Der Krimi um Tristan und Isolde

Lange war sie verschollen, nun ist sie als Faksimile erschienen: Die Geschichte von Richard Wagners “Tristan”-Handschrift erzählt von Geldproblemen und braunen Intrigen

Die “Warnung vor Ankauf” findet sich zwischen Stellengesuchen von Musikern und Reklame für Sängervereinsfahnen. Inseriert hat der Berliner Referendarius von Gersdorff im Auftrag seines wohl prominentesten Mandanten. “Aus dem Nachlasse des zu Leipzig verstorbenen Pianisten Carl Tausig ist die von Richard Wagner’s eigener Hand geschriebene Partitur der ersten beiden Akte von Tristan und Isolde spurlos verschwunden.” Es liege, warnt der Notar, “der Verdacht einer widerrechtlichen Aneignung vor”, “Fingerzeige über den Verbleib werden dankbar von dem Unterzeichneten entgegengenommen werden. Berlin, 27. October 1871. Im Namen und Auftrag Richard Wagner’s”.

So las man es in den “Signalen für die Musikalische Welt”, und ohne diese Annonce läge jetzt wohl nicht die gewichtigste Neuerscheinung zum runden Geburtstag Wagners vor. Das 354 Seiten umfassende Autograph von “Tristan und Isolde” ist im Bärenreiter Verlag als wissenschaftlich ediertes Faksimile erschienen – in noch nie dagewesener Qualität. Vier Kilo schwer, groß wie ein Frühstücktablett, in dunkles Bordeauxrot gebunden. Beim Blättern kann man sich “so fühlen, als würden Sie an Wagners Schreibtisch Platz nehmen und sich anschauen, was er da gerade fertig gemacht hat”, sagt der Herausgeber Ulrich Konrad in seinem Büro des Würzburger Instituts für Musikforschung. Anzeige .

Was er zu erzählen hat, lässt staunen, dass es diese Handschrift überhaupt noch gibt. Denn ihre erste Irrfahrt, deren Auflösung hier angemessen tristanisch verzögert sei, war nicht die letzte, und unter romanhaften Umständen begann schon die Komposition des epochalen Werks. Dabei begegnen wir neben einem Verliebten einem Genie geradezu eiskalter Planung, das nötigenfalls sogar Vollwaisen allein im Wald zurücklässt. “Tristan schon beschlossen”, schreibt Richard Wagner am 26. August 1857 auf die abgebrochene Orchesterskizze zum Siegfried, von dem er “mit herzlichen Tränen Abschied nimmt”. Schuld daran ist nicht zuletzt die schöne, kluge, junge Nachbarin, die Gattin jenes Gönners, der für den Komponisten eigens ein Haus neben seiner Villa in Zürich hat herrichten lassen. Man liebt einander keusch, um so mehr glüht die Partitur.

4.000 Francs vom Verlag

Die Kompositionsskizze des ersten Tristan-Aufzugs schenkte Wagner zu Silvester 1857 seiner Muse Mathilde. Woraufhin sich die vielfältigen Spannungen zwischen den Eheleuten Mathilde und Otto Wesendonck, Minna und Richard Wagner bald so verschärften, dass der 55-jährige Komponist nach Venedig floh, um dort in einem – wiederum von Otto Wesendonck bezahlten! – Palast den zweiten Aufzug zu komponieren. “Er hat seine Umwelt nicht geschont, sich selbst aber auch nicht. Er arbeitete den ganzen Tag”, meint der Herausgeber Konrad. Der Leipziger Verlag Breitkopf und Härtel wollte etwas haben für die 4.000 Francs, die man dem Komponisten überwiesen hatte.

Den Leipzigern war es egal, wo Wagner gerade herumirrte. Sie begannen mit dem Notenstechen des ersten Aufzugs, als der dritte noch nicht geschrieben war. Wagner arbeitete im Akkord, als Tristan-Akkordarbeiter sozusagen, bis er, mittlerweile in Luzern, am 7. August 1859 die letzte von zehn Lieferungen zur Post brachte. “Unter Kreuzband”, sagt Ulrich Konrad, “die einfachste Form des Versandes. Die Notenblätter in der Mitte geknickt, eine Papierbanderole drumherum. Die Post war mindestens so schnell wie heute.” Beschämend, wenn man bedenkt, dass ab Venedig landeinwärts nur Kutschen verkehrten, als Wagner an der Lagune arbeitete; erst ab Mailand fuhr schon die Eisenbahn.

Nicht nur der Post brachte Wagner enormes Vertrauen entgegen, auch dem eigenen Gedächtnis. Es gab keine Sicherheitskopie, die Reinschrift war die Erstschrift der Partitur. “Am Ende war sein Schreibtisch leer. Er hatte nicht die Angst, dass ihm das Stück, so wie er es im Kopf hatte, verloren gehen könnte.” Freilich, es gibt Vorarbeiten, Skizzen vollständiger Akte. Aber eine Entwurfspartitur, wie er sie sonst immer anfertigte, schrieb er nur für die Einleitung, die darum besonders sauber ist, von einem tintigen Fingerabdruck ihres Schöpfers abgesehen. “Hier wird ein Material niedergelegt, das für das ganze Stück Gültigkeit hat. Er weiß, wo er hinwill”, sagt Ulrich Konrad.

