Die Kreisstadt Vechta und das Genie Rolf Dieter Brinkmann
Seine Heimat hat er gehasst wie so vieles. „Ein Schweinelandstrich, leeres Moor, viel krüppeliges Grünzeug, katholisch verseucht.“ In diesem Randgelände zwischen Bremen und Osnabrück erhebt sich, mit nicht weniger als drei Justivollzugsanstalten ausgestattet, die Kreisstadt Vechta. Und damit ein Schauplatz radikaler Literatur. Rolf Dieter Brinkmann kommt von hier, Jahrgang 1940. Er starb mit 35, als er in London vor ein Auto lief. Dichter und Prosaschreiber, bewundert von Lesern wie Reich-Ranicki und Heiner Müller, der ihn „das einzige Genie in der westdeutschen Literatur“ nannte. Legendär wurde sein 450-Seiten-Collage-Monstrum „Rom, Blicke“.
„Ich kenn den Mann ja gar nicht“, sagt Frau Kuhling. Es ist mittags, die Jalousien sind herabgelassen, sie hat die Riffelglastür aufgeschlossen und steht mit einem Putzlappen in der Hand im Flur des Hauses Kuhmarkt 1. Hier wuchs Rolf Dieter bei seinen Eltern Maria und Josef auf. Gehört hat sie schon davon. „Die von der Uni könnten mir ja mal´n Buch schicken“, meint sie. Aber ob er ihr gefallen würde? „Erinnerung an Kuhmarkt: wo die Jungen die jungen Hunde an ihrem hingehaltenen Beinen wichsen lassen!“ – Tippfehler wie „ihrem“ gehören bei Brinkmann dazu, sie passen zu Tempo und Zerrissenheit.
Sein Vater hätte sie getilgt. Der war Heimatfotograf, Mundartdichter und Vereinsmeier. Ein „gespenstisches Monstrum“ nannte ihn der Sohn. Für Rolf Dieter war die Verwaltungslaufbahn vorgesehen, aber der tanzte schon am Gymnasium aus der Reihe. „Brinkmann stört wiederholt“, steht im Klassenbuch. Der Schüler blickte aus dem Schulfenster auf den „starren roten Ziegelbau des Gefängnisses, und manchmal gingen morgens auf der leeren Straße, vor der Häuserreihe, aus deren geöffneten Fenstern weiße wulstige Betten oder Kissen hingen, zwei Figuren vorbei, die eine Figur in einer grünen Dienstjacke, die andere Figur in einem Anzug. Sie waren an den Handgelenken aneinandergefesselt und kamen vom Bahnhof.“
Das Backsteingefängnis hat derzeit weiß gestrichene Gitter, und das Gymnasium Antonianum riecht innen drin wie alle Schulen, nämlich zum Weglaufen. Aber nicht mehr alle Lehrer sind „moosige, verschimmelte Gestalten“, wie der Ex-Insasse in „Erkundungen“ schrieb. Es gibt hier ein Brinkmann-Schulprojekt im Rahmen von www.literaturatlas.de. Und unter www.rolf-dieter-brinkmann-gesellschaft.de kommt man zum Vechtaer Basislager der Fans. Auch die Stadt entdeckt allmählich den Mann, den sie nie losließ, der stets erkundete, „was mich festhalten möchte“. Der „Panik runter gelassener Rolläden“ kann man freilich nicht nur in Vechta nachspüren, sondern in ganz Deutschland.
Doch hier ist sie nicht abgefedert. Zu nah sind sich Geranien und Gefängnisse, zu hart ist der Himmel. Die Leute aber sind hilfreich und freundlich. Gegenüber vom Friedhof hinter der Bahnlinie steht eine der drei Justizvollzugsanstalten. Von ihr aus kann man wohl auch den gelben Busch auf dem Grab sehen. „Am großen Kreuz links, erste rechts, vierte Grabstätte auf der linken Seite!“ Der Friedhofsgärtner weiß Brinkmanns Platz sofort und lächelt.
Volker Hagedorn
Erschienen im Juli 2003 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
Illustrierte Einstiegslektüre: „/:Vechta! Eine Fiktion!/“, secolo-Verlag