gab, wird man wohl nie erfahren. Bräunliche Verbindungen zwischen Westdeutschland und der spanischen Diktatur mögen eine Rolle gespielt haben. Die 28-jährige Eva, so wird erzählt, stopfte das Autograph in eine Einkaufstüte und ging noch einen Kaffee trinken. So oder so: Tristan und Isolde kam zurück nach Bayreuth. Seither trägt die Handschrift die Archivnummer NA A III ii.

Der Artikel erschien in kürzerer Fassung unter dem Titel “Wilde Papiere” in der ZEIT vom 3.1.13, vollständig bei ZEIT online. Er ist urheberrechtlich geschützt.

Der englische Zuhörer

Charles Burneys legendäres Musiktagebuch der 1770er Jahre ist wieder zu haben

Die Szene ist etwas gespenstisch. Da steht der Preußenkönig Friedrich in seinem Palast und spielt eines der 300 Flötenkonzerte, die ihm sein Lehrer Quantz geschrieben hat. Der Atem ist knapper als früher, mitten in virtuosen Passagen muss der Monarch nach Luft schnappen, hält aber eisern durch. Applaudieren darf keiner außer Quantz selbst, dem hünenhaften Greis, der die Kapelle leitet und zuweilen nach einem königlichen Solo „Bravo!“ ruft. Sonst herrscht Stille. Im Schatten aber sitzt und lauscht Charles Burney.

Nach seinen Tagebüchern kann man das europäische Musikleben um 1770 noch heute in weiten Teilen bis auf die Achtelnote genau rekonstruieren. Als Burney sich 44-jährig erstmals nach Europa einschiffte, ahnte er nicht, was dabei herauskommen würde. Nämlich die erste musikalische Großreportage der Geschichte, zwei dicke und erfolgreiche Bände, von denen seine Kollegen bis heute zehren. Geplant hatte er etwas anderes. Für eine „General History of Music“ wollte er an den Quellen forschen, anstatt bei anderen abzuschreiben.

Der Kontinent interessierte ihn zunächst nur als Recherchegelände einer Geschichte, die für ihn und seine Landsleute in England gipfelte. Insofern unterschied er sich wenig von den tausenden betuchter Briten, die damals ihre grand tour durch den Kontinent machten, beflügelt von der Wirtschaftskraft ihrer Insel, stets auf wenig subtiler Jagd nach Trophäen, Souvenirs, nach bedeutenden Ruinen und nach Prominenten. Aber dann forderten neben Burneys historischen Recherchen die Lebenden ihr Recht, die europäischen Musiker.

Er erlebte, wie ihm der blatternarbige Gluck in Wien mit dünner Stimme eine gerade erst im Kopf konzipierte Oper namens Iphigenie vorsang, „als ob er eine rein abgeschriebene Partitur vor sich gehabt hätte“, wie in Hamburg Bachs ältester Sohn in Hamburg mit Schaum vor dem Mund am Clavichord fantasierte, wie in Bologna der einstige Superstar Farinelli in seiner Luxuswohnung aus dem Kastratenleben erzählte, wie die legendäre Lady Hamilton in Neapel sich als Klaviergenie erwies. Und all das fügte sich zum Present State of Music.

So überschrieb Burney seine beiden Musikreisebücher, die schon 1773 ins Deutsche übersetzt wurden und nun in dieser Übersetzung erstmals seit 1959 wieder als Reprint vorliegen. Es sind keineswegs nur home stories aus der musizierenden Prominenz, und die gelegentlichen Schlüssellochperspektiven hat Burney so diplomatisch in Worte gefasst, dass ihm moderne Lektoren vorwerfen würden, er habe sie verschenkt. Aber sie sind Teil einer größeren Perspektive, die Kunstgeschichte als Prozess sieht und den Chronisten als Beteiligten.

Das war Charles Burney schon in biografischer Hinsicht. Die Großen und Kleinen der europäischen Szene hätten einander diesen Gast nicht so warm empfohlen, hätte er nicht zum Metier gehört. Dieser Sohn eines Tänzers, Geigers und Malers aus Shrewsbury war Bratscher in Händels Orchester und gefragter Gesangslehrer in London, komponierte selbst, z.B. eine komische Oper Robin Hood, promovierte in Oxford zum Doktor der Musik, und böse Zungen sagten ihm nur einen Fehler nach: die Unterwürfigkeit.

Er selbst hätte sie wohl als Taktik bezeichnet. „Wenn man ihn mit Höflichkeit anhört“, schreibt er über den hochmütigen alten Librettistenstar Metastasio, „so spricht er ganz frey und angenehm fort; wird ihm aber widersprochen, so schweigt er augenblicklich stille.“ In dieser Branche der Exponierten, wo Verletzlichkeit verbreitet ist, war Burney ein Genie des Zuhörens. Fast jeden konnte er überreden, ihm etwas vorzutragen, selbst die erkältete junge Primadonna La Mara: „ein wenig dunkel“ habe sie gesungen, aber „völlig rein“.

Mitunter gleicht das Diarium dem Notizbuch eines Konzertagenten oder eines Orgelsachverständigen. Dann wieder macht sich Burney grundsätzliche Gedanken und entsetzt seine Hamburger Verleger und Übersetzer mit der Erwägung, die Musikalität der Deutschen verdanke sich eher dem Fleiß denn „angebohrnem Genie“. Sie drucken es, protestieren aber via Fußnote. Andere Stellen werden ersatzlos gestrichen: Über die „elenden Wirthshäuser“ in Deutschland wüssten die Leser hierzulande ohnehin schon Bescheid.

Kritisiert wurde damals auch Burneys Interesse an Straßenmusikern, die er genau so gründlich und fair belauschte wie alle anderen Tonkünstler, fairer übrigens als die Musikwissenschaft des Jahrhunderts danach. Er war der Pionier der Branche, bepackt mit Noten und Notizen. In Wien, der „Hauptstadt der deutschen Musik“, kaufte er so viele Musikalien, „daß ich den ganzen Weg über bis Hamburg ein Pferd mehr vor meine Chaise spannen lassen mußte.“ So rumpelt er für alle Zeiten über die Karrenwege Europas: Dr. Burney, Musikreisender.

Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, Reprint der deutschen Ausgabe 1772/73, Hrsg. Christoph Hust, Bärenreiter 2003; 487 S., 39,90 €

Der Artikel erschien am 24. März 2003 in der ZEIT unter dem Titel “Bepackt mit Noten und Notizen” und ist urheberrechtlich geschützt.