Der englische Zuhörer

Charles Burneys legendäres Musiktagebuch der 1770er Jahre ist wieder zu haben

Die Szene ist etwas gespenstisch. Da steht der Preußenkönig Friedrich in seinem Palast und spielt eines der 300 Flötenkonzerte, die ihm sein Lehrer Quantz geschrieben hat. Der Atem ist knapper als früher, mitten in virtuosen Passagen muss der Monarch nach Luft schnappen, hält aber eisern durch. Applaudieren darf keiner außer Quantz selbst, dem hünenhaften Greis, der die Kapelle leitet und zuweilen nach einem königlichen Solo „Bravo!“ ruft. Sonst herrscht Stille. Im Schatten aber sitzt und lauscht Charles Burney.

Nach seinen Tagebüchern kann man das europäische Musikleben um 1770 noch heute in weiten Teilen bis auf die Achtelnote genau rekonstruieren. Als Burney sich 44-jährig erstmals nach Europa einschiffte, ahnte er nicht, was dabei herauskommen würde. Nämlich die erste musikalische Großreportage der Geschichte, zwei dicke und erfolgreiche Bände, von denen seine Kollegen bis heute zehren. Geplant hatte er etwas anderes. Für eine „General History of Music“ wollte er an den Quellen forschen, anstatt bei anderen abzuschreiben.

Der Kontinent interessierte ihn zunächst nur als Recherchegelände einer Geschichte, die für ihn und seine Landsleute in England gipfelte. Insofern unterschied er sich wenig von den tausenden betuchter Briten, die damals ihre grand tour durch den Kontinent machten, beflügelt von der Wirtschaftskraft ihrer Insel, stets auf wenig subtiler Jagd nach Trophäen, Souvenirs, nach bedeutenden Ruinen und nach Prominenten. Aber dann forderten neben Burneys historischen Recherchen die Lebenden ihr Recht, die europäischen Musiker.

Er erlebte, wie ihm der blatternarbige Gluck in Wien mit dünner Stimme eine gerade erst im Kopf konzipierte Oper namens Iphigenie vorsang, „als ob er eine rein abgeschriebene Partitur vor sich gehabt hätte“, wie in Hamburg Bachs ältester Sohn in Hamburg mit Schaum vor dem Mund am Clavichord fantasierte, wie in Bologna der einstige Superstar Farinelli in seiner Luxuswohnung aus dem Kastratenleben erzählte, wie die legendäre Lady Hamilton in Neapel sich als Klaviergenie erwies. Und all das fügte sich zum Present State of Music.

So überschrieb Burney seine beiden Musikreisebücher, die schon 1773 ins Deutsche übersetzt wurden und nun in dieser Übersetzung erstmals seit 1959 wieder als Reprint vorliegen. Es sind keineswegs nur home stories aus der musizierenden Prominenz, und die gelegentlichen Schlüssellochperspektiven hat Burney so diplomatisch in Worte gefasst, dass ihm moderne Lektoren vorwerfen würden, er habe sie verschenkt. Aber sie sind Teil einer größeren Perspektive, die Kunstgeschichte als Prozess sieht und den Chronisten als Beteiligten.

Das war Charles Burney schon in biografischer Hinsicht. Die Großen und Kleinen der europäischen Szene hätten einander diesen Gast nicht so warm empfohlen, hätte er nicht zum Metier gehört. Dieser Sohn eines Tänzers, Geigers und Malers aus Shrewsbury war Bratscher in Händels Orchester und gefragter Gesangslehrer in London, komponierte selbst, z.B. eine komische Oper Robin Hood, promovierte in Oxford zum Doktor der Musik, und böse Zungen sagten ihm nur einen Fehler nach: die Unterwürfigkeit.

Er selbst hätte sie wohl als Taktik bezeichnet. „Wenn man ihn mit Höflichkeit anhört“, schreibt er über den hochmütigen alten Librettistenstar Metastasio, „so spricht er ganz frey und angenehm fort; wird ihm aber widersprochen, so schweigt er augenblicklich stille.“ In dieser Branche der Exponierten, wo Verletzlichkeit verbreitet ist, war Burney ein Genie des Zuhörens. Fast jeden konnte er überreden, ihm etwas vorzutragen, selbst die erkältete junge Primadonna La Mara: „ein wenig dunkel“ habe sie gesungen, aber „völlig rein“.

Mitunter gleicht das Diarium dem Notizbuch eines Konzertagenten oder eines Orgelsachverständigen. Dann wieder macht sich Burney grundsätzliche Gedanken und entsetzt seine Hamburger Verleger und Übersetzer mit der Erwägung, die Musikalität der Deutschen verdanke sich eher dem Fleiß denn „angebohrnem Genie“. Sie drucken es, protestieren aber via Fußnote. Andere Stellen werden ersatzlos gestrichen: Über die „elenden Wirthshäuser“ in Deutschland wüssten die Leser hierzulande ohnehin schon Bescheid.

Kritisiert wurde damals auch Burneys Interesse an Straßenmusikern, die er genau so gründlich und fair belauschte wie alle anderen Tonkünstler, fairer übrigens als die Musikwissenschaft des Jahrhunderts danach. Er war der Pionier der Branche, bepackt mit Noten und Notizen. In Wien, der „Hauptstadt der deutschen Musik“, kaufte er so viele Musikalien, „daß ich den ganzen Weg über bis Hamburg ein Pferd mehr vor meine Chaise spannen lassen mußte.“ So rumpelt er für alle Zeiten über die Karrenwege Europas: Dr. Burney, Musikreisender.

Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, Reprint der deutschen Ausgabe 1772/73, Hrsg. Christoph Hust, Bärenreiter 2003; 487 S., 39,90 €

Der Artikel erschien am 24. März 2003 in der ZEIT unter dem Titel “Bepackt mit Noten und Notizen” und ist urheberrechtlich geschützt.