Zeichen? Was meinen Sie damit?

Fortschritt macht auch blöd. Das fiel mir jetzt beim Telefonieren mit einem großen Künstler auf, den ich zu einem kleinen Text überreden wollte. Ich sagte, es müssten nicht mehr als 2000 Zeichen sein. „Zeichen? Was meinen Sie damit? Symbole, Hieroglyphen?“ „Ach so… sorry. Anschläge meine ich. Inklusive…“ Ich verkniff mir das Wort „Leerzeichen“, da mir einfiel, dass für ihn schon „Anschläge“ ein Anschlag auf die Schriftkultur sind, die er rein handschriftlich betreibt. Mit Füllfeder auf Papier. Oder Gänsekiel? Nein, regressiv ist er auch wieder nicht. „Also etwa eine Din-A-4-Seite“, sagte ich. Uff.

„Wohin kann ich Ihnen das schicken?“, fragte er. Ich begann, meine E-Mail-Adresse zu buchstabieren. „Merkwürdig“, sagte er, „was heißt Ett?“ „Ich meine diesen Kringel vor der Domain… ach quatsch, Sie gehen ja gar nicht online. Also, Sie kriegen jetzt meine ganz altmodische Postadresse.“ Es war horizonterweiternd. Dass man bei Zeichen auch an anderes denken kann als an die kleinste Texteinheit, dass eine Adresse in erster Linie den Ort bezeichnen könnte, an dem man wohnt! Und was ich schon für einen Müll von mir gab: „Sie gehen ja nicht online!“ Als könnte man das nicht auch anders sagen.

Ja, aber wie? „Sie gehen nicht ins Netz“? Zu zweideutig, das kann daneben gehen. „Sie halten sich fern vom Geflecht“? Aua. Was geht denn noch, außer „Netz“, auf deutsch? Verknüpfung? Gewebe? Klingt alles wie im Teppichladen. Imgrunde stimmt schon das Bild vom „Netz“ nicht, da sich die Maschen und Fäden dauernd ändern. Je länger ich nachdenke, wie ich einem computerfernen Menschen in bewährten Worten erklären könnte, was es heißt, „online zu gehen“, damit er nicht glaubt, man würde dabei irgendwie Gassi geführt, desto mehr scheint mir, dass wir verbal der Technik weit nachhinken.

Nicht, dass es an Wörtern gebräche. Im Gegenteil! Für jede Innovation wird ein neuer Begriff eingeführt, dem neue Floskeln folgen. Es geht einfach zu schnell. Warum das Telefon so heißt, leuchtet noch 120 Jahre nach seiner Erfindung ein. Aber wie wird das in 120 Jahren mit „Smartphone“ sein? Warum heißt eine knapp schokoladentafelgroße Medienzentrale mit der Rechenkapazität von tausend Menschenhirnen „Schlautöner“? Weil eh kaum jemand weiß, wie es funktioniert. Ich weiß auch nicht, was genau passiert, wenn ich online gehe. Vielleicht doch an der Leine, gassigeführt von Algorithmen und Alligatoren?

Aber ja! Im Kühlwasserbecken des Google-Rechenzentrums, South Carolina, plantscht tatsächlich ein Alligator. Das passt, immerhin wird der älteste Teil unseres Gehirns auch „Echsenhirn“ genannt, und mehr wird auch nicht übrig bleiben, wenn wir immer mehr Gedächtnis outsourcen, äh, auslagern! Wir sollten öfters telefonieren mit Leuten, denen bei Zeichen auch noch Hieroglyphen einfallen, ohne dass sie dafür Synonyme nachgoogeln müssten. Schon ein kleiner Stromausfall sollte uns ein Zeichen sein.

Der Artikel erschien am 1.12.12 in der HAZ und ist urheberrechtlich geschützt.