Der 1955 geborene Musikwissenschaftler ist ein kühler Kopf. Mit der Erforschung von Mozarts Schaffensprozess demontierte er endgültig die Mär, dass der Überflieger der Klassik seine Werke vor der Niederschrift vollendet im Kopf hatte, und gegen den Geniekult forscht er auch bei Wagner an. Die erste wissenschaftliche Ausgabe von dessen Schriften wird den Chef des Würzburger Instituts für Musikforschung jahrelang beschäftigen, “auch um der Selbststilisierung Wagners entgegenzuwirken, in der dieses schriftstellerische Oeuvre ein monolithisches ästhetisches Konzept darstellt: Die großen Werke, die ehernen Ideen… Wir fragen nach der historischen Bedingtheit.”

Wobei dieser Forscher, stets korrekt mit Krawatte, höchst begeisterungsfähig ist. Die Begegnung mit einem Autograph, das Sehen, Anfassen, Riechen, ist für ihn immer “ein hochemotionales Erlebnis. Auch wenn das ein wenig kitschig klingen mag – ich spüre intensiv die Aura.” Nur einen Tag hat er in Bayreuth mit Wagners gelben Seiten verbracht, danach zu Hause mit hochauflösenden Scans auf seinem Cinema-Display gearbeitet. Mitunter war es “Erbsenzählerei”, für den umfangreichen Kommentar viele Einzelstellen zu überprüfen, doch darüber wiederum entdeckte Konrad Wagners Ökonomie. Der hat nämlich nicht, wie üblich, alle Beteiligten auf die Notensysteme verteilt und da, wo sie schweigen, einfach die Takte leer gelassen.

Wagner spart Papier, leere Linien gibt es nicht. Einmal schafft er es sogar, auf einer Seite von acht Stimmen zu zehn, dann zu fünf und zu sieben so zu wechseln, dass diese Akkoladen – also Stimmengruppen – exakt alle 30 Systeme des großformatigen Notenpapiers aus Paris füllen. “Unvorstellbar, wie genau man das dafür im Kopf haben muss!” Zugleich sieht man, wie Wagner nach der Einleitung unter Zeitdruck gerät. Ab und zu ist etwas durchgestrichen, oder er vertut sich, wenn wie im Horn Stimmen in anderer Lage notiert als gespielt werden müssen, oder ihm fällt auf Seite 200 zu spät ein, dass er geteilte Celli braucht. Da werden dann fehlende Notenlinien eiligst an den Rand gekrakelt. Zudem schreibt er zeilenweise von oben nach unten, während etwa Mozart zuerst die Außenstimmen fixierte und dann den Rest ausfüllte.

“Niemand besser als ich”

Das weiß man, weil Wagner es sich mitunter auch anders überlegt. Mitten in der Hornstimme auf Seite 103 gefällt ihm die ganze Passage nicht mehr, er entfernt das Blatt – und hebt es, in zwei Hälften geschnitten, für Skizzen auf. Vier solcher Blätter hat Konrad hier erstmals publiziert, und die Rückseite der ausgemusterten Seite 103 aus dem ersten Aufzug enthält schon den Keim des dritten als Bleistiftentwurf. Mehr noch, rings um die Noten wird eine Feder eingeschrieben. Jene “goldene Feder”, die Mathilde ihm geschenkt hat. Eine Schriftprobe wird dabei zum Selbstlob im Privatissimum: “Dennoch sei es gesagt: Niemand besser als ich.” Da ist einer glücklich mit seiner Arbeit…

Als die sogenannte Kompositionsskizze, ein erster Gesamtentwurf des dritten Akts entsteht, ab April 1859, ist Wagner nach Luzern geflohen. Zum einen gilt auch im österreichisch regierten Venedig der Fahndungsbefehl wegen Wagners politischer Aktivitäten 1849, zum andern droht Krieg. Am 24. Juni werden in der Schlacht von Solferino, der blutigsten seit Waterloo, die Österreicher von Sardinien und Frankreich geschlagen. Am 6. August schreibt Wagner aus dem Hotel Schweizerhof an seine Frau: “So eben – ½ 5 Uhr – liebste Minna, habe ich die letzte Note an Tristan geschrieben! – ††† – Ruhe er sanft, und sie auch!” Die letzte Seite ist die einzige, auf der die Taktstriche mit Lineal gezogen sind.

Aber Tristan ruht nicht sanft. Die Odyssee bis zur Uraufführung anno 1865 im Spannungsdreieck Ludwig II., Cosima und Hans von Bülow ist noch so ein Roman, freilich sattsam bekannt. Und nachdem die Leipziger die Partitur in einer Qualität gestochen haben, “neben der Sie sich den Computersatz von heute schenken können”, wie Konrad meint, reicht Wagner das Autograph weiter, als wolle er Ballast abwerfen. Den ersten Akt erhält Karl Ritter, Sohn einer Gönnerin, der Wagner in Venedig assistierte. Den zweiten und dritten Akt bekommt Karl Tausig, blutjunger Pianist, den Wagner liebt wie einen Sohn.

Dieser Hochbegabte fertigt später auch den Klavierauszug der Meistersinger an und stirbt, erst 29 Jahre alt, 1871 in Leipzig. In seinem Nachlass findet sich Wagners Handschrift nicht, das Inserat des Berliner Rechtsanwalts aber hat Erfolg (obwohl er irrtümlich die ersten beiden Akte für vermisst erklärt). Schon wenige Tage später trifft in Bayreuth ein Paket des Militärkapellmeisters Carl Bratfisch vom Infanterieregiment 58 aus Glogau ein. Bratfisch hat sich später einen Namen gemacht mit dem Steinmetz-Marsch. Die schmissigen Klänge zu Ehren eines Generalfeldmarschalls findet man heute auch bei YouTube…

Die Handschrift als Startkapital nach 1945

Über den Weg von Tausig zu Bratfisch lässt sich nur mutmaßen. Vielleicht waren die 238 Seiten als Wertgegenstand bei einem Geldgeschäft verpfändet worden, so wie Wagner selbst seine Autographe beim Schnorren als Pfand einsetzte. Dass er die Tristan-Handschrift brauchte (und von Karl Ritter den ersten Aufzug auch ohne weiteres zurückbekam), mag ähnliche Hintergründe haben. Für die Realisierung des Bayreuther Festspielhauses konnte er so einen Pfand gebrauchen. Doch was nun in einem Prachteinband aus weinrotem Samt zusammengefasst wurde, blieb in Wahnfried.

Es kommt der April 1945. Wahnfried ist stark beschädigt, Wagners Enkel Wolfgang schafft das Kostbarste ins Haus seiner Mutter Winifred im Fichtelgebirge. Da werden die Bestände verteilt, den Tristan nehmen die Geschwister Wieland und Verena mit nach Nussdorf am Bodensee. Von dort wollen die Familien, politisch schwer belastet, vor den Alliierten in die Schweiz fliehen. Verenas Mann Bodo Lafferenz, zuvor Chef der Organisation Kraft durch Freude, hat ein Boot organisiert. Mit der Tristan-Handschrift als Startkapital und Grenzenöffner rudern die Erben los. Doch die Schweizer Behörden schicken sie zurück.

Das Autograph wird irgendwo am Bodensee versteckt und taucht erst 1955 wieder auf – in Barcelona. Dorthin haben spanische Wagnerianer die Bayreuther zum Gastspiel geladen. Deutschlands “Sonderminister” Franz-Josef Strauss hat im Liceo eine Loge gleich neben dem faschistischen Generalissimus Franco, gemeinsam bestaunt man das Manuskript, das Wieland für eine kleine Ausstellung mitgebracht hat. Auch, um es zu Geld zu machen, frei nach Kurwenal: “Hei, unser Held Tristan! Wie der Zins zahlen kann!” Anschließend wird der Schatz in der Banco Transatlantico deponiert, um ihn, so Konrad, “für einen Verkauf disponibel zu halten”. In Deutschland wäre dabei das Kulturgüterschutzgesetz im Weg gewesen.

Winifred tobte, aber nach Wielands Tod machte auch Wolfgang keine Anstalten, das Manuskript zurückzuholen. Das spanische Vorkaufsrecht, spanische Steuern, die Sache war heikel. 1973 stand die Gründung der Richard-Wagner-Nationalstiftung an, die Überführung des Familienarchivs ins Nationalarchiv – jeder würde nach “Tristan” fragen. Was tun? Musikforscher Konrad beschränkt sich auf die Feststellung, unter “abenteuerlichen Umständen” sei das Autograph nach Bayreuth zurückgekehrt. Indessen sickert aus diskreten Quellen eine Geschichte, die die Wirren um diese Partitur angemessen fortsetzt.

Wolfgang Wagner soll seine Tochter Eva, die jetzige Festspielleiterin, mit einer Freundin per Flugzeug nach Barcelona geschickt haben, wohlversehen mit einer Handvoll Briefe an diverse Banker. “Die gibst du ab, dann gehst du an den Safe und holst das raus.” Was in den Briefen stand, wenn es sie gab, wird man wohl nie erfahren. Bräunliche Verbindungen zwischen Westdeutschland und der spanischen Diktatur mögen eine Rolle gespielt haben. Die 28-jährige Eva, so wird erzählt, stopfte das Autograph in eine Einkaufstüte und ging noch einen Kaffee trinken. So oder so: Tristan und Isolde kam zurück nach Bayreuth. Seither trägt die Handschrift die Archivnummer NA A III ii.

Der Artikel erschien in kürzerer Fassung unter dem Titel “Wilde Papiere” in der ZEIT vom 3.1.13, vollständig bei ZEIT online. Er ist urheberrechtlich geschützt.